„Es gibt nichts, was wir in dieser Sache ändern können“
28. September 2018 von Thomas Hartung
Ist die Korrelation zulässig, dass die künstliche Intelligenz immer besser, die menschliche dagegen immer schlechter wird? Ja! Das schließen zunehmend mehr Experten aus Studien, wonach die Leistung bei IQ-Tests in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen habe. Zuletzt registrierten Bernt Bratsberg und Ole Rogeberg von der Universität Oslo Mitte Juni, nachdem sie 730.000 IQ-Tests überprüften, ein konstantes Absinken der Leistung in den letzten Jahrzehnten.
Die Tests stammen von jungen Männern und Frauen der Jahrgänge 1962 bis 1991, die bei der norwegischen Armee zum Militärdienst antraten. Kamen die Armee-Neulinge bis zum Jahrgang 1975 beim Eingangstest auf mehr als 102 IQ-Punkte, erreichten die Jahrgänge bis 1991 nur noch knapp 100 Punkte. Das Absinken erfolgte kontinuierlich. Bratsberg und Røgeberg prognostizierten, dass der durchschnittliche IQ-Wert im nächsten Jahrhundert um bis zu zehn Punkte fallen wird.
Der Aufsatz der beiden Norweger ordnet sich als vorläufig letzter in eine Reihe von Aufsätzen ein, die mehr oder weniger alarmistisch einem europäischen Siegeszug der Dummheit das Wort reden. In Dänemark wurde ebenfalls die militärische Tauglichkeit aller jungen Männer untersucht – auch wenn nur einige von ihnen den Wehrdienst tatsächlich ableisten. Diese Untersuchung umfasst auch einen IQ-Test. Seit 1998 sind die Werte im Schnitt um 1,5 Punkte gefallen, berichtet der NewScientist im Sommer 2014 und rechnet auch mit einer Senkung von sieben bis zehn IQ-Punkten pro Jahrhundert.
Aber bereits 2012 hat die University of Hartford eine Berechnung veröffentlicht, nach der der durchschnittliche IQ für das Jahr 2011 bei 88,54 gelegen hat – ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren. Studien in Ländern wie Neuseeland, Australien, Brasilien und Mexiko haben außerdem gezeigt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und dem Rückgang des IQ gibt. Es wird angenommen, dass der durchschnittliche IQ bis zum Jahr 2050 auf 86,32 fällt, wenn die Weltbevölkerung mit anhaltend hoher Geschwindigkeit wächst. Im Jahr 1950 lag er noch bei 91,64 – mehr als 5 Punkte höher.
Ähnliche Berechnungen stellten im Januar 2018 Forscher vom Ulster Institut für Sozialforschung um den Anthropologen Edward Dutton an. Danach sei der IQ in vielen westlichen Nationen alle zehn Jahre um etwa zwei Punkte gesunken. Die Ergebnisse scheinen im Widerspruch dazu zu stehen, dass – politisch gewollt – immer mehr junge Menschen an die Universitäten drängen und der technische Fortschritt unaufhaltsam voranschreitet. Nun hatte der Begriff „Hochschulreife“ in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts noch eine besondere Aura, „weil er die Beherrschung eines anspruchsvollen Bildungskanons in neun Disziplinen versprach“, erklärte der Altphilologe Gerhard Wolf 2016. Heute dagegen ist er auf eine bloße Hochschulzugangsberechtigung reduziert, die mit „Studierfähigkeit“ nichts mehr gemein haben muss.
Tests zur Messung des IQ verändert
Parallel dazu stehen einerseits die Konzepte von IQ-Tests sowie andererseits die Gründe für den Intelligenzschwund auf dem Prüfstand. Seit die Psychologen Alfred Binet und Théodore Simon 1905 einen Intelligenztest entwickelten, begannen Forscher den Intelligenzquotienten (IQ) zu messen, der den Unterschied ausdrücken soll zwischen Talent (150) und Trantüte (70). Die standardisierten Tests überwiegend in Bereichen des verbalen und mathematischen Verständnisses ließen nicht nur Rückschlüsse auf den IQ einzelner Menschen zu, sondern auch auf den Durchschnittswert der Bevölkerung, der bis ca. 1980 stetig gestiegen war.
