Zwischen Rehbock und Hurenbock
4. September 2019 von Thomas Hartung
Es waren die kaum überbrückbaren Ambivalenzen, die sein Leben zerrissen. Er schrieb mit „Bambi“ einen Klassiker der Kinderliteratur und mit „Josefine Mutzenbacher“ einen der Pornographie, wurde von Arthur Schnitzler geliebt und von Karl Kraus gehasst, musste 1934 als österreichischer PEN-Präsident wegen seiner Freundlichkeit gegen Nazi-Deutschland zurücktreten, das seine Bücher 1935 trotzdem verbot, und lebte als Exiljude in der neutralen Schweiz, die ihm dennoch zu publizieren untersagte: Felix Salten. Am 6. September vor 150 Jahren wurde Siegmund (oder Zsiga) Salzmann als Sohn eines jüdischen Ingenieurs und Rabbi-Nachfahren in Pest geboren.
Seine Familie übersiedelte mit ihm als Baby in die Hauptstadt der neu gegründeten österreich-ungarischen Doppelmonarchie: in Wien galt ein Gesetz, das allen Juden eine volle Staatsbürgerschaft ermöglichte. Allerdings hielt die erwartete bessere Zukunft, die Salzmanns Familie sich erhofft hatte, nicht lange: hohe Schulden machten es dem jungen Siegmund unmöglich, sein Abitur abzuschließen. Um die Familie finanziell zu unterstützen, musste er eine Arbeit bei der „Phönix-Versicherung“ annehmen, die ihn aber langweilte, so dass er nebenher Gedichte und Kurzgeschichten schrieb.
Die erste nachweisliche Veröffentlichung war bereits als „Felix Salten“ ein Gedicht 1889 in der Literaturzeitschrift An der Schönen Blauen Donau. Im Übrigen bleiben seine ersten Jahre schemenhaft, nur wenige Fakten sind bestätigt. 1890 lernte er die Vertreter der Autorengruppe des Jung-Wien kennen, darunter Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr, die die Entwicklung vom Naturalismus zum Ästhetizismus und damit zur Moderne vollzogen und in Bahrs Die Zeit das wichtigste Organ hatten. Als einziger stammte Salten nicht aus großbürgerlichem Milieu und musste vom Schreiben leben. Seine frühen, impressionistischen Novellen schildern den Erfahrungsraum Großstadt.
Affären, Prostituierte und Skandälchen
Mit Arthur Schnitzler freundete er sich an, unternahm mit ihm ausgedehnte Fahrradtouren und unterstützte ihn in seinem Liebesleben: So bandelte er etwa mit der Schauspielerin Adele Sandrock an, um Schnitzler eine Gelegenheit zu geben, seine Beziehung mit ihr zu beenden. Eine Geliebte Saltens wiederum war Lotte Glas, die Schnitzler als Vorbild für die Figur der Therese Golowski in „Der Weg ins Freie“ diente und die er über Karl Kraus kennenlernte. 1895 gebar sie eine Tochter, mutmaßlich seine, die zu einer „Kostfrau“ nach Niederösterreich gegeben wurde, aber kurz darauf starb.
Inzwischen Redakteur der Wiener Allgemeinen Zeitung WAZ, schrieb er als zuständiger Berichterstatter für Kunst und Kultur förderliche Kritiken über ihm verbundene Schriftsteller und machte auch die Bekanntschaft des österreichischen Erzherzogs Leopold Ferdinand. Sein 1901 gegründetes erstes Wiener Kabarett blieb erfolglos. Nach einem Eklat – Salten ohrfeigte Kraus, nachdem dieser seine Beziehung zur Schauspielerin Ottilie Metzl öffentlich gemacht hatte, obwohl er noch mit Glas liiert war – heiratete er Metzl 1902 und bekam mit ihr zwei Kinder. Im Hochzeitsjahr wechselte er zu Bahrs Die Zeit und wurde durch seinen exklusiven Zugang zum Hof der Habsburger landesweit bekannt.
