Ein Sohnesleben im Fluchtmodus
13. März 2016 von Thomas Hartung
„Nun, Fräulein Rösler, das ist alles lange her. Und es interessiert keinen mehr. Ich bin ein alter Mann, und meine Welt ist längst versunken. Das ist vorbei, mein Fräulein. Vergangenheit. Abgeschlossenes Präteritum. Das war in der anderen Zeit. Verlassen Sie sich nicht auf die Erinnerungen alter Männer. Mit unseren Erinnerungen versuchen wir ein missglücktes Leben zu korrigieren, nur darum erinnern wir uns. Es sind die Erinnerungen, mit denen wir uns gegen Ende des Lebens beruhigen. Es sind diese fatalen Erinnerungen, die es uns schließlich erlauben, Frieden mit uns selbst zu schließen.“
Wie kann man leben, wenn einen mehrfach der Tod verfolgt? Der Tod nicht nur der Frau, des Kindes, die ja als Fremde ins eigene Leben traten; der Tod fremder Arbeiter, fremder Soldaten…; sondern vor allem der Tod des Vaters – der ja das eigene Leben verschuldete? Verschuldete? Schuld – ein Wort, dessen familiale Semantik gerade in politisch-ideologischen Zusammenhängen eine völlig neue Bedeutung erhält. Eine Bedeutung, die weit über das hinausweist, was als „Last vergangener Generationen“ schon in vielen Väterromanen bewältigt wurde.
Christoph Hein hat keinen Väterroman wie Härtling oder Meckel geschrieben – glücklicherweise. Er schrieb stattdessen den Roman des Sohnes: dass „authentische Vorkommnisse“ zugrunde liegen, die Figuren „nicht frei erfunden“ sind, teilt er vorab mit. Er schrieb einen Zwitter aus Autobiographie und Chronik, in dem es nach DDR riecht und nach BRD mieft; ein nicht nur kalkuliert-konstruiertes, sondern teilerlebtes Jahrhundertpanorama vom Weltkriegsende bis zum Nachwendeherbst, das mit jedwedem Schuldkult gnadenlos abrechnet; ein janusköpfiges Epos, in dem ständig Hoffnung und Lethargie konkurrieren; einen unbeirrbaren 500-Seiten-Text aus subjektivistischer Perspektive, ebenso grandios wie gnadenlos, dessen positivste Wirkung traurige Melancholie ist.
Uff. Ich bin seit 30 Jahren bekennender Heinist, seit „Weiskern“ erst recht, aber das musste jetzt raus. Denn nie zuvor las ich so dezidiert, wie der Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben unerfüllt bleibt, sich als Trugschluss, als Fantasie erweist – bei aller Tapferkeit, bei allem Ehrgeiz werden Lebenswege oft in ungewollte Richtungen gelenkt, die zu beeinflussen man ohnmächtig ist. Die Bilanz des Protagonisten als Rentner lautet: eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt, die Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart lässt aus dem „Glückskind“ der Mutter („Du warst mein Glückskind, Junge, denn da ich mit dir hochschwanger war, wagte der russische Offizier nicht, mich abführen zu lassen“) ein „Unglückskind“ werden. Gerade dadurch vereint Heins Held die unterschiedlichen historischen Gegebenheiten Deutschlands politisch, sozial und privatim. Vielleicht erschrak Hein vor diesem Unheil so, dass er drei Anfänge brauchte, um in den Stoff und seinen Helden einzusteigen, und damit das Risiko in Kauf nahm, potentielle Leser zu verschrecken – einer der wenigen Minuspunkte, die ich verteile.
Konstantin Boggosch, pensionierter Lehrer in einer anhaltinischen Kleinstadt, scheint mit seiner Frau ein ruhiges, zurückgezogenes Leben zu führen, bis er eines Tages vom Kirchensteueramt als Konstantin Müller angeschrieben wird – und seine sorgsam gehütete Familiengeschichte vor seiner zweiten Frau auffliegt: er ist der Sohn eines Industriellen und SS-Führers, der in den letzten Kriegstagen von einem polnischen Standgericht hingerichtet wurde. Diese Vergangenheit lebt in Gegenwart und Zukunft fort: Konstantin wird zeitlebens in Sippenhaft genommen für seinen Vater, den er nie kennengelernt hat.
