„Ein ganz großer, genialer Wurf“
22. April 2019 von Thomas Hartung
Er sagt: „Ich war kein Nazi, aber auch kein Kämpfer gegen die Nazis.“ Er sagt: „Ich bin aus tiefster Seele Philosemit.“ Er sagt: „Ich wäre erledigt gewesen, wenn ich mich geweigert hätte.“ Die Zeit: Frühjahr 1949. Der Ort: das Hamburger Schwurgericht. Der Angeklagte: Veit Harlan. Als einziger Künstler aus der NS-Zeit wird er „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ beschuldigt. Er denkt und redet wie viele andere Nachkriegsdeutsche auch – und hat doch den antisemitischen Hetzfilm „Jud Süß“ gedreht. Der bis zuletzt umstrittene Regisseur wurde vor 70 Jahren freigesprochen.
Geboren am 22. September 1899 als Sohn des Bühnenschriftstellers Walter Harlan in Berlin, wuchs er mit sechs Geschwistern in einer kulturaffinen Familie auf. Die Tochter seines jüngeren Bruders Fritz heiratete US-Kultregisseur Stanley Kubrick („Odyssee im Weltraum“). Nach einer Silberschmiedlehre und Schauspielunterricht am Seminar von Max Reinhardt steht Harlan zum ersten Mal 1915 auf der Bühne. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Kriegsfreiwilliger an der Westfront verbrachte, und einem Schauspiel-Volontariat an der Berliner Volksbühne sammelte er Provinzerfahrungen, darunter am Landestheater Meiningen, und übernahm erste Rollen im Film. 1922 heiratete er die jüdische Sängerin Dora Gerson, von der er sich bereits nach zwei Jahren scheiden ließ und die 1943 einen hilfesuchenden Bittbrief an ihn schrieb, bevor sie im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Den beantwortete er nicht, benutzte Dora später aber als Argument gegen den Vorwurf, Antisemit zu sein.
1929 heiratete er in zweiter Ehe die Schauspielerin Hilde Körber, mit der er bis zur Scheidung neun Jahre später drei Kinder hatte. Im März 1933 bekannte sich Harlan in einem Interview mit dem Völkischen Beobachter zur Politik der Nationalsozialisten. Nach seinem erfolgreichen Debüt als Regisseur mit „Krach im Hinterhaus“ wechselt er ganz ins Filmgeschäft und sorgt 1937 mit der Verfilmung von Tolstois „Kreutzersonate“ für einen Kassenerfolg. Sein Film „Jugend“ ist das Deutschlanddebüt der schwedischen Schauspielerin Kristina Söderbaum, die seine Geliebte und 1939 seine dritte Frau wird und künftig in fast allen seinen Filmen auftritt. Sie beging so viele Leinwandsuizide in Mooren oder Seen, dass sie der Volksmund „Reichswasserleiche“ nannte. Mit ihr hat er zwei weitere Kinder.
„im Dienste unserer geistigen Kriegführung“
Nach der mit dem „Nationalen Filmpreis“ ausgezeichneten propagandistischen Hauptmann-Adaption „Der Herrscher“ wird Joseph Goebbels auf Harlan aufmerksam; er erhält den Auftrag für „Jud Süß“. Der kommt im September 1940 in die deutschen Kinos, wo er 20 Millionen Zuschauer fand und noch einmal 20 Millionen in Europa. Er gilt heute als „Film zur Endlösung“, denn die vom realen Schicksal des Joseph Süß Oppenheimer inspirierte Geschichte hatte einzig das Ziel, Antisemitismus zu fördern und zu stärken, damit die Demütigungen, die Deportationen und die industrielle Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ungestört weiterlaufen konnten.
1942 glorifiziert Harlan mit dem monumentalen Heldenepos „Der große König“ über Friedrich II. Patriotismus, Pflichterfüllung und nationale Opferbereitschaft. Im selben Jahr gelingt ihm mit dem Blut-und-Boden-Melodram „Die goldene Stadt“ ein weiterer Kassenschlager. Seitdem durfte er seine Filme im teuren und aufwendigen Agfacolor drehen, das bis Kriegsende nur für Propaganda- und militärische Zwecke verfügbar war, was seinen Status unterstreicht. 1943 erhielt Harlan zum 25-jährigen Ufa-Jubiläum den Professorentitel.
Nach der Storm-Verfilmung „Immensee“ und dem Melodram „Opfergang“ dreht Harlan den Durchhaltefilm „Kolberg“ mit einem dringenden Appell, den Kampf bis zum Ende zu führen. Dieser Film ist mit 8,5 Millionen Reichsmark Kosten der bis dahin teuerste der deutschen Filmgeschichte. „Ich ermächtige Sie, alle Dienststellen von Wehrmacht, Staat und Partei, soweit erforderlich, um ihre Hilfe und Unterstützung zu bitten und sich dabei darauf zu berufen, dass der hiermit von mir angeordnete Film im Dienste unserer geistigen Kriegführung steht“, schreibt Goebbels dem Regisseur, der einen gigantischen Menschen- und Materialaufwand betreibt. Er ist der letzte Film, der mit dem Prädikat „Film der Nation“ ausgezeichnet wurde, und gehört heute wie „Jud Süß“ und „Der Herrscher“ zu den sog. „Vorbehaltsfilmen“, die nur unter strengen Auflagen der Murnau-Stiftung gezeigt werden dürfen.