Affären, Prostituierte und Skandälchen waren seine Spezialität. Er berichtete über den Austritt Erzherzog Leopolds aus dem Kaiserhaus wegen einer Prostituierten und über die Affäre von Leopolds Schwester Luise von Österreich-Toskana mit dem Sprachlehrer André Giron. Daneben schrieb Salten unter dem Pseudonym „Sascha“ Berichte über verschiedene Mitglieder europäischer Königshäuser. Den deutschen Kaiser Wilhelm II. schilderte er folgendermaßen: „Die Geschichte wird ihm Eines unbedingt zugestehen, und daran werden auch die Nörgler der Nachwelt nicht zu rütteln vermögen: dass nämlich unter seiner Regierung die Schnurrbärte einen fabelhaften Aufschwung genommen haben.“
Salten pflegte trotz hoher Schulden einen aufwendigen Lebensstil, unternahm 1904 eine Ägyptenreise, urlaubte regelmäßig an der Ostsee und in Venedig. 1906 erschienen dann in einer – um der Zensur zu entgehen: subskribierten – 1000er Auflage beim ungenannten Erotika-Verleger Fritz Freund unter dem Titel „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ die vermutlich fiktiven erotischen Lebenserinnerungen der gleichnamigen Wiener Prostituierten, die 1852–1904 gelebt haben soll. Das Buch wird Salten zugeschrieben: Je nach Lesart waren es die zeitgenössischen Autoren Karl Kraus oder Egon Friedell, die ihn als Urheber nannten.
Pornographie kann Kunst sein
Salten selbst hat sich in dieser Frage nie festgelegt, weder bestätigt noch dementiert. Von Stefan Zweig befragt, habe er nur vielsagend gelächelt: Wenn er sie verleugne, werde Zweig ihm nicht glauben; wenn er das Geheimnis lüfte, werde man meinen, er scherze. Das verrufene Werk soll auf einer Kaffeehaus-Wette gründen. Weder Autor noch Verleger wagten, Ansprüche auf Urheberrecht geltend zu machen. Der Roman gilt laut Oswald Wiener als „der wohl einzige deutsche pornographische Roman von Weltrang“, fand aber erst in den 1970er Jahren nach seiner Verfilmung durch den Regisseur Kurt Nachmann im deutschsprachigen Raum größere Verbreitung.
Viktoria Klimpfinger meint in der Wiener Zeitung, der „heutige Skandal-Wälzer“ ließe „‚50 Shades of Grey‘ wie biedermeierliches Geturtel aussehen. Die Lebensgeschichte der Wiener Prostituierten spart nicht an Bildern, die die Kraft hätten, ganze Generationen zu verstören.“ Die Käufer der Ausgabe, die 1969 bei Rogner & Bernhard erschien, mussten in einem beiliegenden Verpflichtungsschein versichern, das Buch verschlossen aufzubewahren und „Jugendlichen unter 21 Jahren nicht zugänglich zu machen“. In Deutschland wurde es vor allem wegen inzestuöser und/oder pädophiler Aussagen von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften 1982 in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen und 2017 nach 25 Jahren wieder gestrichen. Von Anbeginn wurde gegen die Indexierung prozessiert.
Als das Bundesverfassungsgericht 1990 die Frage, ob der Roman die Jugend gefährde, abschlägig beantwortete, stellte es seinem Urteil die Feststellung voran: „Ein pornographischer Roman kann Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sein.“ Magnus Klaue erklärt in der FAZ: „Die kritiklose Darstellung sexueller Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen bedeutete in der Epoche, in welcher der Roman entstanden ist, nicht den Tabubruch, als der sie dem auf Kinder- und Jugendschutz ausgerichteten Sexualstrafrecht der achtziger Jahre erschien.“ Die Passagen seien „nicht einfach eine Darstellung des Zusammenhangs von Armut, Vernachlässigung und Amoralität“, sondern griffen auf, was etwa Freud oder Wedekind ins Bewusstsein rückten: „die Erfahrung eines ins Fließen geratenen Übergangs zwischen Kindheit und Erwachsensein und der Erosion überkommener Rollenmuster.“
Die zwischenzeitliche Chefredaktion der Berliner Morgenpost 1906 gab Salten im Jahr darauf wieder ab, war für den Pester Lloyd tätig, für das Berliner Tageblatt sowie für die Neue Freie Presse. Biographen beschrieben ihn als „gefragt, berühmt, ungeheuerlich produktiv“. Salten schrieb Erzählungen und Novellen („Die kleine Veronika“, „Olga Frohgemuth“), Romane („Die klingende Schelle“, „Martin Overbeck“), Reiseberichte („Fünf Minuten Amerika“), Porträts („Das österreichische Antlitz“), Theaterstücke („Der Gemeine“, „Schöne Seelen“), Operettenlibretti für Johann Strauß (Sohn) und Filmdrehbücher: Am 16. Oktober 1913 hatte sein erster Film „Der Shylock von Krakau“ in Berlin Premiere. Vieles davon findet sich in der bei Zsolnay erschienenen Werkausgabe in sechs Bänden (1928−1932). Bekannt waren auch seine Monografie über Gustav Klimt sowie sein Buch über das Burgtheater.
