„Don’t Cry for Me Argentina“
4. Mai 2019 von Thomas Hartung
Selten wurde ein Musical-Song so oft und von so unterschiedlichen Künstlern gecovert. Es gibt Instrumentalfassungen von Panflötist Gheorghe Zamfir wie Orchesterfassungen von Ray Conniff. Es gibt Rockfassungen von „The Shadows“, Popfassungen von den „Carpenters“ oder Punkfassungen von „Me First and the Gimme Gimmes“. Es gibt Fassungen von Popsängern wie Tom Jones und Popsängerinnen wie Shirley Bassey. Und es gibt selbst Fassungen von gefälligen Sternchen wie Olivia Newton-John ebenso wie von politischen Interpretinnen wie Milva oder Joan Baez oder gar klassischen Stars wie Anna Maria Kaufmann oder Sarah Brightman: „Don’t Cry for Me Argentina“ aus Andrew Lloyd Webbers Musical „Evita“ von 1977. Die Namensgeberin Evita Perón würde am 7. Mai ihren 100. Geburtstag feiern.
Die zweite Frau des argentinischen Präsidenten Juan Perón war 1952 unbestreitbar die zweitmächtigste Person in Argentinien, weltbekannte First Lady und von den Arbeiterinnen vergötterte „Evita“, obwohl sie in der Regierung ihres Mannes nicht einmal ein offizielles Amt innehatte. Als ihr Auto bei einem Staatsbesuch in der Schweiz 1947 erst von Tomaten und dann von Steinen getroffen wird, geworfen von angeblich psychisch kranken Tätern, macht sich die NZZ ernsthafte Sorgen um das Image des Landes und befürchtet, „dass da und dort im Auslande aus den Zwischenfällen in Bern und Luzern unrichtige Schlüsse auf den Geisteszustand unseres Volkes gezogen werden könnten“.
Sie wurde gerade 33 – das Alter, in dem Jesus gekreuzigt wurde, wie ihre Anhänger immer noch betonen, die bis heute, vor allem am Muttertag, zu ihrem Grab pilgern. Allerdings: Im Halbdunkel der Familiengruft stehen zwei Särge, aber in keinem davon liegt sie. Man müsste Falltüren öffnen, Stahlplatten bewegen, in sechs Meter Tiefe hinabsteigen, da erst träfe man auf den einbalsamierten Leichnam von Evita Perón. Warum verwahrt man ihre sterblichen Überreste wie in einem Panzerschrank? Fürchtet man, sie könnten aus der Marmorgruft des Recolta-Friedhofs in Buenos Aires verschwinden? Oder, schlimmer noch, wieder auferstehen?
„ohne Fanatismus kann man nichts vollbringen“
María Eva Duarte de Perón wurde am 7. Mai 1919 in Los Toldos als eines von fünf unehelichen, aber anerkannten Kindern ihrer Mutter Juana und ihres verheirateten Liebhabers geboren, des wohlhabenden Großgrundbesitzers Juan Duarte. Der Vater stirbt, als sie sieben Jahre ist, ihre Mutter sollte Evita (kleine Eva) um 19 Jahre überleben. Sie wächst in erbärmlichen Verhältnissen auf, hat aber bereits als Kind einen unbändigen Ehrgeiz und das Ziel, berühmt zu werden. Mit 15 folgt das schlaksige, brünette Mädchen einem Tangosänger nach Buenos Aires, um dort eine Karriere als Schauspielerin zu starten – wie es das Klischee will, hatte sie in ihrer ersten Rolle nur „Es ist angerichtet!“ zu sagen.
Bis auf kleinere Engagements in mäßigen Stücken und noch schlechteren Filmen bleibt sie erfolglos: Wenn sie Kritiker loben, dann wegen ihrer „Unscheinbarkeit“ und, nach immerhin einem Jahr, wegen ihrer „Anmut“. Sie lebt promiskuitiv in heruntergekommenen Hotels und verdient ihr Geld hauptsächlich mit zweifelhaften Jobs in Nachtclubs. Und doch arbeitet sie systematisch an ihrer Zukunft, blondiert ihr Haar und sucht sich ihre Liebhaber nach deren Einfluss aus. Diese Affären bringen ihr tatsächlich Glück. „Die berühmte Schauspielerin Evita Duarte“, schreibt ein Klatschmagazin im September 1943, das sie zugleich zur Schönheit ernannte, werde die Hauptrolle einer Sendereihe von Radio Belgrano übernehmen und große Frauen der Weltgeschichte wie etwa Elisabeth von England oder Katharina die Große spielen. Einige Zeit später bekommt sie gar eine eigene Sendung.