„Ich freue mich darüber“
Als er sich nach Kriegsende in Richtung Hamburg absetzte, erhielt er eine sogenannte Unbedenklichkeitserklärung und wurde als „politisch unbelastet“ eingestuft. Das blieb nicht lange verborgen. Auf Antrag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wurde Harlan nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 der „Beihilfe zur Verfolgung“ angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, durch „Jud Süss“ als psychologischer Wegbereiter des Holocaust gewirkt zu haben und somit eine Mitschuld an der Judenvernichtung zu tragen. Den Einsatzkommandos in Osteuropa wurde vor ihren Erschießungsaktionen der Kinostreifen ebenso vorgeführt wie den Wachmannschaften der SS in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Der reale Oppenheimer war Opfer eines Justizmordes im 18. Jahrhundert. Ihm gelang der Aufstieg vom Kaufmann aus dem jüdischen Ghetto zum engsten Finanzberater des Herzogs Karl Alexander von Württemberg. Als der starb, wurde sein Finanzier unter falschen Anschuldigungen vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete unter anderem Hochverrat, Schändung der protestantischen Religion und Vergewaltigung einer 14-Jährigen. 1738 wurde Oppenheimer zum Tode verurteilt und gehenkt, sein Leichnam sechs Jahre lang in einem Käfig zur Schau gestellt.
Nach dem Studium noch vorhandener Drehbuchfassungen ist davon auszugehen, dass die Grundlage des Films von 1940 die gleichnamige Novelle von Wilhelm Hauff war – Harlan hat zeitlebens bestritten, Lion Feuchtwangers Version des Stoffs gekannt zu haben. Dessen Verdacht, der Film basiere auf seinem Roman, mag daher rühren, dass sieben Schauspieler schon in dem gleichnamigen Theaterstück auf der Bühne gestanden hatten. Und die schrieb er in einem offenen Brief 1941 persönlich an: „Sie haben, meine Herren, aus meinem Roman ‚Jud Süß‘ mit Hinzufügung von ein bisschen ‚Tosca‘ einen wüst antisemitischen Hetzfilm im Sinne Streichers und seines ‚Stürmers‘ gemacht“.
Der handwerklich hervorragend gestaltete Streifen spielt virtuos mit kollektiven Ressentiments und verbotenen Gelüsten und bündelt alle Klischees, die Juden seit Jahrhunderten angehaftet wurden. Wenn das Licht wieder anging im Saal, waren die Gesichter vieler Zuschauer hassverzerrt. In manchen Städten kam es nach Vorstellungen zu anti-jüdischen Ausschreitungen. Beim Auschwitz-Prozess schilderten KZ-Überlebende, wie nach der Vorführung Hunde auf Gefangene gehetzt wurden. „Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können. Ich freue mich darüber“, schrieb Goebbels in seinem Tagebuch.
Der aber habe ihn gezwungen, quasi zwangsverpflichtet, den Film zu drehen, behauptet Harlan. Es gelang ihm, sich als unpolitischen Künstler darzustellen: „Meine Partei ist die Kunst.“ Für große Teile der Bevölkerung wurde er zur Symbolfigur. Zeugen, die gegen Harlan aussagten, wurden als „Judensau“ und „Kommunistenschwein“ beleidigt. Vor Gericht betonte Harlan, er sei nur untergeordnet tätig gewesen und habe die endgültige Schnittfassung nicht verantwortet. Er hielt sich im Sinne der Anklage, die ihm die Gesamtverantwortung unterstellt, für nicht schuldig.
Nach 52 Tagen und zahllosen Zeugenvernehmungen wurde am 23. April 1949 das Urteil verkündet und den Belastungszeugen das Belastende abgesprochen. Im Falle des Kronzeugen Norbert Wollheim etwa, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde der britischen Zone, hieß es: „Die Angst der Juden vor dem Film ist lediglich auf die aufreizende Reklame zurückzuführen, nicht aber auf den Film selbst, dessen so milde Form die Juden als eine Erleichterung empfunden haben“, so der Vorsitzende Richter Walter Tyrolf in seiner Begründung für Harlans Freispruch. Eine strafrechtlich relevante Kausalität zwischen Film und Völkermord sei nicht beweisbar. Harlan-Anhänger tragen ihn auf den Schultern aus dem Gerichtssaal.
