„Ich bin durch Vererbung von Eugenik besessen“
17. Februar 2019 von Thomas Hartung
Was mit einer Gutenachtgeschichte für den Fünfjährigen begonnen hatte, wurde zu seiner Obsession: Das Kindermädchen Resi hatte ihm die Geschichte von Nils Holgerssons Reise mit den Wildgänsen vorgelesen – worauf Konrad beschloss, unbedingt ein Wasservogel zu werden. Er gab sich mit einem frisch geschlüpften Entenküken zufrieden, das ihm überallhin folgte – die wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen fand Lorenz erst Jahre später, als er bei der jungen Graugans Martina das nämliche Verhaltensmuster beobachtete. Spötter behaupten, das anhängliche Gänsekind in seinem fluffigen Daunenkleid habe im Gegenzug den jungen Lorenz auf das Federvieh festgelegt.
Dieses Phänomen nannte er „Prägung“: Einem nur kurze Zeit „offenen“ genetischen Programm folgend, fixiert der Jungvogel dasjenige Wesen zum Leittier, das sich ihm in dieser Lebensphase zuwendet – eine Verschränkung von Instinkt und Lernfähigkeit, die bis dahin kein Biologe für möglich gehalten hatte. Diese Beobachtung führte Lorenz zu der damals revolutionären Erkenntnis, dass nicht nur die körperlichen Merkmale einer Art, sondern auch ihre Verhaltensprogramme ein Ergebnis ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung sind. Nur wenn die Konstruktion des Körpers und die Instruktion des Verhaltens optimal aufeinander abgestimmt sind, kann eine Spezies im evolutionären Konkurrenzkampf überleben.
Auch viele der Spezies Mensch eigentümliche Verhaltensweisen hätten, so Lorenz, ihren Ursprung in einer früher einmal notwendig gewordenen biologischen Anpassung an diesen Selektionsdruck – die jeder Art offenkundig aufgeprägten Muster, nach denen geworben, gebrütet, erlernt, gefüttert, kommuniziert, gekämpft und erobert wird. Damit begründete er die klassische vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie), die er bis 1949 als „Tierpsychologie“ bezeichnete: „Einstein der Tierseele“ nannte ihn der SPIEGEL ehrfürchtig. Daneben gilt er als ein Urheber der „Evolutionären Erkenntnistheorie“, wonach Erkenntnisstrukturen mit den realen Strukturen teilweise übereinstimmen (müssen), weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglicht. Für seine Entdeckungen „betreffend den Aufbau und die Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern“ bekam er mit zwei anderen Forschern 1973 den Nobelpreis für Medizin.
Erst bei dessen Verleihung bedauerte Lorenz in ziemlich gewundener Form bestimmte Studien, die er bis 1944 veröffentlicht hatte, aber „die zurückzunehmen seine Größe nicht ausreichte und die sein Fach bis heute belasten“, so die ZEIT. „Das Wenige, was ich schon von Untaten und Gräueln des neuen Regimes wusste, konnte ich nicht glauben und wollte es vor allem nicht glauben. Der Vorgang, den Sigmund Freud ‚Verdrängung‘ nannte, hat eine dämonische Macht über den Menschen, von der man sich keine Vorstellung macht“, rechtfertigte er sich lange danach. „Seine Karriere ist eng mit der Rassenideologie der Nazis verknüpft“, begründete Karljosef Kreter, Leiter des Bereichs Erinnerungskultur der Stadt Hannover, in der HAZ den Beschluss, den erst 1991 nach Konrad Lorenz umbenannten Platz erneut umzubenennen. Er habe sich an nationalsozialistischen Propagandabegriffen wie der „Ausmerzung“ und „Auslese“ von Rassen orientiert.