Anfang 1944 lernt die inzwischen 24jährige auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung den ehrgeizigen konservativen Kriegsminister Juan Perón kennen, einen Witwer, doppelt so alt wie sie. Sie ahnt ihre Chance. Fest entschlossen, unentbehrlich für den Politiker zu werden, spannt sie ihn noch am selben Abend seiner Begleiterin aus. Bald wirbt Evita in ihrer einstündigen täglichen Radio-Show leidenschaftlich für das politische Programm Peróns, der mehr soziale Gerechtigkeit und eine unabhängige, starke Wirtschaft fordert.
„Ich habe mich fanatisch Perón und seinen Idealen verschrieben“, sagt sie später oft, „ohne Fanatismus kann man nichts vollbringen.“ Ihre emotionsgeladene Sendung begeistert vor allem das einfache Volk, das Evita als „eine von uns“ anerkennt. Die Arbeiter erheben sie zum Idol, sie akzeptieren sie – und mit ihr auch die politischen Ziele Peróns, der beliebt ist, weil er Lohnerhöhungen gewährt, Arbeitsgerichte geschaffen und die Sozialhilfe verbessert hat. Die Großgrundbesitzer und Reichen des Landes sind ihm dagegen verhasst, weswegen er bei diesen als suspekt, als halber Kommunist gilt.
Wie mächtig Evita geworden ist, zeigt sich im Oktober 1945, als Perón bei einem Putsch verhaftet wird. Evita organisiert einen beispiellosen Protestmarsch, an dem mehr als 200.000 Menschen teilnehmen. Aus Angst vor einem Bürgerkrieg geben die Putschisten nach und lassen Perón frei. Am nächsten Tag heiratet er Evita und wird sechs Monate später zum Präsidenten gewählt. Sofort begann Evita ihr soziales Engagement für die Descamisados („Hemdlosen“) und wurde ihre Heldin. Von 1946 bis 1952 arbeitete Eva Perón mit unermüdlichem Enthusiasmus als „Eine-Frau-Propaganda-Ministerium“. Ihre Erfahrung als Schauspielerin, ihre einfache Herkunft aus der Klasse der Unterdrückten und vor allem die Tatsache, dass sie nicht nur eine Frau war, sondern seine Frau, „ein Teil von ihm“, erwiesen sich dabei als unschätzbare Vorteile.
Faktisch eine Arbeits- und Sozialministerin
Von der etablierten Oberschicht, den Militärs zumal, wird sie verachtet, ja gehasst: Frauen durften in Argentinien nochmal nicht wählen. Das änderte sich unter ihrem Einfluss: 1947 führte Argentinien das Frauenwahlrecht ein. Im selben Jahr unternahm sie ihre „Regenbogentour“ durch Europa und traf dabei unter anderen Papst Pius XII., den sie mit einem trägerlosen schwarzen Kleid schockte, dinierte mit dem Schweizer Bundespräsidenten Phillip Etter und besuchte den spanischen Diktator Franco. „Sie träumen von mir, und ich darf sie nicht enttäuschen“, erklärte sie ihm, als der sich darüber wundert, mit wie vielen Edelsteinen behängt sie zu einem Treffen erscheint. Wer aus dem Dreck der Hütten komme, schulde den Untertanen, fortan in Pelzen herumzulaufen und sich Perlen umzuhängen, sagt sie sich und ihren Schneidern, nichts anderes erwarteten die Armen schließlich von ihren Herrschern.
Grund der PR-Tour war das faschistische Image der Regierung: Perón war von Mussolini beeindruckt und sympathisierte während des Zweiten Weltkrieges mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Er und Evita herrschen gleichsam wie Diktatoren, besetzen Schlüsselpositionen mit Vertrauensleuten, lassen politische und gesellschaftliche Gegner gnadenlos von einer Geheimpolizei bespitzeln und verfolgen, die Pressefreiheit aufheben. Eva Perón wurde von amerikanischen und englischen Geheimdiensten, selbst Regierungsmitgliedern unterstellt, bei der Flucht gesuchter Nationalsozialisten nach Südamerika mitgewirkt zu haben, was bis heute unbewiesen ist. Allerdings gebe es laut mancher Biographen Hinweise für die Behauptung, ihre gesamte Europareise habe eigentlich das Ziel gehabt, in der Schweiz das Vermögen von hohen deutschen Nazis in Sicherheit zu bringen, die sich und ihre Beute 1945 nach Buenos Aires gerettet hatten.