„Man hat alles auf ihn geschoben“
Die Staatsanwaltschaft ging in Revision. Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone in Köln hob das Urteil auf. In einem weiteren Prozess vor dem Landgericht Hamburg führte Harlan aus, dass seine Weigerung, den Film zu machen, ihn in eine bedrohliche Lage gebracht hätte. Das Gericht folgte dieser Argumentation, erklärte gar einen „Befehlsnotstand“ und sprach Harlan am 29. April 1950 erneut frei. Richter Walter Tyrolf war während der NS-Zeit Staatsanwalt am Sondergericht Hamburg und hatte in mehreren Bagatellfällen wie leichtem Diebstahl und „Rassenschande“ für die Todesstrafe plädiert, die auch vollstreckt wurde. Auch er hatte nach dem Krieg eine Unbedenklichkeitserklärung erhalten und wurde unter anderem Vorsitzender Richter im Hamburger Euthanasieprozeß, der fast zeitgleich zum Harlan-Verfahren lief.
Harlan war keineswegs der dämonische Verbrecher, für den ihn Teile der Öffentlichkeit hielten. Und er war nie Mitglied der NSDAP, obwohl er sich zum Nationalsozialismus bekannt hatte. „Nach dem damaligen Kontrollratsgesetz hätte man Harlan verurteilen müssen“, sagt der Hamburger Filmkritiker und Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt 1999 dem Hamburger Abendblatt, „wobei eine ganz große Ungerechtigkeit darin besteht, dass man ihn sich alleine rausgesucht hat. Der Prozess war – rückblickend gesehen – eine Alibiveranstaltung. Man hat alles auf ihn geschoben.“ „Die Welt ist rund. Eines Tages wird meine Frau wieder auf der Leinwand sein und ich neben der Kamera“, erklärt Harlan damals und behielt Recht.
Ein letztes Mal flackerte die juristische Diskussion 1951 auf. Als ihm mit „Unsterbliche Geliebte“ nach Theodor Storm sein Nachkriegs-Comeback als Regisseur gelingt, forderte der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth das deutsche Publikum auf, den Film zu boykottieren. In zwei Gerichtsverfahren wurde der Boykottaufruf als „sittenwidrig“ eingestuft, weswegen Zivilgerichte Unterlassungsverfügungen erließen. Während dieser Prozesse erklärte Harlan, dass „jede Art von Antisemitismus vom kulturellen, religiösen und moralischen Standpunkt abzulehnen“ sei. Gegen diese Gerichtsentscheide legte Lüth Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, das die Entscheidungen der Vorinstanzen in einer vielbeachteten und -zitierten Grundsatzentscheidung aufhob, dem später so genannten Lüth-Urteil, das die Meinungsfreiheit stärkt.
Harlan dreht dann noch mehrere Filme mit seiner Frau in den Hauptrollen, u.a. „Die blaue Stunde“ (1952), „Verrat an Deutschland“ (1954) oder „Das dritte Geschlecht“ (1957, auch „Anders als du und ich“). Dieser Film behandelte Probleme der Homosexualität und stieß nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in der Schweiz, wo seit dem Krieg noch kein Harlan-Film aufgeführt worden war, laufend auf Proteste; 1962 wurde er dort endgültig verboten. Am 13. April 1964 stirbt Veit Harlan während eines Urlaubs auf Capri an einer Lungenentzündung und wird dort auch begraben.
Schuld gesteht Harlan öffentlich nie ein. Auf dem Totenbett soll ihm sein Sohn Thomas, selbst Regisseur, ein Schuldgeständnis abgerungen haben. Er wird zum schärfsten Kritiker des Vaters und zeigt an dessen Beispiel, wohin in einer Diktatur Besessenheit, Karrierismus sowie menschenfeindlicher Ehrgeiz führen können, und nennt es Verantwortung der Geschichte gegenüber. Den Namen „Harlan“ trägt er wie ein Stigma – im Gegensatz zu anderen Verwandten wie etwa seine Schwester Maria. Die rund 70 Kino- und Fernsehrollen verkörpernde Schauspielerin legte auf Anraten ihrer Agentin den Familiennamen des Vaters ab und nahm den der Mutter „Körber“ an. Begraben ließ sie sich 2018 in Berlin unter dem Namen Kerzel – so hieß ihr zweiter Ehemann.
Der Regisseur Géza von Cziffra behauptete in seiner Autobiografie „Kauf dir einen bunten Luftballon“ elf Jahre nach Harlans Tod, dass für die Regie von „Jud Süß“ ursprünglich der Produktionschef der Terra-Film, Peter Paul Brauer, vorgesehen gewesen sei, der unter anderem Kollegen wie Heinz Rühmann wegen Kontakten zu Juden denunziert hatte. Doch Harlan habe durch Interventionen im Propagandaministerium erfolgreich dafür gekämpft, den Film inszenieren zu können. Der Beweis, dass diese Behauptung eine Falschaussage ist, steht bis heute aus.