Für die Psychologin Professor Elsbeth Stern von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich ist Intelligenz „vorwiegend die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken und zur effizienten Informationsverarbeitung.“ Die brauche man vor allen Dingen dann, so Stern im DLF, „wenn man eben komplexe Aufgaben lösen muss. Und dann haben Menschen, die das effizienter können, die also besser aktuell mehr Information parallel halten können, die haben dann einen Vorteil.“ Um das logische Denken zu beurteilen, gibt es in Intelligenztests Fragen wie: 2,4,6,8 – was ist die nächste Zahl? In diesem sehr einfachen Beispiel: die 10. Oder: Wald verhält sich zu Bäumen wie Wiese zu Grün – Gräsern – Weite – Blumen? Richtig ist: Gräser.
1988 veröffentlichte Robert Flynn sein Buch „Der Flynn-Effekt“, in dem er den steigenden IQ in vielen westlichen Ländern zwischen 1930 und 1980 als eine Folge der besseren Ernährung und verbesserter Lebensbedingungen einschließlich der medizinischen Versorgung sowie der besseren Bildung und Förderung von Kindern erklärt. Gerade der Zusammenhang von Bildung und Intelligenz ist ein kontroverses Thema. Doch hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine höhere Bildung auch Auswirkungen auf den IQ hat. Die US-Neurowissenschaftler Daniel Ansari und Aaron Berkowitz wiesen anhand einer Improvisations-Aufgabe nach, dass die Hirntätigkeit bei musikalisch gebildeten Testpersonen anders ist und zu besseren Ergebnissen führt als bei musikalischen Laien. Die Ergebnisse wurden von anderen Untersuchungen bestätigt, etwa in Österreich. Die Forscher glauben, dass die Ergebnisse nicht nur auf den Bereich der Musik zutreffen, sondern auch auf andere Branchen. Vor allem in kreativen Branchen ist Bildung eine entscheidende Voraussetzung zur Lösung von komplexen Aufgabenstellungen.
Flynn hatte überdies zwischen der phänotypischen (umweltbedingten) Intelligenz und der genotypischen (vererbten) Intelligenz unterschieden und bereits entdeckt, dass die genotypische Intelligenz um 0,57 Punkte pro Generation fällt. In der entwickelten Welt wurde bis vor rund 15 Jahren der Rückgang der genotypischen Intelligenz durch einen Anstieg der phänotypischen Intelligenz ausgeglichen. Die These ist aus mehreren Gründen nicht mehr haltbar. So gibt es möglicherweise einen direkten Zusammenhang zwischen dem Rückgang des IQ und Armutsquoten, die heute auf einem historisch hohen Stand sind. Dadurch entgehen vielen Menschen Bildungschancen, sie können ihren Kindern keine Möglichkeit bieten, sich auf hohem Niveau zu entwickeln.
Andere Experten weisen darauf hin, dass sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Tests zur Messung des IQ leicht verändert hätten und der Rückgang dadurch bedingt sei. Dieser These gingen 2017 Forscher um Robin Morris (Kings College London) im Fachblatt „Intelligence“ nach und analysierten für ihre Studie zunächst rund 1.750 verschiedene Intelligenztests seit dem Jahr 1972, und zwar im Speziellen nach zwei Testteilen: jenen, die das Kurzzeitgedächtnis, und jene, die das Arbeitsgedächtnis messen. Letzteres ist komplexer als das Kurzzeitgedächtnis und befähigt zur Manipulation der Erinnerungen, außerdem sind damit andere Hirnteile befasst.
natürliche Auslese begünstigt intelligente Menschen
Zunächst zeigte sich, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen IQ-Tests unterzogen wurden, die bereits über 60 Jahre alt waren. Da ältere Personen an einem nachlassenden Arbeitsgedächtnis leiden, während das Kurzzeitgedächtnis annähernd konstant bleibt, könnte das eine Erklärung für rückläufige Testergebnisse sein. Im Hauptbefund ergaben sich Verbesserungen des Kurzzeitgedächtnisses analog zum Flynn-Effekt, während die Testergebnisse in Sachen Arbeitsgedächtnis abnahmen.
Eine weitere Erklärung: Spätestens 2012 stand nach Untersuchungen des US-Neurowissenschaftlers Read Montague von der Universität Virginia Tech fest, dass Intelligenz offenbar weniger eine stabile, gleichbleibende und vererbbare Eigenschaft ist, sondern immer auch eine Momentaufnahme. Seine Begründung: bei direktem Feedback zu Lernergebnissen schrumpfe der IQ.