Jahrzehntelang versucht er, aus dessen Schatten zu treten: er verlässt die Mutter und entzweit sich mit dem Bruder, er flüchtet nach der Schule aus der DDR in den Westen, er arbeitet in Marseille, wo er ursprünglich Fremdenlegionär werden wollte, und kehrt pünktlich zur Sperrstunde deutscher Geschichte zurück, am Tag des Mauerbaus… Nichts davon bringt die erhoffte Befreiung: die Herkunft lässt sich nicht ablegen wie der Name. Es ist der Geburtsname der Mutter, den sie annahm im Glauben, damit die Vergangenheit verschwinden zu lassen. Aber aus dem „Glückskind ohne Vater“ wird prompt ein „Unglückskind mit Vater“: die Sportler-Karriere, das Abitur, das Studium an der Filmhochschule, ja die berufliche Beförderung werden dem Sohn immer verweigert, denn der Schatten des Vaters, eingebrannt in seiner Kaderakte, ist immer schneller. Ein Sohnesleben im steten Emanzipations-, ja Fluchtmodus: psychisch, physisch, beruflich, geographisch, selbst sexuell in seiner zweiten Ehe:
„Ich weiß, ich bekomme diesen Vater, dieses Erbe nicht los. Ich kann mich nicht frei machen, ich bin nicht frei. Seinetwegen. Seinetwegen habe ich keine Kinder, ich will es nicht. Ich hatte Angst, dass sich etwas fortsetzt. Ich wollte keine Kinder, weil ich Angst vor dem Bösen habe, vor den Geistern meines Vaters.“
Ein Sohnesleben, das einen Vatermord bräuchte, um sich zu befreien. Christoph Hein erzählt ein Leben in der DDR, in dem das Private nie privat bleiben durfte, sondern der Staat und dessen einzig richtige Ideologie ins Private eindringt, ja zum eigentlichen Gestalter des Lebens wird, indem er den Spielraum des einzelnen mehr und mehr verengt. In einer politischen Binnenwelt aus Bürokratie, Opportunismus und Rachsucht muss sich einer behaupten, der eigentlich nur sein Leben in Ruhe leben will und immer wieder die Rote Karte gezeigt bekommt. Die „WELT“ las einen „Roman in Sepia, eine Dystopie des Politischen und des Privaten“. Kann man, trotz widrigster Voraussetzungen, die Hoheit über das eigene Leben erlangen? Die „BZ“ erkennt richtig: „Der Weg aus dem Unheil führt durch es hindurch. Es ist diese Erkenntnis, die Konstantin annehmen muss. Die Hoheit über die persönliche geht nicht mit der Hoheit über die gesellschaftliche Gegenwart einher. Die haben andere, weniger bedenkenvolle Gestalten.“
Dann: die Wende, und Boggosch wird – jetzt demokratisch von der Lehrerschaft gewählt – Schuldirektor. Zeitweise, denn hier geht’s ans Eingemachte. Ebenso wie Hein zeigt, dass eine mehr als oberflächliche NS-Aufarbeitung in beiden deutschen Staaten nie stattfand, zeigt er nun die nochmal nicht oberflächliche Aufarbeitung der DDR im wieder vereinigten Deutschland: der Rektor wird zugunsten eines Westimports wieder „entfernt“, und der DDR-angepasste Bruder erhält das millionenschwere Erbe des SS-Vaters zurück, das Konstantin ausschlug. Vielleicht hat Suhrkamp mit dem Lob der „geschichtsdiagnostischen Kompetenz“ seines Autors diesen Modus gemeint. Ein Modus, den Sigrid Löffler mit den Worten beschrieb, dass sich Hein schon in der DDR nicht wohlfühlte, es ihm hier aber auch nicht besser ginge.
