kollektivistische Ordnungsphantasie
9. Juli 2019 von Thomas Hartung
Den hochgewachsenen meterdicken Baum mit brauner, riffeliger Rinde unterscheidet von anderen nur ein zweisprachiges Schild: „Gegen diesen Baum haben Henker Kinder geschlagen“. Er steht bei Choeung Ek nahe der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh auf dem „Killing Field“ des berüchtigten Gefängnis S-21 – einer ehemaligen Schule, die heute das Tuol-Sleng-Genozid-Museum beherbergt. Damals mussten die Täter lachen, wenn sie die Kinder gegen den Stamm totschlugen, um sich nicht selbst verdächtig zu machen. Heute fotografieren sich Touristen davor mit ihren Smartphones – die Gräueltaten der kommunistischen Schreckensherrschaft sind Folklore geworden.
Fast 200 solcher Gefängnisse und rund 300 solcher Killing Fields gab es in der Zeit des „Demokratischen Kampuchea“, wie die Roten Khmer unter Pol Pot („Bruder Nr. 1“) ihr Regime nannten. In den drei Jahren, acht Monaten und 21 Tagen seiner Existenz kamen zwischen 1,7 und 2,2 Millionen Menschen um – mindestens 800.000 durch Gewalt, die anderen verhungerten, starben an Entkräftung oder Krankheiten. Vor 40 Jahren beendete die Vietnamesische Armee den Genozid, der als eins der schlimmsten Verbrechen nach 1945 in die Weltgeschichte einging; vor 10 Jahren, im Juli 2009, wurde Tuol Sleng zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt.
Das Museum archiviert unter anderem 4.186 schriftliche Geständnisse und 6.147 Fotografien. Insgesamt belegen die Dokumente, dass Folter und Ermordung systematisch erfolgten. Schon beim Betreten des Schulhofes schockiert eine Tafel mit der Lagerordnung. So steht beispielsweise unter Punkt 6: „Es ist verboten, während Auspeitschungen oder Elektroschocks zu weinen.“ Kaing Guek Eav, Kommandeur von S-21, gab später während seines Prozesses zu Protokoll: „Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dorthin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte. Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten.“
„bedürfnislose Gleichheit“
Die Geschichte der Roten Khmer reicht bis in das Paris der 1950er Jahre zurück: kambodschanische Studenten, darunter Pol Pot, Ieng Sary und Khieu Samphan, die späteren Anführer, gründeten eine marxistische Studentenvereinigung und traten später der Kommunistischen Partei Kambodschas bei. Das Land war seit 1953 von Frankreich unabhängig und wurde seitdem von Prinz Norodom Sihanouk regiert. Während der Studentenrevolte 1963 flohen Pol Pot und mehrere seiner Gefährten in den Untergrund und begannen, unter dem Namen „Rote Khmer“ eine Guerillatruppe aufzubauen.
1965 schwappte der Vietnam-Krieg nach Kambodscha über. Mit militärischer Hilfe der kommunistischen Nordvietnamesen gelingt es der Guerillatruppe, große Teile Kambodschas unter ihre Kontrolle zu bringen. In Abwesenheit Sihanouks putschte aber 1970 der USA-unterstützte Marshall Lon Nol. Zugleich beenden die Nordvietnamesen die Zusammenarbeit, als sie merken, dass ihnen die Roten Khmer bei der Vertreibung der Amerikaner aus Kambodscha zur Last fallen und ihre politischen Anschauungen zu extrem wurden. In dem Chaos stürzten die Roten Khmer Lon Nol, nahmen am 17. April 1975 Phnom Penh ein und errichteten die Volksrepublik Demokratisches Kampuchea.
Pol Pots „Vision“ war eine kollektivistische Ordnungsphantasie. Er wollte ein radikal-kommunisti-sches System etablieren, eine ursprüngliche, agrarisch geprägte Gesellschaft schaffen. Dafür teilten die Khmer die Bevölkerung in ein „altes“ und ein „neues“ Volk ein: Die städtische Bevölkerung, das „neue Volk“, war der Klassenfeind, der sich an den Erträgen der „alten“ ländlichen Bevölkerung bereichere. Daher sollten alle Städte evakuiert und die Menschen zur Landarbeit gezwungen werden. So mussten zum Beispiel die mehr als zwei Millionen Einwohner Phnom Penhs die Stadt innerhalb weniger Tage räumen. Schon damals starben Zehntausende bei diesen Gewaltmärschen aufs Land und dann bei der ungewohnten Zwangsarbeit von mindestens 15 Stunden täglich.