Kurz vor dem Krieg wurde er Blattmacher beim Fremdenblatt, der propagandistischen Zeitung des Außenministeriums. Auf seine patriotische Begeisterung folgte bald die Ernüchterung: ab 1918 schwankte Salten nach Angabe seiner Biographen „zwischen einer konservativen taktisch zögernden und einer kämpferischen Haltung mit großen Sympathien für die radikalen politischen Bewegungen“, darunter Marx und Trotzki.
„die Mutzenbacher wirft ein Licht auf Bambi“
1923 veröffentlichte Salten, der als Jäger in Stockerau zwischen den Auwäldern der Donau ein eigenes Jagdrevier hatte, die beiden Tiergeschichten „Der Hund von Florenz“ und „Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“. Auf den ersten Blick mag das Original dieser Lebensgeschichte eines Rehs kindlich und verträumt wirken, doch auf den zweiten Blick erkennt man, dass sie nur jemand verfassen konnte, der die Natur genau und über Jahre studiert hatte, der weiß, was es für ein Tier bedeutet, im Wald zu leben und zu überleben, und wie nahe Freud und Leid beieinander liegen können. Salten berichtet im Detail, was er selbst auf der Jagd alles erlebte, wie die Vögel von den Ästen zwitschern oder der Hase nach dem Schuss über die Wiese rouliert, und lässt seine Erlebnisse geschickt in die Geschichte einfließen. „Bambi wäre niemals entstanden, hätte ich nicht meine Kugel auf das Haupt eines Rehbocks oder Elches gefeuert“, räumte er offen ein.
Dabei kann man Bambi auch religiös lesen: „Bambi erglühte und sprach bebend: ‚Ein anderer ist über uns allen … über uns und über Ihm‘.“ Und man kann Bambi auch und erst recht lesen „als Kontrafaktur der Biographie der ‚Wienerischen Dirne‘ …, die sich als Mädchen in armen Verhältnissen von ihren Liebhabern ‚abrichten‘ lässt, um den Bann ihres Milieus zu brechen, und später junge Frauen ähnlicher Herkunft zum selben Abweg überredet“, findet Klaue. Und er merkt an, „wie wenig hilfreich Unterscheidungen von Kinder- und Erwachsenenliteratur, Kinder- und Jugendgemäßheit sind, sobald es nicht nur um juristische, sondern um ästhetische Qualifizierungen geht.“
In eine ähnliche Kerbe schlug Michael Maar in der Zeit und führt fast genüsslich Karl Kraus‘ Verdikt des „Reh-Sodomiten“ an: Bambiwerfe „kein Licht auf die Mutzenbacher. Aber die Mutzenbacher wirft ein Licht auf Bambi. Alle dort genüsslich ausgeführten Spielarten der fleischlichen Liebe werden hier im Subtext angedeutet.“ Sodann zitiert er „Die ganze Nacht war er mit Faline glücklich gewesen, hatte sich bis in den hellen Morgen mit ihr getummelt“ und später „Im Gegenteil ist er erleichtert, als er Faline, der Mutter seiner beiden Kinder, den Laufpass gibt. ‚Bambi atmete tief. Ihm wurde auf einmal frei zu Gemüt, wie seit langem nicht‘.“
Salten schrieb die Geschichte während eines Sommerurlaubes im Salzkammergut und verfolgte damit durchaus auch pädagogische Absichten: „Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies“. Der Tod von Bambis Mutter rührt noch heute Kindergenerationen zu Tränen. Für wie wirkmächtig die Geschichte noch immer angesehen wird, zeigte im Dezember 2018 ein Gerichtsurteil in den USA: Der Wilderer David Berry, der mit seiner Familie über einen Zeitraum von drei Jahren illegal hunderte Hirsche getötet haben wurde soll, wurde in Missouri dazu verurteilt, im Gefängnis jeden Monat einmal die klassische Verfilmung von Walt Disney anzuschauen.