„In Kleingruppen sinkt die geistige Leistungsfähigkeit“, wird Montague auf dem Portal alltagsforschung.de zitiert, „erst recht, wenn man glaubt, schlechter zu sein als die anderen.“ Offenbar erhöhen kleine, intime Gruppen den sozialen Druck. Man ist nicht anonym, jeder bemerkt die Leistung des anderen, es entsteht eine unbewusste Hackordnung. Mit der Konsequenz, dass Stress und Einschüchterung nicht nur aufs Gemüt, sondern auch die Intelligenz schlagen. Das müsste Konsequenzen für das Design jeder Art von Assessment Center haben.
Ähnlich argumentiert auch Edward Dutton. Der IQ-Test sei sehr ungenau und „ein schlechtes Maß für Intelligenz“. Mit der industriellen Revolution sei zwar die Umwelt des Menschen zunehmend von Wissenschaft dominiert worden, was das analytische Denken angeregt habe. Analytische Fähigkeiten seien aber nur bedingt zur eigentlichen Intelligenz zu zählen, der Flynn-Effekt aber allein dieser Ursache geschuldet gewesen, sagt er der Website sputniknews.com: „Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass es in einhundert Jahren bereits 30 Punkte gewesen sind. Und das würde wiederum heißen, dass der durchschnittliche Mensch im 19. Jahrhundert im Vergleich zum durchschnittlichen Menschen aus dem Jahr 2000 geistig behindert gewesen war, was offensichtlich nicht stimmt.“
„Intelligenz ist zu 80 Prozent vererbbar“
Allerdings unterscheidet sich Duttons Erklärung fundamental vom akademischen Mainstream. So kamen Bratsberg und Rogeberg zu dem Ergebnis, dass der Grund für den Intelligenz-Abstieg primär im modernen Lebensstil läge. Da auch bei Geschwistern in Norwegen der IQ ab dem Geburtsjahrgang 1975 herunterging, bedeute dies, „dass nicht die Gene, sondern irgendein Umwelteinfluss die Intelligenz beeinflusst haben muss. Und zwar abhängig davon, in welchem Jahr die Kinder geboren wurden. Es geht nicht um Gene – sonst gäbe es keine Unterschiede zwischen Kindern, die die gleichen Eltern haben“, so die Norweger im DLF. Als Ursachen vermuten sie eine veränderte Mediennutzung, aber auch die Ernährung mit viel ungesundem Fastfood. Auch Umweltfaktoren sollen eine Rolle spielen. Unter besonderem Verdacht stehen dabei Umwelthormone, die in hormonelle Abläufe im Körper eingreifen, die auch kognitive Fähigkeiten betreffen.
Dutton dagegen beschreibt genetische Gründe, für ihn gilt: „Intelligenz ist zu 80 Prozent vererbbar.“ In der Praxis habe früher eine starke natürliche Auslese intelligente Menschen begünstigt: Wer intelligenter war, wurde innerhalb einer Gesellschaft wohlhabender, und wer wohlhabender war, pflanzte sich erfolgreicher fort. Der Prozentanteil der Menschen, die eine genetische Veranlagung für eine hohe Intelligenz mitbringen, sei in den vergangenen Generationen aber gesunken: „Bis zur industriellen Revolution hatten in jeder Generation die 50 reicheren Prozent der Bevölkerung 40 Prozent mehr überlebende Kinder als die ärmeren 50 Prozent. Das bedeutet, dass in jeder Generation die Intelligenz anstieg. Das ging so vom Mittelalter bis etwa 1800. Um 1800 war die Intelligenz dann so hoch, dass es diesen massiven Durchbruch gab mit den vielen Erfindungen, die industrielle Revolution eben“.
Damit änderte sich jedoch die Situation der Menschen: „Es kamen Dinge wie Impfungen auf und senkten die Kindersterblichkeit immer weiter“, erklärt Dutton. Außerdem wurden Verhütungsmittel entwickelt, und da gelte: „Menschen, die intelligenter sind, neigen dazu, mehr Verhütungsmittel einzusetzen, weil sie weiter vorausdenken und weniger impulsiv handeln. Sie können besser planen. Während also bei armen Familien immer mehr Kinder überlebten, produzierten die wohlhabenden Familien immer weniger Nachkommen.“ Diese Tendenz sei noch durch den Feminismus verstärkt worden: Intelligentere Frauen hätten damit immer mehr Zeit für Bildung aufgewendet und dadurch weniger bis gar keine Kinder produziert – eine Erklärung, die auch andere Experten vertreten. Lässt da etwa Sarrazin grüßen? Der Liedermacher Manfred Maurenbrecher kehrte die Relation drastisch, aber durchaus treffend in seinem Hit „Dumm fickt gut“ auf dem Album „Glück“ (2007) um.