„paradiesische Kindheit in einem zauberschlossartigen Gebäude“
Diese Anschauungen seien ihm in die Wiege gelegt, erklärte Lorenz später: „Ich bin durch Vererbung von Eugenik besessen.“ Gemeint ist sein Vater, der weltberühmte Orthopäde Adolf Lorenz, der als Verfechter von „Erbgesundheit“ für „die Sterilisierung weiblicher und männlicher Idioten, Gewohnheitsverbrecher und Trinker“ stritt. Er war fast 50 – und seine Frau 41 – als Konrad 1903 in der elterlichen Villa in Altenberg bei Wien geboren wurde. Biographen schreiben von einem herrisch-unnahbaren Vater und einer hysterisch-gefühlsarmen Mutter, einer „paradiesischen Kindheit in einem zauberschlossartigen Gebäude“, „umgeben von Luxus“, einem „Kometenschweif von Bediensteten“ und „jeder Menge Tiere“. Grenzenlose Verwöhnung und ein irreparables Defizit an emotionaler Geborgenheit hätten ihn geschädigt und zeitlebens die Welt durch die Augen eines „extrem verwöhnten Kindes“ sehen lassen. Mit seiner späteren Frau Gretl – sie kannten sich seit seinem dritten Lebensjahr – spielte der kleine Konrad Dinosaurier im elterlichen Park. Als Schwanz zog er einen Gartenschlauch hinter sich her. Ein „kindhafter Spieltrieb“ sei ihm auch als Wissenschaftler eigen geblieben. Als Ärztin gab ihm Gretl später den finanziellen Rückhalt für seine Studien.
Der Kindheitsfreund Karl Poppers begann 1922 auf Wunsch seines Vaters ein Medizinstudium in New York, kehrte jedoch schon ein Jahr später nach Wien zurück, wo er 1928 promovierte, dann als Assistent am II. Anatomischen Institut der Universität beschäftigt war und 1933 eine zweite Promotion ablegte. Danach beginnt er als Privatgelehrter seine tierischen Studien zu professionalisieren: Zeitweise hielt Lorenz in Altenberg 100 Dohlen, 20 Kolkraben, 32 Nacht- und 15 Seidenreiher sowie dutzendweise Enten, Graugänse und ein paar Hunde, gar nicht zu reden von den vielen hundert Fischen in zahlreichen Aquarien. Unablässig und mit spitzgeschliffener Neugier beobachtete er vor allem das Verhalten der Gänse, lebte schnatternd unter ihnen, schwamm mit ihnen an der Spitze ihrer familiären Geleitzüge und ließ manche sogar, nach menschlichen Maßstäben sicher etwas taktlos, unter der Daunendecke bei sich im Bett schlafen. 1936 habilitiert, erhielt er 1938 ein Forschungsstipendium.
Am 28. Juni 1938 stellte er, was er bis zu seinem Tode abstritt, handschriftlich sein Ansuchen auf Mitgliedschaft in der NSDAP. „Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist“, beteuert er darin. 1940 erhielt er eine Professur für Psychologie in Königsberg. Aus der Berufungsakte geht hervor, dass er schon kurz nach seinem Beitritt „Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes RPA der NSDAP mit Redeerlaubnis“ war. In Aufsätzen beklagte der Biologe etwa die „Verhausschweinung“ des Menschen und verglich die „überzivilisierten Menschen“ der Großstädte mit ihren „Mopsköpfen“ und „Hängebäuchen“ mit überzüchteten Haustieren.
Der gleiche Prozess von Domestikation und Niedergang treffe auch auf den labilen, entwurzelten Stadtmenschen zu, weshalb – ganz im Duktus Spenglers – „die Zivilisation sich in einem Prozess des ‚Verfalls und Untergangs‘ befinde“, die zunehmende Domestikation des Menschen seine Menschlichkeit bedrohe. „Wie die Zellen einer bösartigen Geschwulst“ durchdrängen die „mit Ausfällen behafteten Elemente“ den „Volkskörper“, erreichten mit ihrem „moralischen Schwachsinn eine sehr viel höhere Fortpflanzungsquote als Vollwertige“ und raubten ihnen den Lebensraum, erläuterte Lorenz in seiner „Domestikations-Arbeit“ von 1940. Da helfe nur „ein Rassepfleger“, der „auf eine noch schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger bedacht“ sei.
„Übereinstimmungen zwischen Psychoanalyse und Verhaltensphysiologie“
Bereits nach einem Jahr wurde er als Soldat zur Wehrmacht eingezogen, als Heerespsychologe einge- und ab 1942 als Militärarzt in ein Lazarett in Posen versetzt, wo ihm bis heute nicht völlig geklärte Aufgaben übertragen wurden. Er selbst hat sich über diese Zeit nie geäußert. Belegt ist lediglich seine Mitarbeit an einer rassekundlichen „Studie“ im Rahmen des Arbeitskreises „Eignungsforschung“. Dabei sollten 877 im „Reichsgau Wartheland“ lebende Menschen auf ihre „erbbiologische“ Eignung hin untersucht werden, weiterhin in ihrer Heimat verbleiben zu dürfen – mit dem Ziel, eine Beziehung zwischen Charaktereigenschaften und „völkischem Blutanteil“ nachzuweisen. 1944 wurde Lorenz an die Ostfront versetzt, geriet in Kriegsgefangenschaft, wo er als verbürgt heroische Leitfigur wirkte, die zahllosen Kameraden das Leben gerettet hat, und wurde 1948 nach Österreich entlassen.