1948 ließ Evita eine Stiftung für Wohltätigkeit gründen und verteilte großzügig Geschenke an Arme und Bedürftige. Angeblich hat sie Kranke berührt und Aussätzige geküsst und wurde zu „Santa Evita“, der Heiligen. Sie war, obwohl durchaus glamourös lebend, die warmherzige, oft heißblütige Fürsprecherin der armen Arbeiter und Bauern, der schlecht behandelten Protagonisten der industriellen Revolution, die das agrarische Argentinien beutelte. Zu Evitas Zeiten florierte die Wirtschaft, der Staat hatte Geld für groß angelegte Sozialprogramme, die über die Stiftung verwaltet wurden. 1949 gründete sie die peronistische Frauenpartei, in der sich Frauen in Verbindung mit der Eva-Perón-Stiftung und unter der Leitung Evitas politisch und sozial beteiligen konnten. Faktisch agiert sie wie eine Arbeits- und Sozialministerin.
Der sogenannte „Peronismus“ als vielgestaltige, wandelbare und bis heute prägende populistische Bewegung integrierte eine Vielzahl politischer Ziele und Anschauungen, denen einzig die Berufung auf das Volk und auf Perón als Führer gemein war: Er war das Hirn, sie das Herz des Peronismus, heißt es bis heute. Manche Historiker betrachten diese Form der Herrschaft als „subtropische“ Form einer europäischen Arbeiterpartei; die Peronisten selbst sahen ihre Politik als dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus: die Arbeiter erhielten mehr Rechte, ohne die Interessen der Mittel- und Oberschicht zu gefährden. Wegen Evitas sozialem Engagement stehen die Armen hinter ihr, während die Opposition gegen Juan Perón wächst.
Im September 1950 spekulierte die New York Times, Evita werde für die Vizepräsidentschaft kandidieren, wenn Perón noch einmal zum Präsidenten gewählt werde – ein kühner Bruch mit der argentinischen Tradition. Als sie 1951 versuchte, ihrer Macht durch diese Kandidatur eine reelle Grundlage zu geben, verärgerte das viele Militärs, die ihren zunehmenden Einfluss auf die Regierung ablehnten. Unter diesem starken Druck und angesichts ihrer Erkrankung zog Juan Perón dann ihre Nominierung zurück. Der „Mythos Evita“ aber hinterließ eine Veränderung der lateinamerikanischen Wahlkampfkultur: Kandidierende Präsidenten instrumentalisieren ihre Ehefrauen, eine Evita-Rolle zu kopieren, um den positiven Nachhall Evitas für ihre eigene Popularität zu benutzen.
„Sie war die letzte Gute“
Wann sie die Diagnose „Gebärmutterhalskrebs“ offiziell erhielt, ist unklar. Im Herbst 1951 wurde sie erstmals operiert, später kamen deutsche Gynäkologen als Experten hinzu. Hunderte Frauen weinen tagtäglich vor ihrem Palast. Am 4. Juni 1952 zeigte sich Eva Perón das letzte Mal in der Öffentlichkeit, am 26. Juli starb sie. Im Musical versteht Eva am Ende ihres Lebens, dass Perón sie um ihrer selbst willen liebt und nicht deswegen, was sie für ihn und seine Karriere tut, und bittet als Sterbende um Vergebung, dass sie den Ruhm einem langen Leben und dem Erziehen von Kindern vorgezogen hat. Über zwei Millionen Menschen nahmen am Trauerzug teil, die Staatstrauer dauerte 30 Tage, ihr vom spanischen Pathologen Pedro Ara balsamierter Leichnam wurde jahrelang in der Gewerkschaftszentrale aufgebahrt.
