„propagandistisches Architekturtheater“
6. Dezember 2020 von Thomas Hartung
Mit der „Thingbewegung“ startete das noch junge Dritte Reich ein kulturelles Großvorhaben. Der Name knüpfte an die historische Bezeichnung nordisch-germanischer Versammlungsplätze an, hatte damit allerdings wenig zu tun. Vielmehr ging es um ein umfassendes Theatererlebnis in freier Natur, das unter Bezug auf ein imaginäres Germanentum den Geist einer deutschen Volks- und Schicksalsgemeinschaft beschwor. Aufführungsorte waren eigens dafür angelegte Theater; Bergketten, Täler und der deutsche Wald gaben das natürliche Bühnenbild ab. Die Thing-Euphorie entfachte eine gigantische Masseninitiative: Errichtet aus Natursteinen, entstanden in ausgewählter Lage sogenannte Thingstätten – weltweit die größte Anzahl neu geschaffener Freilichtbühnen seit der Antike.
400 waren vom Propagandaministerium geplant, mit exakten Vorgaben: Ausgerichtet nach Norden und eingebettet in die Landschaft sollten die Zuschauerränge im Halbkreis ansteigen, durchzogen von breiten Treppen sowie Quergängen für Auf- und Abmärsche. Häufig gab es noch einen vorgelagerten Aufmarschplatz sowie ein Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Neben dem offiziellen Bauprogramm sprühten NS-Funktionäre auf Gemeindeebene vor Eigeninitiative. Ca. 60 existieren so oder so heute noch – die Bad Segeberger Karl-May-Bühne ist sicher die bedeutendste, die Berliner „Waldbühne“ wohl die bekannteste.
Die Geschichte der Thingbewegung beschreibt der Historiker Gerwin Strobl als Coup von vier Theaterenthusiasten, die mit den Nationalsozialisten ursprünglich nichts am Hut hatten, sondern lediglich die Gunst der Stunde nutzten, um gemeinsam einer Idee zum Durchbruch zu verhelfen, die schon aus Weimarer Tagen stammte: Alle vier wollten das Freilichtspiel als „Volkstheater“ wiederbeleben. Neben dem Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard und dem Schriftsteller Hans Brandenburg muss Wilhelm Karl Gerst als zeitgeschichtlich sicher namhaftester unter den vieren gelten. Der Architekt, Theatermacher und Begründer des Katholischen Bühnenvolksbundes war nach Kriegsende Mitbegründer der „Frankfurter Rundschau“.
Und da war noch Carl Niessen – der Theaterwissenschaftler ist Schöpfer des Ausdrucks „Thingspiel“, das Festspiel und Kundgebung in einem sein sollte: Thingspiele sollten hauptsächlich ein emotionales und ethisches Aufgehen des Einzelnen in Heimat und Volksgemeinschaft erleben lassen. Die Bezeichnung „Thing“ wurde von der Jugendbewegung übernommen; einige Jugendbünde (Pfadfinder, Quickborn und andere) hatten Versammlungen so bezeichnet. Der Begriff wurde, obwohl nur von 1933 bis 1936 mit Leben erfüllt, später als der bedeutendste Beitrag bezeichnet, den das 3. Reich zur Kunstform des Theaters und der Literatur leistete und der im Vergleich der Konfigurationen zum Arbeitermassenspiel zu einer Körpergeschichte sozialer Bewegungen einerseits, ja einem „propagandistischen Architekturtheater“ andererseits führte. Am 7. Dezember vor 130 Jahren kam Niessen in Köln als Sohn eines Hotelbesitzers zur Welt.
Mitbegründer der „Rheinischen Landesbühne“
Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt außer dass er, wie viele begüterte Einzelkinder jener Zeit, eher ästhetisch denn körperlich aktiv aufwuchs und in Köln das Realgymnasium besuchte. Er studierte dann Kunst- und Kulturgeschichte in Heidelberg, Bonn, München, Berlin und schließlich Rostock, wo er 1913 promovierte. Im Mai 1914 gründete er eine Bühne in Oberhausen und bespielt mit seinem Ensemble außerdem eine von ihm ins Leben gerufene Freilichtbühne. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 endet dieses erste Engagement, er leistet als Freiwilliger Kriegsdienst, zuletzt als Leutnant der Reserve.