Und auch die Religionen hätten ihre Rolle gespielt, mit ihrer Aufforderung: „Seid fruchtbar und mehret euch“. Infolgedessen würden religiöse Familien tendenziell mehr Kinder in die Welt setzen: Laut Dutton geht Religiosität mit einer niedrigen Intelligenz einher. Der Flynn-Effekt, der nur die umweltbedingten Aspekte des Denkens betreffe und nicht seine vererbbare Seite, habe also in den 90er Jahren seine natürliche Grenze erreicht und sich seitdem ins Negative gekehrt.
„Wir werden also definitiv weniger intelligent“
Welche intellektuellen Fähigkeiten im Laufe der Zeit gefallen sind, weiß Dutton auch: In Sachen Reaktionszeit schneiden die Menschen immer schlechter ab. Bereits im Winter 2013 ergab eine multinationale europäische Studie, dass sich die Reaktionszeit moderner Menschen, die als ein Indiz für den IQ (weil ein Teilaspekt einer höheren Intelligenz) gilt, im Vergleich zum Viktorianischen Zeitalter erhöht hat. Im späten 19. Jahrhundert betrug diese Reaktionszeit auf einen bestimmten Reiz durchschnittlich 194 Millisekunden, im Jahr 2004 dagegen schon 275 Millisekunden. Auch das Vermögen, Farben zu unterscheiden, verschlechtere sich. Zahlenreihen werden schlechter wiedergegeben. Und die Kreativität baut ab. „Und alle diese Veränderungen können wir über hundert Jahre in die Vergangenheit zurückverfolgen. Wir werden also definitiv weniger intelligent – und das aus genetischen Gründen“.
Damit reiht sich Dutton in eine geschichtspessimistische Tradition ein, die Oswald Spengler in seinem Opus magnum „Der Untergang des Abendlandes“ zu ihrer deutschen Blüte führte. Für Spengler erstarrt am Ende der Zivilisation jede Kultur, nähme eine versteinerte Gestalt an und gleite ab in einen nur noch interessensgeleiteten Vernunftgebrauch. Spengler weissagte auch, dass Wissenschaft und Technik nur solange aufrecht erhalten, weiterentwickelt und von Nutzen sein würden, solange es Menschen gibt, die ihre Funktionsweise verstehen. Nimmt deren Zahl allmählich ab – wie es die von ihm prophezeite Kinderlosigkeit zwangsläufig mit sich bringen wird, weil „die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet“ – so wird auch die von ihnen aufrechterhaltene Technik bald verschwunden sein.
Pikant: Für eine Arte-Dokumentation, die am 7.11.2017 gesendet und den genetischen Erklärungsansatz verfolgen sollte, wurde auch Dutton interviewt – und fiel der redaktionellen Schere zum Opfer. „Ich weiß nicht, ob sie Angst hatten, meine Erklärung zu präsentieren“, kommentiert er Monate danach. Ähnliche Erfahrungen habe er schon mit Gutachtern seiner wissenschaftlichen Arbeiten gemacht, die ihn in die Nähe von Eugenik rücken wollten. In einem Fall habe gar der Verleger auf die Bremse gedrückt, „weil die Leser das nicht mögen würden“.
Duttons einfache Erklärung: Dass wir alles „zum Guten wenden können“, stimme bei Umwelteinflüssen, bei genetischen Ursachen dagegen wäre eine Korrektur „so monströs und schrecklich, dass niemand das ernsthaft in Erwägung ziehen würde“. Denn der einzige Weg, den Intelligenz-Abbau aufzuhalten, wäre, weniger intelligenten Menschen zu verbieten, sich fortzupflanzen. Solche Forderungen stellt Dutton als Wissenschaftler, dem es darum geht, die wirklichen Ursachen für einen Prozess darzustellen – egal wie unbequem sie sind – natürlich nicht. Wie man diesen Prozess aufhalten könne, sei eine andere Frage, die Dutton im Stile Spenglers sehr defätistisch beantwortet: „Es gibt nichts, was wir in dieser Sache ändern können.“