Zur Disney-Adaption von 1942 existiert die Version, Salten hätte die Rechte 1933 für gerade 1.000 Dollar an den Produzenten Sidney Franklin abgetreten. Franklin schlug Walt Disney einen Animationsfilm auf der Basis des Buchs vor – der Rest ist Geschichte. Mehr als sechs Jahre arbeiteten Disney und sein Team überaus akribisch an den Zeichnungen. Für die dreidimensionalen und damals authentisch wirkenden Hintergründe wurde eigens ein neues Zeichenverfahren entwickelt. Im Film werden weniger als 1.000 Worte gesprochen, dafür gibt es in Dauerschleife passend zu jeder Sequenz säuselnd romantische Chöre.
Das Problem: Aus Informationsmangel oder Übersetzungsfehlern nahmen die Zeichner kein Reh, sondern einen Weißwedelhirsch als Vorlage, aus dem bei der Rücksynchronisation ins Deutsche wieder ein Rehkitz wurde. Dazu kommt, dass Bambi im Film von seinem Vater, einem stattlichen Hirsch, beschützt wird, auch zu einem majestätischen Hirsch heranwächst und am Ende des Films selbst Vater wird. An dieser Stelle tritt ein zusätzlicher Filmfehler zu Tage, nämlich, dass Reh und Hirsch miteinander verwandt sind. Einerlei: Bambi ist immer noch einer der weltweit erfolgreichsten Filme.
profilierter Redner und engagierter Zionist
Sein Verleger drängte Salten, sich beim Schreiben vollkommen auf das profitversprechende Genre „Tiergeschichte“ zu konzentrieren, prompt entstanden „Florian, das Pferd des Kaisers“, die Fortsetzung „Bambis Kinder“, „Renni, der Retter. Das Leben eines Kriegshundes“, „Die Jugend des Eichhörnchens Perri“ oder auch „Djibi das Kätzchen“. Salten schreibt aber auch für die von seinem Freund Theodor Herzl gegründete Welt, sein Palästina-Reisebericht „Neue Menschen auf alter Erde“ ist ein glühendes, wenn auch nicht unkritisches Plädoyer für den politischen Zionismus.
Sein Schwanken zwischen öffentlichem Engagement und einem Rückzug in die Salonkultur entschied er 1927 zugunsten des ersteren: er übernahm von Arthur Schnitzler die Präsidentschaft des österreichischen P.E.N.-Clubs. Als er sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen dem Protest gegen die Bücherverbrennungen der Deutschen verweigerte und angefeindet wurde, trat er 1934 aus dem P.E.N.-Club aus und emigrierte 1939 nach Zürich, wo er von seinen spärlichen Tantiemen lebte. Nacheinander verlor er seinen Sohn bei einem Unfall, später auch seine Frau und starb am 8. Oktober 1945.
Seine Würdigung bleibt so ambivalent wie sein Leben. Einerseits war er einer der profiliertesten Journalisten seiner Zeit, trug zur Etablierung der modernen Literaturkritik bei und lieferte neben 20 Romanen auch zehn Novellensammlungen, 13 Theaterstücke und 17 Filmdrehbücher. Andererseits ist der einst auflagenmächtige feuilletonistische Vielschreiber heute vergessen. Als Emporkömmling eckte er wegen der Freizügigkeit und der liberalen Ideen seiner Werke an, erkennt Andre Schwarz auf dem Portal literaturkritik. Und als profilierter Redner und engagierter Zionist in teilweise herausragender beruflicher Position in einem zunehmend antisemitischen Klima war er vielen unbequem.
Wer den bedeutendsten deutschen Medienpreis als anfangs namenloses Rehkitz aus weißer Keramik erfand, gilt heute immer noch als unklar – nicht jedoch seine Benennung. Nach Aussagen von Gabriele Jacoby, der Tochter der ersten Preisträgerin Marika Rökk, verdanke ihr die Figur den Namen: Sie habe 1948 ihrer Mutter gesagt „Oh, das sieht ja aus wie ein Bambi!“ Seit 1949 wird er dann unter diesem Namen verliehen – an „Menschen mit Visionen und Kreativität, deren herausragende Erfolge und Leistungen sich im ablaufenden Jahr in den Medien widerspiegelten“. Und eine erfolgreiche Medienlaufbahn kann man dem Bambi-Erfinder Felix Salten als Namenspaten nicht absprechen.