Hier gründete der Enthusiast zunächst ein „Institut für vergleichende Verhaltensforschung“, das zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften gehörte, und veröffentlicht zur Finanzierung seines Lebensunterhalts sein bis heute populäres Buch „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“, das in die engere Auswahl um das „beste populäre Wissenschaftsbuch aller Zeiten“ kam. Nachdem 1950 eine Professur in Graz scheiterte, richtete die deutsche Max-Planck-Gesellschaft in Buldern für ihn eine „Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung“ als Außenstelle des Max-Planck-Instituts für Meeresbiologie Wilhelmshaven ein. Fünf Jahre später begann der Bau der legendären „Seewiesen“: Das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie am Eßsee in Oberbayern. Dort wurde Lorenz 1961 Direktor. Viele von ihm geprägte Begriffe wie Triebstau, Auslöser oder Instinkt wurden in dieser Zeit definiert, das Forschungsfach internationalisiert. In Münster und München wurden ihm zwei Honorarprofessuren zuteil.
Bis in die siebziger Jahre setzte er seine Arbeit fort und erregte immer wieder Aufsehen mit vehementer Zivilisationskritik, die den fortschreitenden Werteverlust des Industriezeitalters anprangerte. Er wurde weit über die Grenzen seines Fachgebietes hinaus bekannt, als er seine Studien in unterhaltsame und anekdotenreiche Tiergeschichten verpackte und damit auch für naturwissenschaftliche Laien, ja sogar für Kinder zugänglich machte. Auch seine drei Hauptwerke fielen in diese Zeit. Geprägt sind diese Schriften von seiner kulturpessimistischen Überzeugung, dass auch das Verhalten des Menschen weitgehend durch biologische, stammesgeschichtliche Vorgaben bestimmt wird.
Im Jahr 1963 erschien zunächst sein Bestseller „Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression“, das ein schlechtes Licht auf den Menschen warf. In aller Ausführlichkeit schloss Lorenz hier von der Gans aufs Ganze: Der menschliche Geist, so sein provozierender Befund, sei nicht frei, sondern gekettet an ein ererbtes Instinkt-Programm. Damit griff er seine seit den 30er Jahren entwickelte Instinktlehre wieder auf. „Diskussionen von Freuds Trieblehre ergaben unerwartete Übereinstimmungen zwischen den Ergebnissen der Psychoanalyse und der Verhaltensphysiologie“, sagte er später. So meint er, dass Sport als phylogenetisch entstandener „Kommentkampf“ die gemeinschaftsschädigenden Wirkungen der Aggression mildert und damit arterhaltend wirkt.
Für Lorenz begann mit der Veröffentlichung ein neuer Lebensabschnitt als ums Wohl der Menschheit besorgten Predigers, ja als internationale Kultfigur. Das bedrohliche Missverhältnis zwischen ererbten Sicht- und Handlungsbeschränkungen und geistigen Höhenflügen war fortan sein Lebensthema. Die Diskrepanz zwischen menschlichem Geist und natürlicher Veranlagung gipfelte in der Pointe, das „blöde Vieh“ Mensch sei „mit seinem Gehirn im Stande, sich selbst und alle anderen auszurotten“.
„Grundmuster faschistischer Menschenverachtung“
Im Jahr der Nobelpreisverleihung folgten zwei weitere Bestseller. In „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“, das bis 2009 als Taschenbuch 34 Auflagen erlebte, analysiert er „Vorgänge der Dehumanisierung“. So geißelte er neben der „Überbevölkerung“ und der „Verwüstung des natürlichen Lebensraums“ Hedonismus, Traditionsverlust und den „genetischen Verfall“, den für ihn unter anderem die wachsende Jugendkriminalität indiziert. Lorenz wich allerdings der Frage aus, wie sich denn der Zivilisationsmensch von seiner offenbar destruktiven Erblast befreien könnte, ja, ob er dazu überhaupt in der Lage wäre. Zur Bevölkerungsentwicklung ergänzte er 1988: „Es zeigt sich, dass die ethischen Menschen nicht so viele Kinder haben und die Gangster sich unbegrenzt und sorglos weiter reproduzieren.“ „Grundmuster faschistischer Menschenverachtung“, ja „Ungeheuerlichkeiten“ hätten sich abgezeichnet, klagte nach seinem Tod sein Schüler Norbert Bischof, der den Text redigierte.