1919 erfolgte seine Habilitation für deutsche Literatur und Theatergeschichte an der Universität Köln, wo er bis 1929 als Privatdozent, bis 1938 als apl. Professor lehrte. An theaterwissenschaftlichen und -praktischen Aufgaben gleichermaßen interessiert, wirkte er in verschiedenen kulturpolitischen Gremien und zeitweise in der Theaterpraxis selbst. Während des Studiums und in den ersten Jahren seiner Privatdozententätigkeit war er an Bühnen in Köln, Wuppertal, Beuthen, Koblenz, Siegburg und Antwerpen als Schauspieler und Regisseur engagiert. Regen Anteil nahm er nach dem 1. Weltkrieg an der Schaffung von staatlich geförderten Volksbildungseinrichtungen wie Wanderbühnen: Die Gründung der „Rheinischen Landesbühne“ 1920 mit Sitz in Düren ist wesentlich auf seine Initiative zurückzuführen.
Mit Nachdruck setzte sich Niessen für die Erhaltung bzw. Wiederbelebung des rheinischen Puppenspiels ein, insbesondere für die Rettung des Kölner „Hänneschen-Theaters“. Auf zahlreichen Auslandsreisen erwarb er wesentliche Teile seiner Bibliothek und einer Sammlung von Bilddokumenten, Modellen, Masken, Porzellanen u. a. zur Geschichte des Theaters, die rasch als eine der größten Privatsammlungen dieser Art galt und internationalen Ruf erlangte. Vereinigt mit universitätseigenen Beständen, wurde die Sammlung schon 1927 auf der „Deutschen Theaterausstellung“ in Magdeburg gezeigt, 1932 fand eine erste Ausstellung mit Zeugnissen zur Weltgeschichte des Theaters in eigenen Museumsräumen in Köln statt.
Seine Bekanntschaft mit Gerst, der 1931 den „Reichsausschuss für deutsche Volksschauspiele“ organisierte und viele Theaterautoren wie Ödön von Horvath oder Carl Zuckmayer zur Mitarbeit gewann, führte ihn dann kurzzeitig ins Zentrum der Macht. Gerst hatte nach der Wirtschaftskrise, die auch viele Theaterleute in Existenznöte brachte, ein neues Medienformat gesucht, bei dem sie gemeinsam mit Laien dramatisches Geschehen öffentlich gestalten sollten. Nach dem Vorbild von Schillers „Schaubühne als moralische Anstalt“ sollte das gemeinsam gestaltete und erlebte dramatische Geschehen alle Teilnehmer (auf der Bühne, dahinter und davor) emotional, moralisch und politisch einen, ihre Gesinnung festigen, ja sogar umstimmen.
Am 22. Dezember 1932 gründeten die vier Enthusiasten den „Reichsbund zur Förderung der Freilichtspiele“, der als Verein sieben Tage vor der Machtergreifung ins Vereinsregister eingetragen wurde. Nach der Machtergreifung sorgte der Schauspieler und NS-Funktionär Otto Laubinger, späterer Präsident der Reichstheaterkammer, dafür, dass der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda die junge Vereinigung anerkannte. Damit war der Reichsbund einerseits unter den Schutz von Goebbels gestellt, andererseits aber dessen Einfluss ausgesetzt.