Die Roten Khmer schafften jegliche religiöse Praktiken, Geld und Privatbesitz ab; Sprachen und Bräuche von Minderheitengruppen verboten sie. Kulturelle und religiöse Einrichtungen, Schulen und Betriebe wurden zerstört. Als verdächtig galt schon, wer eine Fremdsprache sprach, Bücher besaß oder eine Brille trug. Aber auch Angehörige der Armee, der Polizei und Beamte mussten die neuen Machthaber fürchten. Zwar wurde zunächst die gesamte Gefolgschaft des gestürzten Lon Nol ausgeschaltet. Doch als sich trotz aller Säuberungen und Massenhinrichtungen der erwartete „Sprung nach vorne“ nicht einstellen wollte und stattdessen die wirtschaftliche und soziale Ordnung kollabierte, entdeckten die Genossen mit den niedrigsten Nummern in der KP-Hierarchie die eigenen Parteigenossen und Kader als Feinde. Schon Missgunst und Denunziation von Nachbarn führten zum Tod.
„Ich demütige mich“
Die Roten Khmer setzten ihre Ideen der „bedürfnislosen Gleichheit“ mit unnachsichtiger Härte durch. Weil das Gebot der „einheitlichen Kost“ herrschte, galt zum Beispiel der illegale Besitz selbst kleiner Mengen Reis als schweres Vergehen. Auch Streit in der Familie und das Bestrafen von Kindern waren verboten. Bei den regelmäßigen politischen Versammlungen musste man öffentlich Selbstkritik üben, die häufig mit den Worten endete: „Ich demütige mich, damit ich mich noch besser fügen kann.“ Wer einer Anordnung widersprach, wurde vielfach kurzerhand wegen „Individualismus“ erschlagen.
Daniel Bultmann hat in Kambodscha unter den Roten Khmer analysiert, wie dieser „professionell betriebene Verwaltungsmassenmord“ im „bürokratisch organisierten Gefängnissystem“ von den lokalen Gemeinden, die man noch überstehen konnte, über die Umerziehungszentren der Distrikte bis hin zu Tuol Sleng funktionierte: Es sei um nichts weniger gegangen als den „perfekten Sozialisten“ mit modernen Mitteln zu realisieren. Dabei war die Chance, S-21 zu überleben, gleich null: Die Vietnamesen befreiten ganze 14 Häftlinge aus ihren Zellen, von denen noch sieben starben.
Selbst bei den Hinrichtungen auf den Killing Fields herrschte bürokratische Effizienz. Bultmann: „Um Kugeln und Ressourcen zu sparen, wurden die Kader angewiesen, die Opfer lediglich mit einem Axt-, Schaufel- oder Stockschlag in den Nacken zu töten. Kleinkinder wurden stellenweise einfach gegen einen Baum geschleudert … Die Opfer fielen dann kopfüber in ein Massengrab, über das noch in regelmäßigen Abständen eine Säure geschüttet wurde, um den Geruch zu übertünchen. An vielen Orten spielten die Kader auch laute Musik, um die Schreie zu übertönen.“ Auch heute noch sind viele Massengräber nicht ausgehoben und die Toten nicht angemessen bestattet.
Immer noch spült der Regen Kleidungsfetzen und Knochen aus dem Boden der Killing Fields, alle paar Monate werden sie eingesammelt. „Don’t step on bone – Treten Sie nicht auf Knochen“ steht zweisprachig auf Schildern am Rande der Wege von Choeung Ek. Der Erinnerungsort wurde von der Regierung für 15 000 Dollar pro Jahr an ein japanisch-kambodschanisches Unternehmen verpachtet – für manche Kambodschaner ist schwer nachvollziehbar, dass ein ausländisches Unternehmen Geschäfte mit ihren Toten macht. In Siam Reap, nahe der Tempelstadt Angkor, steht auf dem einstigen Gefängnisgelände dagegen ein Luxushotel.
Übertriebener Nationalismus bringt die Roten Khmer dazu, 1978 einen Krieg mit Vietnam um das Mekong-Delta zu beginnen. Das war keine gute Idee: Da Pol Pots Truppen schwach und ausgemergelt sind, begegnen die vietnamesischen Truppen kaum Widerstand, erobern schon am 7. Januar 1979 die Hauptstadt, installieren eine aus geflohenen Intellektuellen und ehemaligen Rote Khmer-Mitgliedern bestehende Regierung – darunter auch den bis heute amtierenden Regierungschef Hun Sen – und zogen erst 1989 wieder ab.