In seinem Hauptwerk „Die Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“ erörtert Lorenz das Zusammenspiel von genetischen und zivilisatorischen Einflüssen auf das Erkenntnisvermögen des Menschen; er hatte es bereits im Krieg angelegt. „Wie galvanisierte Ganter zuckten vor allem die Soziologen und die Psychologen auf, als Lorenz mit der These hervortrat, Kulturgeschichte sei nichts anderes als die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln: Der menschliche Geist sei das Ergebnis eines langen Prozesses von Auslese und Anpassung, die Fähigkeit des Menschen zu intelligentem Verhalten und wissenschaftlich-rationaler Erforschung der Natur eine stammesgeschichtliche Erwerbung“, fasste der SPIEGEL das Buch zusammen.
Sprachstruktur, begriffliches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen sowie der Sinn für kausale und zeitliche Zusammenhänge – all diese Grundlagen jedweden exakten Wissens hielt Lorenz für eine Art „Vorweg“-Information über die Struktur der Umwelt, die im Laufe erdgeschichtlicher Zeiträume in die Erbmasse der höheren Arten eingegangen sei. Inzwischen hat die moderne Psychologie diese Hypothesen vom Erbwissen in manchem bestätigt. Bei Säuglingen beispielsweise stellten die Experten unmittelbar nach der Geburt stereotype Bewegungen fest, die darauf schließen lassen, dass Neugeborene über ein räumliches Vorstellungsvermögen verfügen.
„Wird die Metaphysik dem Menschen gleichsam in die Wiege gelegt“, fragt sich der SPIEGEL fast entsetzt. Für die in den Geisteswissenschaften beliebte scharfe Grenzziehung zwischen Stammesgeschichte und Kultur hat Lorenz nur Hohn. Die Herrschaften, meint er, möchten eben gern, dass alle „feineren Strukturen des sozialen Verhaltens“ kulturbedingt seien, das sogenannte Niedrige hingegen auf „instinktiven Reaktionen“ beruhe. Lorenz jedenfalls glaubte etwa in der Balz des Graugänserichs das alberne Werbegebaren des Menschenmännchens um die Frau wiederzuerkennen.
Zunehmend an Umweltfragen interessiert, wurde Lorenz unmittelbar vor seinem 75. Geburtstag zur Galionsfigur der erfolgreichen österreichischen Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf. 1985 war er zudem Namensgeber des Konrad-Lorenz-Volksbegehrens gegen den Bau eines Wasserkraftwerks im Landschaftsschutzgebiet der Hainburger Auen und gilt damit als „nationales Gewissen“ Österreichs. Am Ende war er ein hoch umstrittener Wertkonservativer, der aber wesentlichen Anteil an der Entstehung der grünen Partei in Österreich hatte. 1988 erschien dann sein letztes großes Werk: „Hier bin ich – wo bist du?“, eine genaue ethologische Beschreibung von Graugänsen als Zusammenschau von rund 60 Jahren intensiver Verhaltensbeobachtung. Damit schloss sich der Lebenskreis des genialen Tier- und Menschenbeobachters: „Die Graugans ist mir das liebste aller Tiere“, schrieb er noch 1988.
Noch im fortgeschrittenen Alter gefiel er sich in bubenhaften Despektierlichkeiten, indem er etwa die „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ als eine von „Naturforzern und Ärschen“ veralberte. Selbst in seiner letzten Stunde, so berichtet Biograph Norbert Bischof, sei der 85jährige kauzig gewesen: „Sie stören mich“, blaffte er eine Krankenschwester an, „Sie sehen doch, ich bin beim Sterben.“ Dann starb er, am 27. Februar 1989 in Wien. Am Ende bleibt das Kaleidoskop einer vielschichtigen und widersprüchlichen Persönlichkeit. Als bahnbrechender Wissenschaftler, mutiger Mahner und Grünengründer gilt er den einen, als schlichter Biologist, noch dazu einer mit NS-Vergangenheit, den anderen. Dazwischen scheint je nach Perspektive zunehmend mehr oder weniger Platz zu sein.