„Rose, oh reiner Widerspruch“
3. Dezember 2020 von Thomas Hartung
„Die neuzeitliche Gepflogenheit, dass wir Deutsche immer einen größten Dichter haben müssen – gewissermaßen einen Langen Kerl der Literatur – ist eine üble Gedankenlosigkeit, die nicht wenig Schuld daran trägt, dass seine Bedeutung nicht erkannt worden ist. Weiß Gott, woher sie stammt! Sie kann ebenso gut vom Goethekult kommen wie vom Exerzieren“, schimpft durchaus unfein Robert Musil am 16. Januar 1927 im Renaissance-Theater Berlin, wo die „Gruppe der 25“, übrigens gegen den erklärten Willen Bertolt Brechts, eine Gedenkfeier ihm zu Ehren veranstaltete: Rainer Maria Rilke. Als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde er am 4. Dezember 1875 in Prag geboren.
Vater Josef gelang die angestrebte militärische Karriere nicht, er war Eisenbahninspektor geworden. Seine Mutter „Phia“ (Sophie), die einer wohlhabenden Prager Fabrikantenfamilie entstammte und ihre Hoffnungen auf ein vornehmes Leben in der Ehe nicht erfüllt sah, galt als ambitionierte und dominierende Frau, deren Ehrgeiz auf den Wohlstand der Familie gerichtet war – den sie nun nicht erreichen konnte, was zu einer angespannten Familiensituation führte. Zudem hatte sie bei seiner Geburt den Tod ihrer älteren Tochter noch nicht verkraftet, die 1874 im Alter von einer Woche gestorben war. Rilkes Mutter übertrug nicht nur ihre unerfüllten Ambitionen auf den einzigen Sohn, sondern drängte ihn auch in die Rolle der verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er als Mädchen erzogen, frühe Fotografien zeigen René – französisch für „der Wiedergeborene“ – mit langem Haar im Kleidchen. Er wuchs ohne nennenswerte Kontakte zu Gleichaltrigen auf.
Das Verhältnis zwischen dem Überbehüteten und der Mutter, die ihren Sohn noch um fünf Jahre überleben sollte, überschattete sein Leben. Mit sechs Jahren besuchte Rilke eine katholische Volksschule im vornehmsten Viertel von Prag und brachte trotz kränklicher Konstitution gute Leistungen. 1884 zerbrach die Ehe der Eltern, die fortan ohne Scheidung getrennt lebten. Eine kurze Zeit wurde René von seiner Mutter allein erzogen, bevor seine Eltern ihn in die Kadettenanstalt St. Pölten zur Vorbereitung auf eine Offizierslaufbahn gaben. Die Zumutungen militärischen Drills und die Erfahrungen einer reinen Männergesellschaft traumatisierten den zarten Knaben zusätzlich, nach sechs Jahren brach er die Ausbildung, die er dichtend und zeichnend zu bewältigen versuchte, krankheitshalber ab.
1891 besuchte er die Handelsakademie von Linz, wo allerdings eine Affäre mit einem Kindermädchen, das mehrere Jahre älter war, einen weiteren Akademiebesuch verhinderte. Der militärischen als auch der kaufmännischen Karriere gleichermaßen beraubt, bereitete er sich mittels Privatunterricht auf das Abitur vor und bestand es 1895. Kurz darauf schrieb er sich in Prag zum Studium für Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie ein, wechselte 1896 an die juristische Fakultät in Prag und bereits im September desselben Jahres an die Universität von München. Nach halbherzigen Studienambitionen entschloss er sich, nachdem bereits 1894 sein erster Gedichtband „Leben und Lieder“ erschienen war, kurzerhand dazu, sein Studium abzubrechen und fortan als freier Dichter zu arbeiten.