Im Kongress schwangen sich die Nachrufe der Abgeordneten auf pathetische Höhen. So sagte ein Senator: „Evita vereinigte nicht nur die besten Tugenden einer Katharina der Großen von Russland, einer Elizabeth I. von England, einer Jungfrau von Orléans und einer Isabella von Kastilien in sich, sie hat diese Tugenden bis ins Unendliche gesteigert.“ Sei selbst gab in ihrem autobiographischen Selbstzeugnis „Der Sinn meines Lebens“ eine andere Einschätzung: „Ich war und bin nicht mehr als ein Sperling … und er (Perón) war und ist der gewaltige Adler, der hoch und sicher in der Nähe Gottes fliegt.“
Sie starb rechtzeitig, ohne dass die Erinnerung an sie befleckt worden wäre: Auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit beim Volk, die einherging mit dem Hass der konservativen Elite. Drei Jahre später wird Präsident Perón gestürzt und flieht ins Exil. „Er hatte ihr diese Macht übertragen, die ihre aber war auf niemanden übertragbar, am wenigstens auf ihn. Ohne sie konnte er sich nicht länger als drei Jahre halten“, schreibt ihre Biografin Marysa Navarro. Juan Peron ging nach Spanien ins Exil, heiratete zum dritten Mal, kehrte 1973 in sein Heimatland zurück und gewann die Wahl zum Präsidentenamt im September 1973 erneut. Er starb wenige Monate danach, seine Frau Isabel, die bereits als Vizepräsidentin vereidigt war, wurde seine Nachfolgerin und gleichzeitig die erste Staatspräsidentin Südamerikas, deren Regierung 1976 erneut durch einen Militärputsch gestürzt wurde.
Die jahrelang unterdrückten Anti-Peronisten vernichten nahezu jede Erinnerung an Evita: Ihre Bilder, Bücher und persönlichen Papiere werden öffentlich verbrannt, die Denkmäler eingerissen. Sie versuchen zugleich, einen Mythos der Hure und der Domina zu prägen und das Bild einer kalten, machtgierigen Frau zu zeichnen, die Wohltätigkeit als Show betrieb. Ihr Leichnam erlebte eine 17jährige Odyssee über Mailand und Madrid, bevor er 1976 endgültig zur Ruhe gebettet werden konnte – der Bestseller „Santa Evita“ von Tomás Eloy Martínez zeichnet diese Odyssee kriminalistisch nach. Webbers Musical, das vor dieser Beisetzung endet, wurde später mit Madonna in der Hauptrolle verfilmt – unter Protesten vieler Argentinier. Bis 2015 kam die Lebensgeschichte von Evita über ein Dutzend Mal ins Kino. Die Hauptfigur wurde dabei unter anderem verkörpert von Faye Dunaway, Bette Midler, Meryl Streep, Liza Minnelli, Barbra Streisand und auch Michelle Pfeiffer.
Noch heute ist sie für viele Argentinier, Männer wie Frauen, eine der größten Wohltäterinnen der Nation. Auch die Wirrungen des Peronismus späterer Jahrzehnte berührten die Kanonisierung nicht: Evita wurde „cheguevarisieriert“, formuliert der Philosoph José Pablo Feinmann. Da könnte etwas dran sein, da alle großen Figuren Argentiniens bislang mit dem Tod verbunden sind: Che Guevara starb im Kampf, der Tango-Sänger Carlos Gardel bei einem Flugzeugunglück, und den Kult um Gauchito Gil, eine Art argentinischer Robin Hood, begann ausgerechnet sein reumütiger Henker.
„Sie war die letzte Gute, und sie steht für das letzte Gute, was sich hier in Argentinien zugetragen hat“, sagt Paula Lambertini von der Frauenabteilung des „Movimiento Evita“ der Berliner Zeitung. Sie habe den Armen Gerechtigkeit, Würde und Bildung gebracht und die Arbeiter aus der Sklaverei erlöst. In Buenos Aires ist ihr das „Museo Evita“ gewidmet, im Museumsshop kann man glamourösen Souvenirschmuck kaufen in der Art, wie sie ihn einst selbst trug. Es gibt Handpuppen, Comics und Videospiele, ja im Szeneviertel Palermo hatte 2011 die erste Perón-Kneipe eröffnet, wo zum Steak Perón-Wein kredenzt wird. Mitten im Gastraum steht ein Evita-Altar; die Eigentümer wachen darüber, dass die Weihrauchkerzen nicht erlöschen.