Ein Modus, der neben dem lakonischen, anrührenden, unsentimentalen Ton vor allem die beispiellos-beispielhaften Figuren und Wendungen, ja Brüche meint, die der dramatisch geübte Hein einbaut. Bei ersteren verteile ich weitere Minuspunkte: neben durchaus gelungenen Chargen wie Reichsbahnhucker Bruno oder dem moralisch verkommenen Münchner Westonkel, den zu entblößen die Beschreibung seiner Frühstückssitten reicht, gestaltet Hein gleich zweimal Antiquare als handlungswichtige Personen, was für mich etwas einfallslos wirkt (Gebildetheit und intellektuelles Milieu kann man auch anders zeichnen) – und ein Pauker als Held ist auch nicht unbedingt das literarische Nonplusultra, denn manches bleibt an ihm, wie auch an anderen Figuren, schablonenhaft, typisiert. Tragisch ist die Figur der Mutter, die im „Souterrain“ einer Villa wohnt, „so schön wie noch nie“, wie sie am Ende aus reinem Selbstschutz behauptet: es ist ein Keller im prächtigen, wiedererlangten Haus des nach dem Vater geratenen Sohnes Gunthardt, in dem die alte Frau verschrumpelt wie die Kartoffeln; die sich kleinmacht, bis sie stirbt „am Herzversagen der anderen“. Aus bildungsbürgerlichem Haushalt stammend, studierte sie Sprachen, um schließlich vom schneidigen Unternehmertum ihres Mannes auf Lebenszeit als Putzfrau herabgewürdigt zu sein: lehren durfte sie in der DDR nie.
Bei den Wendungen bleibt vor allem der Tod von Boggoschs erster Frau und seiner neugeborenen Tochter haften: weiß die Laken über den zarten Körpern, das kleine Köpfchen über dem Saum: „Die beiden Engel meines Lebens waren bereits kalt.“ Am Ende erkennt er: „Man zerstört Träume, wenn man sie verwirklicht“. Trotz dieser dramatischen Ereignisse bleibt der Roman immer leise, behutsam, atmosphärisch dicht und lebt fast nur von der lakonischen Innenschau des Ich-Erzählers. Dass der immer wieder aufsteht und von vorn beginnt, mit immer weniger Träumen, ist mehr als anrührend.
„Die Welt ist groß genug, dass wir uns alle in ihr irren können, aber unser Leben ist nicht so lang, dass wir alles vergessen könnten.“
Was mich an dem Buch daneben frappierte, beschrieb die „BZ“ so: „Jeder Leser hat die Orte, die er nicht erreichte, und die er nicht erreichen wollte – jeder hat sein Magdeburg.“ In dieser Stadt, in der auch ich fast 11 Jahre meines Lebens verbrachte und an die ich sehr ambivalente Erinnerungen habe, spielt ca. ein Drittel der Handlung, inklusive dem Tod von Konstantins Familie. Insofern ist Hein mit diesem Buch ein Deutschlandroman gelungen, der sich über Partien als jeweils eigenes Lebensbuch lesen lässt: jeder Ostdeutsche, der 1989 älter als 20 Jahre war, wird in diesem Buch Konstellationen seiner eigenen Biografie finden; aber jeder Westdeutsche auch, denn die Muster des Mitmachens sind identisch.
Aus Anlass seines 70. Geburtstags schrieb unter der dussligen Überschrift „Epik für prekäre Leser“ vor einem Jahr die FAZ: „Was bleibt von der Lakonie eines Albert Camus, wenn man die algerische Sonne weglässt? Der vom pathetischen Schwarz in eine Palette von Grautönen überführte Existentialismus Christoph Heins. „Ich habe keine Botschaft, keine Zukunftsvisionen. Alles was ich mache, ist mitleidslos genau aufzuschreiben, was ich gesehen, erlebt, erfahren habe.“ Da ist viel Wahres dran. Dieser jüngste Roman, dem ich dringend die Aufnahme in den Oberstufenlehrplan sowohl in Literatur als auch Geschichte empfehle, ist lebensklug und zurückhaltend, deutlich und still, traurig und aufwühlend. Hein ist und bleibt der Meister der unaufgeregten Aufklärung, und wie ein guter Wein wird er umso besser, je älter er wird. Man kann sich an ihm berauschen, manchmal auch in ihm ertrinken. Ich habe die Geschichte an einem Tag verschlungen.
Christoph Hein: „Glückskind mit Vater”. Frankfurt (Suhrkamp) 2016. 527 Seiten, 22,95 €.