sozialistische Vorwärtsbewegung
Niessens Schrift Thingplätze als Spielplätze der Nation (1934) bildete die Grundlage des „Thingspiels“, dessen Idee sich aus vielerlei Quellen speiste. In den zwanziger Jahren inszenierte die sozialistische Bewegung Arbeitermassenspiele von neuartiger Qualität. Hunderte oder Tausende von Akteuren traten mit Zehntausenden von Zuschauern über Sprechchöre und Bewegungschöre in Interaktion. Sie wurden als „Massenspiele“, „Festspiele“ oder auch – mit quasi-religiösen Untertönen – als „Weihespiele“ bezeichnet, waren häufig mit der Freidenkerbewegung verbunden und thematisierten im Schnittfeld zwischen Massengymnastik, Agitpropgruppen und „proletarischer Feierkultur“ die Richtung der sozialistischen „Vorwärtsbewegung“ über den Sturz der kapitalistischen Verhältnisse hin zum Sieg allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Anregungen kamen vom jugendbewegten Laienspiel, teils von den Massenspielen des sowjetischen Proletkults und vom expressionistischen Revolutionstheater. Thematisch inszenierten sie etwa den Spartakus-Aufstand im alten Rom, den deutschen Bauernkrieg und die Französische Revolution, später mehr symbolisch-abstrakte Kämpfe um Krieg und Frieden. Im Massenspiel „Flammende Zeit“, das 1929 in Magdeburg mit tausend Statisten auf einer Naturbühne vor Zehntausenden von Zuschauern stattfand, hieß es etwa
„Wer den wuchtigen Hammer schwingt
Wer im Felde mäht die Ähren
Wer ins Mark der Erde dringt
Weib und Kinder zu ernähren (…)
Jedem Ehre – jedem Preis
Ehre jeder Hand voll Schwielen
Ehre jedem Tropfen Schweiß
Der in Hütten fiel und Mühlen (…)
Der französische Publizist Stefan Priarcel kennzeichnete in Les Nouvelles Littéraires die gewissermaßen „energetische“ Ausstrahlung solcher Spiele: „Glaube … Rhythmus … Disziplin … all dies löst einen Kraftstrom aus, dem gegenüber niemand unempfindlich bleiben kann“. Die Stimmung des Massenspiels war eine Energie oder Ausstrahlung, die allein über räumliche und zeitliche Kategorien nicht erfasst werden kann, meint der dänische Soziologe Henning Eichberg, weswegen sie analytisch schwerer greifbar sei und unterschiedlich erlebt und interpretiert werden könne. „Oft wurde sie als rauschhaft und als Begeisterung beschrieben. Die Atmosphäre des Festspiels kam im Gemeinschaftsgesang zum Ausdruck, in Musik, Sprechchor und Sprechbewegungschor. Durch das Massenspiel geschah Gefühlsbildung. Diese Gefühle waren typisch von ‚religiöser‘ Ernsthaftigkeit. Das Massenspiel war kein Ort des Lachens.“
Unter dem Begriff „Thingspiel“ fasste Niessen nun alle Initiativen zusammen, die Festspiele in Stadien und den neu eingerichteten Freilichtbühnen arrangierten, um die „nationale Revolution“ zu feiern. Federführend war innerhalb der nazistischen Kulturpolitik die eher dem Expressionismus zuneigende Gruppe um Joseph Goebbels, während die mehr völkische Gruppe um Alfred Rosenberg sich kritisch bis abweisend verhielt. Sie bemühte sich um die Etablierung konkurrierender, mehr archaisierender „Thingstätten“. Ein dritter Akteur in dieser Konkurrenz wurde die Organisation „Kraft durch Freude“ unter dem DAF-Führer Robert Ley, die sogenannte „Werkspiele“ veranstaltete und für jedwedes Ereignis Zuschauer und Beteiligte in Bataillonsstärke garantieren konnte.
Neben und zwischen diesen Fraktionen gab es ferner die Laienspiele und „Spielscharen“, die sich um HJ, SA und im „Reichsbund Volkstum und Heimat“ unter dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß sammelten; dieser Reichsbund wurde später als „Amt Volkstum und Heimat“ der KdF untergeordnet. Die Dimension der Spiele lag zum Teil bei 3000 Akteuren und 60.000 Zuschauern. Sogar einige Verfasser sozialistischer Festspiele begaben sich auf dieses neue Feld und steuerten Texte mit Untertönen sozialer Erweckung bei. Als Thema kristallisierte sich nun die jüngere deutsche Geschichte heraus, besonders die „Schmachgeschichte“ seit 1918.
