„denn die Hoffnung hält uns allein im Leben“
7. Februar 2019 von Thomas Hartung
Dass sie an gebrochenem Herzen stirbt und ihn der Schmerz über den Verlust in den Wahnsinn treibt, gehört zu den oft kolportierten literarischen Standardmotiven all jener, die sich als Nachfolger der Romantiker verstehen. Aber da ist was dran. Nur wenige Wochen blieben einer großen Liebe, die an der Kluft zwischen Eros und Moral, an den kleingeistigen gesellschaftlichen Konventionen und ökonomischen Erwartungen ihrer Zeit zerbrach: Friedrich Hölderlin war ein mittelloser Hauslehrer, der keine Familie ernähren konnte, Susette Gontard Bankiersfrau und Mutter von vier Kindern, die ihre Familie nicht verlieren wollte. Vor allem aus 20 wunderbaren, erschütternden Briefen, 17 von ihr und drei von ihm, haben wir heute Kunde von einer unirdischen Beziehung, die Hölderlins Schaffen ebenso beflügelte wie sie ihn traumatisierte und die allein hierzulande zweimal verfilmt wurde – bei sechs deutschen Hölderlin-Filmen, darunter gar eine Trilogie.
Susette Borkenstein wird am 9. Februar 1769 in Hamburg als Kaufmannstochter geboren. Über ihre Kindheit ist kaum etwas bekannt. Sie heiratete am 9. Juli 1786 gerade siebzehnjährig den fünf Jahre älteren Frankfurter Bankier Jakob Friedrich Gontard, Spross hugenottischer Immigranten, die im Wollhandel und mit Bankgeschäften reich geworden waren. Jacob spielte eine wichtige Rolle in Frankfurts Patriziat, soll aber laut Rudolf Ilbel, dem Herausgeber von Susettes Briefen, von Jugend auf unter nervösen Störungen gelitten und mindestens geschielt haben, wenn nicht gar einäugig gewesen sein. Ilbel bezweifelt wie viele andere eine Liebesheirat, außerdem werde Gontard die „Welt des Geistes- und Seelenlebens … nicht viel bedeutet haben, was sich auch in seinem Verhältnis zu den Kindern auswirkte“.
In kurzem Abstand kommen Henry, Henriette, Helene und Amalie im vornehmen Haus „Weißer Hirsch“ zur Welt. Ein Hauslehrer und Hofmeister wird gesucht und in Hölderlin gefunden, der zuvor nach Studium und gescheiterten Hauslehrerstellen – depressiv und aus Minderwertigkeitskomplexen gegenüber Friedrich Schiller – von Jena geflohen war: „Ich friere und starre in den Winter, der mich umgibt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich“, schreibt er Schiller in einem Brief. Im Januar 1796 tritt er 26jährig die Stelle an: „Er gefiel allen und erfüllte selbst die gespanntesten Anforderungen. Sein Äußeres war höchst einnehmend … Auch die Kinder des Hauses, obgleich noch sehr jung, hingen bald mit großer Liebe an ihm“, schreibt der Frankfurter Buchhändler Carl Jügel. „Wie oft lag er mit uns auf der Erde und lehrte uns spielend mancherlei“, erinnerte sich Henriette im Alter.
Wie schnell der ledige, in Sachen Frauen eher unerfahrene, muttergeprägte Poet sich in die Mutter des Hauses verliebte, ist unklar; heftig war es in jedem Fall: „Lange tot und tiefverschlossen / Grüßt mein Herz die schöne Welt“, jubelt er in einem Gedicht. In einem Brief schrieb er: „Majestät und Zärtlichkeit, und Fröhlichkeit und Ernst, und süßes Spiel und hohe Trauer und Leben und Geist, alles ist in und an ihr zu Einem göttlichen ganzen vereint.“
„Du bist unvergänglich in mir“
Über die Natur des innigen Verhältnisses rätseln viele Biographen bis heute. Pierre Bertaux schreibt nach Ausbreitung einiger Dokumente: „Wer da noch an eine ‚platonische Liebe‘ … glauben will … dem sei es nicht verwehrt.” Dagegen Irma Hildebrand: „…dieses beglückende Zusammensein, ist … nicht von dieser Welt, es haben sich zwei Seelen, nicht zwei Körper gefunden.“ „Die Liebe ist ein Fest – es muss nicht nur vorbereitet, sondern auch gefeiert werden“, so Susette selbst in einem Brief.