Danach blieb es kompliziert, denn trotz der Pariser Friedensverträge 1991 blieben die Roten Khmer widerspenstig. Nach ihrer Ächtung 1994 nutzten 7.000 Khmer-Soldaten die Möglichkeit einer Amnestie. 1998 wurde Pol Pot zu lebenslangem Hausarrest verurteilt und starb kurz darauf – ob er von seinen eigenen Leuten vergiftet wurde, ist bis heute unklar. Nach seinem Tod kapitulierten die letzten Kampfverbände. Die kambodschanische Regierung sprach weitere Amnestien aus und gliederte Rote Khmer-Kämpfer in die Nationalarmee ein – wo sie bis heute teilweise führende Posten bekleiden.
Prozess mit 4000 Nebenklägern
Zur Aufarbeitung der Terrorherrschaft beschloss das kambodschanische Parlament 2001, einen internationalen Sondergerichtshof für Verbrechen der Roten Khmer (ECCC) unter Beteiligung der Vereinten Nationen einzusetzen, der im Juli 2006 seine Arbeit aufnahm und dessen verschiedene Kammern mit kambodschanischen und internationalen Richtern besetzt sind. Am 17. Februar 2009 wurde der Leiter von Tuol Sleng, Kaing Guek Eav, genannt „Duch“, angeklagt und 2010 schuldig gesprochen – „lebenslänglich“ lautete das Urteil am Ende. Ohne die Prozesse wären die Geldgeber des Internationalen Währungsfonds abgesprungen, die wenigstens die demokratische Fassade erhalten möchten.
2011 im zweiten Prozess mit 4000 Nebenklägern (!) waren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord angeklagt der Chefideologe Nuon Chea („Bruder Nr. 2“), Khieu Samphan, ehemaliger Staatschef der Roten Khmer, Ieng Sary, Ex- Außenminister, und seine Frau, die frühere Sozialministerin Ieng Thirith. Thirith wurde kurz darauf für verhandlungsunfähig erklärt; Sary verstarb während des Prozesses. Die beiden anderen Angeklagten wurden am 7. August 2014 jeweils zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Prozesse kosteten bislang 300 Millionen Dollar.
Die Regierung will weitere Verfahren verhindern, wie Dauer-Ministerpräsident Hun Sen, kettenrauchender Premier mit Glasauge und einst weltweit jüngster Regierungschef, wiederholt öffentlich erklärte. Sein Auge verlor er als Offizier der Roten Khmer. 1977 lief er zu den Vietnamesen über, die ihn nach ihrem Sieg als Vertrauten installierten. Seine eigenen Verfehlungen könnten ebenso ruchbar werden wie die Prozesse weiteres Spaltungspotential haben: die Khmer sind nun mal immer noch da, und ihre Opfer müssen sich mit ihren Peinigern arrangieren, so schwer das auch ist. Der ECCC betont mehrfach, dass niedrige und mittlere Funktionäre der Khmer nichts zu befürchten hätten – auch dann nicht, wenn sie Verbrechen begangen hätten. Nur die Hauptschuldigen fielen unter die Zuständigkeit des Gerichts, die Politik der nationalen Versöhnung sei unverändert in Kraft.
Ungesühnt bleibt damit auch das System der Zwangsheiraten, von denen eine halbe Million Einwohner betroffen gewesen sein dürfte. Der Befehl lautete: Vermehrt euch. So wurde die 20jährige In Thy mit einem völlig Fremden vermählt. „Weil klar war, dass wir nicht miteinander klarkamen, gerieten wir unter Verdacht. Mein Mann kam ins Umerziehungslager, ich wurde verwarnt“, berichtet sie in der Welt. „Wir haben dann beschlossen, doch zusammen zu schlafen, um unser Leben zu retten.“ Endlich wurde sie schwanger. Trotz des traumatischen Starts blieb In Thy bei ihrem Mann, wie viele andere auch. Scham spielt in der bis heute sehr konservativen Gesellschaft eine Rolle, und Verantwortungsbewusstsein. „Wir haben uns zusammengerauft, wegen der Kinder. Als Mutter muss ich als Erstes an die Zukunft meiner Kinder denken. Deshalb kam Scheidung für mich nicht infrage.“
Erfolgreicher als bei der Bestrafung der Täter ist das Gericht bei der Aufklärung der Bevölkerung. Aus dem ganzen Land hat es bislang mehr als 100 000 Menschen kostenlos mit Bussen abgeholt, damit sie an einer Verhandlung teilnehmen können. Dabei hat für einen Großteil der Bevölkerung die Aufarbeitung keine Priorität mehr, ergab eine Studie der Universität Berkeley: Mehr als die Hälfte der 15 Millionen Einwohner kamen erst nach Pol Pot auf die Welt und wollen das internationale Geld nicht mehr in Gerichtskosten investieren.