chorische Massentheaterstücke
Gezeigt wurde, wie „das Volk“ (vorgestellt wie der Chor im altgriechischen Theater) politisch „handelte“. Nur wenige Spieler hatten Einzelrollen, darunter die Chorführer – man kann, im Gegensatz zu dem von den Nationalsozialisten verfemten linksliberalen Elitentheater, von chorisch-patriotischen Massentheaterstücken sprechen: Mythos, Heroismus und ein völkisches Gemeinschaftserlebnis unter freiem Himmel. „Thingspiele waren eine Mischung aus Tanz, Gesang, Dichtung und Laienspiel, stilistisch zwischen expressionistischer Bühnenkunst, mittelalterlichem Mysterienspiel und Nürnberger Parteitag“, erkannte Solveig Grothe im Spiegel. Selbst die Anreise war durchdacht, Straßen und neue Bahnhöfe wurden entsprechend geplant, weiß sie: „Der gemeinsame Weg hinauf zur Thingstätte als Teil der Inszenierung sollte das Gefühl der gemeinsamen Herkunft und Zusammengehörigkeit vermitteln.“
Bei der örtlichen Bevölkerung und auch innerhalb der NSADP konnte sich der beabsichtigte Thing-Kult jedoch nicht durchsetzen. Zum einen stockten viele Bauvorhaben, zum anderen kamen die gezeigten Stücke nicht an. Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Röhm-Putschs die politische Entwicklung der NSDAP und damit des Reichs in eine neue Phase eingetreten war: Die sozialistische Komponente wurde schwächer, die nationalistische nahm zu.
Propagandaminister Goebbels sah in Film und Radio wesentlich bessere Möglichkeiten der Massenbeeinflussung als in den ideologisch plakativ überladenen Thingspielen und setzte von nun an wieder auf die herkömmlichen Muster der faschistischen Parade und der Reichsparteitage einerseits – und auf den „unpolitischen“ Unterhaltungsfilm andererseits: „Diese Formen erforderten nicht mehr Spontaneität und Mitwirkung von unten, sondern entweder quasimilitärische Organisation von oben oder Konsumverhalten“, meint Eichberg.
Goebbels erkannte auch, dass Veranstaltungen der „Bewegung“ eher schadeten, wenn sie als Kult durchschaut wurden. Die in Heidelberg als Thingstätte geplante Anlage wurde nach Fertigstellung nur noch als Feierstätte bezeichnet, was auf ein Verbot des Begriffes Thing durch Goebbels 1935 zurückzuführen ist. Von da an hießen sie auch Weihestätte oder Freilichtbühne. Ohne die Förderung durch die Partei führten Thingspiele von da an nur noch ein Schattendasein bei der Hitlerjugend und in eher sektiererischen Splittergruppen innerhalb der NSDAP wie den Artamanen. Das bekannteste und meistgespielte Thingspiel war das Frankenburger Würfelspiel von Eberhard Wolfgang Möller, es wurde auch bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin aufgeführt.
Seit 1933 Truppführer der SA, wurde Niessen mit der Abspaltung des Fachs in eine selbständige, von der Literaturwissenschaft unabhängige Disziplin 1938 zum nichtbeamteten, außerordentlichen Professor für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln berufen – als erster in Deutschland. Er trat nachdrücklich für eine praxisorientierte wissenschaftliche Ausbildung ein und zählt hierzulande neben Max Herrmann und Artur Kutscher zu den Begründern der Disziplin. Warum er seine volkstheatralischen Ideen nicht weiterverfolgte, ist bis dato offen.
Wenngleich nicht Mitglied der NSDAP und deshalb gelegentlich der „politischen Unzuverlässigkeit“ geziehen, war er von der Reichstheaterkammer als „Dekan auf Lebenszeit“ einer Theaterakademie vorgesehen, die allerdings nie verwirklicht wurde. Er war neben seiner Tätigkeit als Institutsleiter Autor zahlreicher theaterwissenschaftlicher Fachbücher, darunter Die Schaubühne (1928) und An der Wiege des Hänneschen (1937) und schrieb für die Zeitschrift Musik im Kriege. Deutlich nationalistische Töne klingen in Publikationen wie Der Film, eine unabhängige deutsche Erfindung (1934) oder Theater im Kriege (1940) an.
Von der Euphorie zum Vergessen
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit nahtlos fort. Im Laufe der Zeit verbreiterte er die methodische Basis seiner Forschung durch die Integration von vergleichender Völkerkunde, Religions- und Kulturwissenschaft mit dem Ziel, eine allgemeine „Theorie des Mimus“ zu erstellen, wie er sie in seinem unvollendeten Hauptwerk, dem Handbuch der Theaterwissenschaft (3 Bde., 1949 – 1958) zu skizzieren versuchte.
