„Dichten ist Herrschen“
4. Juli 2018 von Thomas Hartung
Lang lebe welches Deutschland – das „Heilige“ oder das „Geheime“? Die Debatte um die letzten Worte Stauffenbergs, bevor er in der Nacht des 20. Juli 1944 nach seinem Attentatsversuch auf Hitler standrechtlich erschossen wurde, blieb auch durch Tom Cruise‘ Film „Operation Walküre“ (2008) ungeklärt. Im amerikanischen Original vernehmen die Kinogänger den Ruf: „Long live secret Germany!“, in der deutschen Synchronfassung wird „secret“ dagegen als „heilig“ übersetzt – wie üblich.
Bei dem Streit geht es um die Frage, ob Stauffenberg selbst kurz vor seinem Tod nochmals explizit auf seine Prägung durch Stefan George hinweisen wollte – ist „Geheimes Deutschland“ doch ein Gedicht von George, an dessen Sarg der junge Graf Claus mit Bruder Berthold Totenwache hielt. „Das Kapitel deutscher Geistesgeschichte, das ‚George – Hitler – Stauffenberg‘ heißt, wartet noch darauf, geschrieben zu werden“, notierte Sebastian Haffner 1978 in seinen „Anmerkungen zu Hitler“. Da es bis heute ungeschrieben ist, bietet Georges 150. Geburtstag am 12. Juli Anlass zu einer Spurensuche.
„Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“
Geboren als Sohn eines Gastwirts und Weinhändlers in Büdesheim (heute Bingen), galt George schon als Kind für reserviert, eigenbrötlerisch und dünkelhaft. Er war zwar kein besonders guter Schüler, aber sehr sprachbegabt, lernte selbstständig bis zu 10 Sprachen, darunter Hebräisch, Griechisch und Norwegisch, und entwickelte eigene Geheimsprachen, von denen eine bis heute nicht entschlüsselt ist. Außerdem ging er oft ins Theater und schrieb erste Gedichte, in denen sein Sendungsbewusstsein und seine eigenwillige Schreibung bereits anklangen: „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam…“
Georges erster Gedichtband „Hymnen“, von dem er 1890 im Selbstverlag 100 Exemplare drucken ließ, ging nur ein einziges Mal über den Ladentisch. Mit den folgenden Bänden lief es kaum besser. Nach dem Abitur bereiste er die europäischen Metropolen London, Wien und Paris, wo er auf den Symbolisten Stéphane Mallarmé und dessen Dichterkreis traf, der ihn nachhaltig beeinflusste, seine elitäre Kunstauffassung des l’art pour l’art entwickeln und seine Abneigung gegen den Realismus wachsen ließ. Begeistert kehrte er nach Deutschland zurück und begann weitere moderne Franzosen wie Baudelaire, Verlaine oder Rimbaud zu übersetzen. Sein Studium in Berlin brach er ab.
Rasch gewann er Gleichgesinnte und bildete einen ersten Freundeskreis mit Künstlern, Bohémiens und Schöngeistern, die in einer Art „aristokratischer Opposition“ gegen Materialismus, Konsumideologie und saturiertes Bürgertum protestierten und durch die konspirative Idee verbunden waren, eine neue Kunst zu schaffen. Die fand Ausdruck in der von George 1892 gegründeten Zeitschrift „Blätter für die Kunst“, die bis 1919 erschien und zum publizistischen Kern des Kreises wurde. Über 500 lag die Auflage zwar selten, beeinflusste die akademische, zumal germanistische Elite aber sehr.
Blätter für die Kunst 1899. Quelle: https://www.zvab.com/servlet/BookDetailsPL?bi=22706977413&searchurl=hl%3Don%26sortby%3D7%26an%3DStefan%2BGeorge
Mit einem ausreichenden Erbe versehen, blieb der Dichter sein Leben lang ohne festen Wohnsitz, reiste wie ein staufischer Kaiser zwischen den Städten hin und her, in denen seine Anhänger, Freunde oder Verleger wohnten, und hielt dort Audienz. Meist zog er sich in ein Zimmer zurück, um dort mit auserwählten Gästen einzeln zu sprechen. Jünger traten dem Kreis nun nicht mehr einfach bei, sondern wurden nach Prüfung ihrer Würdigkeit berufen. Zu Stauffenbergs Initiation ist nichts bekannt.