Ein Sommer ungetrübten, vollkommenen Glücks in dem westfälischen Städtchen Bad Driburg wird beiden geschenkt: Susettes Ehemann hat sie dorthin vor den napoleonischen Truppen in Sicherheit gebracht und hält selbst in Frankfurt die Stellung. Wieder zurückgekehrt, muss Hölderlin den Bediensteten spielen und Susette ihren Familien- und Repräsentationspflichten nachkommen. Anfangs kann er die Anspannung produktiv nutzen. Als „Diotima“, eine Figur, die einst Platon als Verkörperung des „lehrenden Eros“ in die Weltliteratur eingeführt hatte, besingt er die Geliebte in Gedichten („Herz! an deine Himmelstöne / Ist gewohnt das meine nicht“) und beginnt den „Hyperion“.
In dem Briefroman thematisiert er den Kampf des Helden um die Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft und die Rolle seiner Geliebten, die er wiederum Diotima nennt. Sie liebt Hyperion und ermutigt ihn als Verkörperung seines Ideals vollendeter Schönheit zugleich zur Ablösung von einseitiger Bindung an konkrete Einzelerscheinungen, um den Weg in eine höhere Dimension zu finden – sonst könne er seine Lebensaufgabe nicht erfüllen. Nach ihrem Tod, an dem er Mitschuld trägt, muss er sein Leben neu gestalten und findet Frieden in der Natur.
In der realen Stadt Frankfurt aber findet er auf der einen Seite die Hausherrin, die mit ihm in einer geheimen eigenen Welt lebte, beschäftigt mit Kunst, Erziehung, dem Erlebnis der Natur und erfüllt von ihrer Liebe, auf der anderen Seite den ungeliebten Ehemann, den Bourgeois mit der Devise: „Les affaires avant tout“ – diese Spannung hält er dann doch nicht mehr aus, zumal das Verhältnis ruchbar wird: im September 1798 kommt es zum großen Krach. Jakob Gontard erteilt ihm Hausverbot. Nach dem Hinauswurf schreibt der kleine Henry: „Komm‘ bald wieder bei uns, mein Holder; bei wem sollen wir denn sonst lernen“. Holder war für enge Vertraute der Spitzname Hölderlins.
Er flieht ins benachbarte Homburg zu seinem Studienfreund Isaac von Sinclair. Es beginnt ein verzweifeltes und entwürdigendes Ringen der beiden Liebenden um Kontaktmöglichkeiten. Zunächst sind noch einige heimliche Treffen möglich, danach reicht es nur noch zum verängstigten Austausch von Briefen durch eine Hecke – Susette ist dauernd unter Beobachtung und kann sich keine Unregelmäßigkeiten erlauben. „So lieben wie ich Dich, wird Dich nichts mehr, so lieben wie Du mich, wirst Du nichts mehr“, schrieb sie ahnungsvoll, an einer Stelle zieht sie gar einen gemeinsamen Freitod in Betracht.
Manche Biographen mutmaßen, er habe mit seinem schwärmerischen Überschwang die bis dahin verborgenen Gefühle einer empfindsamen Seele geweckt, und wissen von „gestohlenen Momenten geheimer Lust“. „Drei Stunden soll er für die Strecke von Bad Homburg nach Frankfurt gebraucht haben. Jeden ersten Donnerstag im Monat, so war es verabredet, machte er sich auf den Weg, zu fast noch nachtschlafender Zeit, denn wenn die Kirchturmglocken zehn Uhr schlugen, wollten sie sich sehen“, beschreibt Freddy Langer in der FAZ den Zustand, der beiden unerträglich ist – ihm zumal, weil er am selben Tag wieder zurück muss. Auf dem „Hölderlin-Pfad“, einem ausgeschilderten Regionalparkweg, kann man die Strecke seit 2008 nachwandern – 22 Kilometer hin, 22 Kilometer retour.