Bis zu seiner Emeritierung 1959 veranstaltete er auch weitere Theaterausstellungen. 1955 erwarb die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die „Sammlung Niessen“, die heute einen Bestandteil des Theatermuseums der Universität in Porz-Wahn bildet. Den Erlös verwandte Niessen für eine Studienstiftung, die die Publikation wissenschaftlicher Arbeiten zu Theater, Film, Funk und Fernsehen unterstützt. Erst 1962 feierte er mit einer 24 Jahre jüngeren Schauspielerin Hochzeit und starb am 6. März 1969 in Troisdorf.
Niessen ist, ebenso wie die meisten Thingspiele und Thingstätten, heute vergessen, die Gründe sind trotz der einst regelrechten Thingeuphorie unklar. Akten, die Aufschluss darüber geben könnten, existieren nicht mehr. Im erwähnten Geheimerlass Goebbels‘ vom 23. Oktober 1935 wurde der Begriff „Thing“ mit einem Tabu belegt. Die Presse erhielt Anweisung, das Wort notfalls auch aus den Reden angesehener Persönlichkeiten zu tilgen. 1936 wurde den Thingspielen dann die „Reichswichtigkeit“ aberkannt. Öffentlich thematisiert wurde diese Kehrtwende in der Kulturpolitik aber nie.
Auch in der Sowjetunion trat an die Stelle der frühen Massenspiele inzwischen die stalinistische Parade. Die späteren sowjetischen Rituale zum 1. Mai, zu Weltjugendfestspielen und Spartakiaden hatten als von oben her inszenierte Massengeometrie und Aufmärsche einen anderen Charakter als die Erweckungsspiele des frühen Proletkults. In der Frühzeit der DDR gab es zunächst einzelne Versuche, das Fest- und Massenspiel wiederzubeleben, aber sie bestätigten eher, dass dessen Zeit abgelaufen war. 1959 wurde die dramatische Ballade Klaus Störtebeker von Kurt Barthel im Rahmen der Rügenfestspiele in Ralswiek aufgeführt, laut Eichberg der „bisher gelungenste Versuch einer Massenspielinszenierung“. Es gibt sie bis heute.
Die germanistischen Darstellungen zu diesem Kapitel der deutschen Literaturgeschichte seien „ziemlich knapp“, befand der Bochumer Emeritus Uwe-K. Ketelsen schon 2004 in der Kritischen Ausgabe: „Solche Selbstbeschränkung dürfte vor allem der Ratlosigkeit gegenüber diesen Texten und den zu ihnen gehörenden theatralen Praktiken entspringen. So bleibt es meist bei konsensfähigen Geschmacksurteilen und politisch korrekten, manipulationstheoretisch fundierten Einschätzungen.“ Er verwies darauf, dass sich die einschlägigen Texte als belletristische Aufarbeitungen von Hitler-, Goebbels-, Rosenberg-, etc.-Zitaten lesen und damit in den Horizont des III .Reichs einschränken ließen.
„Aber ließe sich die Blickrichtung nicht auch umkehren und konstatieren, dass Hitler, Goebbels, Rosenberg etc. mit den Verfassern dieser Texte an einem gemeinsamen Pool von Vorstellungen, Bildern und Argumenten partizipieren, der aus älteren historischen Beständen stammt?“, fragt er ketzerisch. Eine solche Umkehrung verletze ein Tabu, „indem sie den Panzer sprengt, der beruhigend um das III. Reich gelegt worden ist; sie macht es zu einem integralen Bestandteil unserer Geschichte“.
Zuletzt versuchte die Bielefelder Kunstprofessorin Katharina Bosse aus eher linker Perspektive, diesen Panzer interdisziplinär zu sprengen, und veröffentlichte neben dem Bildband „Thingstätten“ (Bielefeld:Kerber 2020) auch eine zugehörige Internetseite www.thingstaetten.info, die ein umfangreiches Archiv werden, Regionalforschungen vernetzen und Dokumentationen zusammenführen soll. Interessierte können das Portal mit Material und Erkenntnissen ergänzen.