Zugleich aber habe er unter dem Zwang von Inszenierung zeitlebens Wände um sich aufgerichtet, durch die hindurch nicht leicht war, die „Person zu erkennen mit all ihren Schwächen, mit ihren Ängsten, mit ihren Sensibilitäten, […] weil diese Inszenierung in einem Pathos stattgefunden hat, das zum Teil bis heute anhält“, so im DLF Georges Biograph Thomas Karlauf, der 2019 auch eine Stauffenberg-Biographie vorlegen will. Hinzu traten homosexuelle Züge in den Beziehungen innerhalb des Kreises.
„Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“
1904 – 1906 verwandelte eine Krise den Dichter in einen Mann zwischen Narziss und Tyrann: zum einen durch den Bruch mit dem parareligiös-esoterischen Kreis der Kosmiker, denen er viele mythische Anregungen verdankte, zum zweiten durch den Bruch mit Hugo von Hofmannsthal, der sich 15 Jahre lang bei aller Wertschätzung der dichterischen Genialität Georges gegen persönliche Vereinnahmung gewehrt hatte, vor allem aber durch den Tod seiner posthum zur „Gottheit“ glorifizierten Muse Maximilian „Maximin“ Kronberger, der gerade 16jährig an Meningitis starb.
Einer Brieffreundin klagte George vom „klaffenden abstand zwischen unserem säglichen wort und unserm unsäglichen herzen“. Mit der 1907 veröffentlichten Sammlung „Der siebente Ring“ und dem 1913 erschienenen formstrengen Gedichtband „Der Stern des Bundes“ zeigte er sich auf dem Zenit seines Schaffens. Der „Stern“ sei allerdings der „ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“, dekretierte, vielfach zitiert, Karlauf.
Den ersten Weltkrieg sah George skeptisch: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein, / Nur viele untergänge ohne würde…“ In der Weimarer Republik wurde er teilweise kultisch verehrt, darunter vom später bedeutenden Historiker Ernst Kantorowicz, der gleichsam unter Georges Anleitung eine Biographie des deutschen Staufer-Kaisers Friedrich II. schrieb, und seit Mai 1923 auch von den Stauffenberg-Brüdern. Die Verleihung des ersten Goethepreises der Stadt Frankfurt 1927 lehnte der Dichter, der inzwischen Schulstoff war, ab. Für Klaus Mann verkörperte George seinerzeit „eine menschlich-künstlerische Würde, in der Zucht und Leidenschaft, Anmut und Majestät sich vereinen.“
Karlauf relativiert, dass Spengler, Heidegger oder Schmitt in den 20er Jahren die Begriffe Reich, Nation, Führerschaft diskutierten, doch: „In dieser Diskussion ist er ein wichtiger Stichwortgeber, aber als Wegbereiter des Nationalsozialismus sollte man ihn nicht sehen.“ Da George keine politische Verwirklichung seines hierarchisch-totalitären Systems wollte, trotzte er allen Avancen der Nationalsozialisten: er lehnte die Präsidentschaft einer neuen deutschen Akademie für Dichtung, die ihm Göbbels antrug, ebenso ab wie er der von NSDAP-Seite pompös inszenierten Feier zu seinem 65. Geburtstag fernblieb. Schwerkrank begab er sich in die Schweiz und starb am 4. Dezember 1933 nahe Locarno.