„Es waren schöne Tage“
Nach zwei Jahren dann die endgültige Trennung, die noch unerträglicher ist und beide als gebrochene Menschen hinterlässt: „…denn die Hoffnung hält uns allein im Leben … Lebe wohl! Lebe wohl! Du bist unvergänglich in mir! und bleibst so lang ich bleibe“, schreibt Susette im Mai 1800. Im Jahr darauf nimmt Hölderlin eine Hauslehrerstelle in der Schweiz an, wird gekündigt und findet 1802 eine ähnliche Tätigkeit in Bordeaux. Im Juni reist er aus unbekannten Gründen zurück nach Deutschland, in angeblich so verwahrlostem und verwirrtem Zustand, dass Freunde ihn zunächst kaum wiedererkannten, als er Ende des Monats in Stuttgart eintrifft.
Spätestens hier muss ihn die Nachricht vom Tod der lungenkranken Susette erreicht haben, die sich seit der Trennung dem Leben verweigert haben soll und am 22. Juni 1802 in Frankfurt an den Röteln ihrer Kinder starb. Aber die Ereignisse dieses Monats sind in Hölderlins Leben bis heute unklar und werden von den Biographen auch verschieden beschrieben – einzig belegt ist gemäß dem Eintrag in seinem Pass, dass er am 7. Juni 1802 die Rheinbrücke bei Kehl überquerte. Was seitdem bis zu seiner Ankunft in Stuttgart geschah, liegt im Dunkeln und bietet Raum für viele Spekulationen. In den beiden deutschen Filmen „Hälfte des Lebens“ (1985, DDR) und „Feuerreiter“ (1997, BRD) hat er die tote Susette noch einmal in den Armen gehalten. Nur ein poetisches Wunschbild von Filmemachern?
Hölderlin stürzt sich in Arbeit, übersetzt Sophokles und Pindar, beginnt einen großangelegten Zyklus vaterländischer Gesänge (u.a. „Der Rhein“) und schreibt noch manches Gedicht: „So komm! Dass wir das Offene schauen, / Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist“ – dieser Wunsch blieb ihm ewig versagt, zumal mit ihr. 1806 wird er als „wahnsinnig“ im Tübinger Klinikum erst zwangsbehandelt und muss dann ab 1807 die zweite Hälfte seines Lebens als „unheilbar geisteskrank“ in Pflege bei der Schreinermeisterfamilie Zimmer in einem Tübinger Turmstübchen verbringen. In einem Gedichtfragment heißt es: „Ach! wehe mir! / Es waren schöne Tage. Aber / Traurige Dämmerung folgte nachher“. Er starb 1843 – im selben Jahr wie Jakob Friedrich Gontard, der nicht wieder heiratete und 41 Jahre Witwer blieb.
Eine Büste Susettes von Landolin Ohmacht erinnert durch die Glätte der Modellierung, die ebenmäßigen Gesichtszüge, die zu einem Knoten zusammengeführten Haare, das antikisierende, mit Akanthusmotiven verzierte Gewand, die ruhige Haltung und auch durch den weißen Alabaster an antike Göttinnenbildnisse. Sie galt als sensible, faszinierende und kluge Frau, belesen, lebenslustig und pädagogisch interessiert, die in dem zeremoniellen Rahmen des bourgeoisen Frankfurter Gesellschaftslebens emotional und intellektuell völlig unterfordert war.
Wie sie aber zum Maßstab von Hölderlins „Schönheitssinn“ wurde und warum der kopflastige schwermütige Schwärmer gerade sie als „Diotima“ zur irdischen Zeugin des Göttlichen und einer schöneren geschichtlichen Zukunft sowohl im „Hyperion“-Roman als auch in seiner Lyrik stilisierte – das gehört zu den großen Rätseln der deutschen Literatur, die wohl kaum je gelöst werden.