Zur Fortführung der Arbeit des ECCC steht das Documentation Center of Cambodia (DC-Cam) bereit. Das noch private Archiv trug systematisch 50 000 Interviews und 1,2 Millionen Seiten Dokumente zusammen, veröffentlichte rund eine Million Namen von Opfern im Internet und betreibt „Genoziderziehung“: Maßgeblich finanziert durch die Deutsche Botschaft, hat es rund 500 000 Geschichtsbücher an kambodschanische Oberschüler verteilt; 3000 Pädagogen, 300 Polizeioffiziere und 100 Universitätsdozenten fachlich weitergebildet.
Blutrünstige Monster oder irregeleitete Utopisten?
Die Bilanz ist dennoch bitter: Die Roten Khmer haben Kambodscha um seine Zukunft gebracht. Dem Land, das noch in den 1960ern als Riviera Südostasiens galt, fehlt heute fast eine gesamte Generation. Einer Studie zufolge sind 20 Prozent der über 30jährigen so traumatisiert, dass sie eigentlich arbeitsunfähig sind. Nahezu jeder hat persönliche Erfahrungen mit dem Terrorsystem machen müssen. Übrig bleibt ein Land mit jungen Menschen, denen die Eltern und deren Werte fehlen.
Jedes Jahr stoßen die Schulen 200.000 junge Leute aus, aber nur jeder Zehnte findet einen Job. In den Schulbüchern wird die jüngere Geschichte noch kaum behandelt, eben weil sie noch keine Geschichte ist. Zudem sind vier Millionen Kambodschaner Analphabeten. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 280 US-Dollar im Jahr, im Schnitt rechnet man auf 1000 Kambodschaner 19 Telefonanschlüsse und ein PC.
Dazu kommt, dass sich in der nebeligen Hügellandschaft an der Grenze zu Thailand bis heute fast 40.000 Mann eingeigelt haben: Reste jener Truppen, die einst Pol Pots mörderischer Vision eines ultramaoistischen Bauernstaats folgten, dem tödlichen Gleichheitstraum eines Landes ohne Intellektuelle, ohne Ärzte, Lehrer oder Beamte. Seine Schergen halten heute Ruhe – als Gegenleistung für das Versprechen, sich für ihr Morden nicht verantworten zu müssen. Zum Überleben reicht ihnen der illegale Holzhandel, ein riesiges Casino direkt an der Grenze, in dem sich reiche Thais mit bunten Spielchips und jungen Mädchen vergnügen, und das Wissen um die gemeinsame Vergangenheit. Der Gouverneur der Gegend war noch bis vor wenigen Jahren der ehemalige Leibwächter Pol Pots.
Wer waren die Roten Khmer wirklich? Blutrünstige Monster, die mindestens zwei Millionen Menschen auf dem Gewissen haben? Irregeleitete Utopisten, die Kambodscha um jeden Preis in einen kollektivistischen Agrarstaat umwandeln wollten? Oder kühl berechnende Politiker, die sich Mao Tse-tungs skrupellose Gewaltherrschaft in der Volksrepublik China zum Vorbild nahmen, um bei dieser Gelegenheit die verhassten Vietnamesen zu bekämpfen und die Buddhisten auszurotten, weil sie keine Vertreter einer Religion neben sich dulden wollten? Wohl von allem etwas, meint Bultmann.
Doch erklärt die Ideologie nicht allein den Blutrausch der Khmer, sagt der Konfliktforscher Timothy Williams der Welt; ein wichtiges Motiv der Gewalt sei schierer Opportunismus gewesen. Von Williams interviewte Kader sagten: „Wenn man grausam war, konnte man Leiter einer Einheit werden.“ Anderen ging es um Vorteile wie bessere Wohnungen oder leichtere Arbeit als Lohn für Mord und Totschlag. Einige schlossen sich den Roten Khmer an, um persönliche Rechnungen zu begleichen. So gut wie keiner der Interviewten habe seine Taten bedauert, so Williams. Das lässt bei der Vielzahl von Sympathisanten linker Ideologie heute erschauern.