„Die art, wie ihr bewahrt, ist ganz verfall“
Die Welt existierte für George nur, um als Veredelung der Schöpfung in einem schönen Werk Gestalt anzunehmen: „Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit.“ Die strenge Bildung seiner Gedichte war für Wolfgang Graf Vitzthum die Reaktion auf eine „ungeordnete, chaotische, fließende Welt. Die geistig-kultische, integrierende Lebensgemeinschaft des George-Kreises bildete ein Korrektiv für die materialistische Deformierung und soziale Desintegration der pluralistischen Massengesellschaft.“
Dabei fallen zwei Dinge besonders auf. Zum ersten begründete George, von seinen Jüngern „Ehrwürdiger Meister“ angesprochen, mit Führerzeremonien unter der Devise „Dichten ist Herrschen“ ein Reich des Geistes, aus dem heraus er eine neue Jugendelite erschaffen wollte. Mit sich als Prophet, Patriarch und Pädagoge sollte diese nach seiner Ansicht dringend benötigte Jugendelite Deutschland kulturell erneuern: „Die art, wie ihr bewahrt, ist ganz verfall“. Die Handlungsautorität lag beim Dichter-Führer, der in fester Ordnung und gebundener Freiheit gleichsam „übergeschlechtlich“ seinen „Staat“ zu führen trachtete: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“
Ziel war, zu einem „Schönen Leben“ zu finden als eine von „vielen artistischen Fluchtbewegungen jener Zeit“ (Norbert Bolz). Dieses Leben wurde zu einem einzigartigen pädagogischen Modell als Antwort auf die künstlich-rationale Entzauberung der natürlich-idealen Welt für jene, die von George erzogen werden wollten. Es war zunächst durch Exklusivität gekennzeichnet, die sich auch in einer eigenen jugendstilnahen Ästhetik bis hin zu einer eigenen Schrift in gemäßigter Kleinschreibung niederschlug: nur Versanfängen, Eigennamen und Betonungen wurden Versalien spendiert. Ab 1904 erschienen Georges Drucke nur noch in seiner eigenen Schrifttype „StG-Schrift“, die auf seiner Handschrift basierte als Repräsentantin seines geistigen Wirkens mit reduzierten Oberlängen, minimierter Interpunktion und Punkten für Pausen in Form sinnvollen Innehaltens.
Damit – Stichwort „Geheimsprache“, die ihn zeitlebens beschäftigte – hatte George ein Mittel der Vereinheitlichung, der „Vergemeinschaftung“ geschaffen, das seine Kunst und Ideologie von allen anderen Kunstrichtungen eindeutig unterscheiden, die Geistesaristokratie von der Masse trennen und eine neue ästhetische Wirklichkeit hermetisieren sollte: „Bei George hatte die Schrift Repräsentationscharakter und stellte ein Instrument der Herrschafts- und Machtform dar“, der es gelang, geistige Homogenität zu projizieren und damit den Kreis zu stabilisieren, befand Martin Roos.
Dieses Modell war aber auch durch bestimmte Modi kommunikativer Weltaneignung gekennzeichnet: George pflegte oft im Priestergewand zu deklamieren und spezifische Arten der Rezeption von Gedichten zu zelebrieren: Abschreiben, Auswendiglernen, Hersagen, Übersetzen, Singen… „sie wurden gelebt, nicht nur gelesen“, beschrieb Vitzthum die förmlich ein Arkanum konstituierenden Rituale. „Wenn jemand in diesem Alter etwas hat, dann sind das Probleme. Probleme mit der Gesellschaft, Probleme mit Eltern, mit der Schule, mit Mädchen. Aus all diesen Problemen hat sie George durch diese Suggestion einer kleinen verschworenen Schar herausgerissen“, erklärt Karlauf.
„Leben die Bücher bald?“
Zum zweiten wirft der Charakter eines Korrektivs für „Deformierung“ und „Desintegration“ zwingend die Frage nach der programmierenden Wirkung des poetischen Wortes auf, ja des Verhältnisses von „Dichterwort und Tatentschluss“ (Vitzthum): für Edgar Salin bspw. ist die Tat vom 20. Juli vollständig aus Georgeschem Geist erwachsen. Laut Karlauf hatte George die Ambition, „dass die Dichtung die Welt verändern muss. Für ihn waren Gedichte Bomben, Attentate, Taten; und der Begriff der Tat – ein ganz anarchischer Begriff – ist einer der zentralen Begriffe in Georges Leben und führt ja dann am Ende auch zu dem Attentat vom 20. Juli. Verschwörung, Umsturz, Staatsstreich gehörten zu den zentralen Vorstellungen seines Weltbildes“.
Sein heroisch-idealistischer Anspruch sei gewesen, das eigentliche Deutschland zu verkörpern, „nicht die Bruttoregistertonnen der Schiffspassagen oder die Stahlquoten“, so Karlauf. In diesem Ethos hätte der Dichter seine jungen Freunde erzogen, unter denen man Exilanten, Mitläufer und Attentäter gleichermaßen findet – die nach Georges Tod nie wieder zusammenfanden. Dabei konnte er sich auf sein großes Vorbild Hölderlin berufen, der 1789 „An die Deutschen“ dichtete: „Oder kömmt, wie der Strahl aus dem Gewölke kömmt,/Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?“
Dieser metaphorische Kosmos „lebender Bücher“ bestand neben der griechischen Antike auch aus Kunst und Kultur des deutschsprachigen Raumes: die Heldensagen um Siegfried und Dietrich von Bern zählten dazu, das mittelalterliche Rittertum und das Rolandslied, ebenso große Künstler und Philosophen wie Goethe, Herder und natürlich Nietzsche. Ein gemeinsamer Nenner all dieser Elemente ist nicht leicht zu finden: heldenhafte Gesinnung, mutiges Einstehen für moralische Werte gehören sicher dazu, Selbstlosigkeit, die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen sowie ein ganzheitliches Menschenbild, wie es in der Antike und in der deutschen Klassik propagiert worden war.
Gerade Marion Gräfin Dönhoff vertrat entschieden die These, Stauffenberg habe „Es lebe das geheime Deutschland!“ gerufen. „Vor allem anderen war ihnen die Erneuerung der moralisch-ethischen Maßstäbe wichtig“, charakterisierte sie 1994 den „Kreisauer Kreis“ mit Stauffenberg, dessen Pläne sie bis zu einem gewissen Grade kannte. „Sie waren sich einig darin, dass ohne metaphysische Dimension weder das Individuum noch die Nation leben können“. Von „romantischer Sinnsuche“ schreibt Holger Löttel. Außerdem habe Stauffenberg in den Tagen vor dem Attentat mehrfach Georges Gedicht „Der Widerchrist“ mit seiner Warnung vor dem „Fürst des Geziefers“ rezitiert.
„Geloben wir, glücklich zu sein“
In dieser metaphysischen Dimension, meint Vitzthum, hätte Stauffenberg „…die innere Autonomie, die Distanz und die Kraft, sich dem Verhaltensdruck der gleichmacherischen ‚Projekt-‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ und der ideologischen Einsinnigkeit der meisten Kameraden, Kollegen und Standesgenossen zunehmend zu entziehen“, gefunden. In dieser Dimension läge gar der Schlüssel für die Tat Stauffenbergs, behauptet Rüdiger Sünner und beruft sich auf einen Text aus Stauffenbergs Nachlass, der erst 1992 komplett veröffentlicht wurde und programmatisch umreißt, wie er sich das „Geheime Deutschland“, ja eine „Neue Ordnung“ nach einem geglückten Putsch vorgestellt hätte.
Es handelt sich um einen in sieben Thesen formulierten „Schwur“, der die Widerstandskämpfer zu einer festen – auch spirituellen – Einheit verschmelzen sollte. Darin heißt es in Ton und Duktus von George z.B.: „Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf.“
Dazu passt der gemeinsame Schwur von Berthold Stauffenberg und Rudolf Fahrner, zu dem sich am Vorabend des 20. Juli die Verschwörer noch einmal versammelten: „Wir glauben an die Zukunft der Deutschen. Wir wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen“, heißt es darin, ebenfalls im Duktus von Stefan George.
Wer also war nun dieser Ästhetizist, den für Stefan Bliemel bis heute „eine über Jahrzehnte wirkende Befangenheit“ umgibt?
- Ein Urheber „überzogener Heilserwartungen“ im Kreis seiner Jünger, deren „unausweichliche Folge Stauffenbergs Opfergang“ war (Karlauf)
- Der „Vollender der Dekadenzdichtung“ (Walter Benjamin)
- „Das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat“ (Gottfried Benn)?
- Stauffenbergs „Seelenführer im kultischen Wortsinn“ (Manfred Riedel)?
- Oder einfach nur ein Autor von „Formungen unvergänglicher Schönheit“ (Thomas Mann)?
Wie gut, dass Kunst sich definitiven Antworten verweigert.
„Verschweigen wir, was uns verwehrt ist; Geloben wir, glücklich zu sein, Wenn auch nicht mehr uns beschert ist Als noch ein rundgang zu zwein.“ (1896)