„sachliches Sagen“
Mit dieser Entscheidung begann für ihn ein unkonventionelles, unstetes Reiseleben: Nirgends hielt es ihn länger, ständig zog es ihn weiter. Er wohnte in dubiosen Mietswohnungen ebenso wie bei Freunden und Gönnern auf Schlössern. Sein lyrisches Frühwerk („Larenopfer“, 1895; „Advent“, 1898) wird der Neuromantik zugerechnet und ist durch Formtreue und subjektive Einfühlsamkeit gekennzeichnet. Ornamentale und sentimentale Züge sowie das dialoghafte Ansprechen eines geliebten Gegenübers finden sich dort ebenso wie das Einssein des Dichters mit der Natur. Im März 1897 führten ihn seine Wege erstmals nach Venedig und zwei Monate darauf, wie der zurück in München, zu Lou Andreas-Salomé. Die um einiges ältere Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin wurde nicht nur für drei Jahre zu seiner erotischen Freundin, sondern auch zeitlebens zur emanzipierten und geistigen Lebenspartnerin.
Kurze Zeit nach der Begegnung änderte er seinen ursprünglichen Namen René in Rainer: Lou empfand den Namen als männlicher und passender für einen Dichter. Sigmund Freud berichtet 1937, „dass sie dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen war“. Im Herbst 1897 zog Rilke um nach Berlin in direkte Nachbarschaft von Lou. 1899 und 1900 war er mit ihr zweimal in Russland unterwegs, betrieb Studien für eine geplante, aber nie geschriebene Monografie über russische Maler, traf Tolstoi und Pasternak, der daraus die autobiografische Geschichte „Der Schutzbrief“ machte. Als Rilke von Lous Trennungsabsichten erfuhr, hielt er sich gerade in der Künstlerkolonie Worpswede bei Heinrich Vogeler auf, der ihn zu einem längeren Aufenthalt eingeladen hatte. Im Haus von Vogeler verkehrte unter anderen auch die Bildhauerin Clara Westhoff, die im Frühjahr 1901 Rilkes Frau wurde.
Im Dezember desselben Jahres kam seine Tochter Ruth zur Welt. Doch Rilke entzog sich allen seiner zahlreichen Liebesbeziehungen, bevor sie zu seinem Schicksal werden konnten. Sobald Zuneigung und Liebe für ihn zur Verpflichtung zu werden drohten, verließ er seine Beziehungen. Trotzdem versuchte er bei Westhoff zu einem familiären Leben zu gelangen – vergebens. Schon 1902 trennte er sich von ihr – Mittellosigkeit zwingt ihn zur Auflösung des Hausstandes und zur Übernahme monographischer Auftragsarbeiten – und ging nach Paris, blieb jedoch über alle weiteren Lebensjahre mit ihr verbunden.
Der „Panther“, das erste der „Neuen Gedichte“, entsteht; und seine Monografie über den Bildhauer Auguste Rodin. Dessen Bekanntschaft sowie weitere Reisen nach Paris, Rom und Skandinavien verändern Rilkes poetische Produktionsweise zugunsten eines „sachlichen Sagens“, man spricht später von „Dinglyrik“. 1905 erscheint das „Stunden-Buch“; Rilke nimmt sein Philosophiestudium in Berlin bei Georg Simmel wieder auf. Im Jahr darauf ist er für kurze Zeit Privatsekretär bei Rodin, mit dem er sich überwirft, und veröffentlicht die zur Zeit der Jahrhundertwende entstandene und durch den Jugendstil beeinflusste „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. In einer Nacht herunter geschrieben, wurde sie später Nummer 1 der Insel-Bücherei und sofort – wie auch viele andere Werke dieser Reihe – zum Bestseller: Allein zu Lebzeiten Rilkes wurden 200.000 Stück verkauft. Für den Leipziger Insel Verlag, dessen Leitung Anton Kippenberg 1905 übernommen hatte, wurde Rilke zum wichtigsten zeitgenössischen Autor: Kippenberg erwarb für den Verlag bis 1913 die Rechte an allen bis dahin verfassten Werken Rilkes.
Die lyrisch-impressionistische Prosa vermittelt Gefühle von Jugend und Lebenshunger, Liebe und Tod. Besonderer Popularität erfreute sich das romantisierte Soldatentum aus dem 17. Jahrhundert in der Zeit der beiden Weltkriege. Das letztlich zeitlos-universelle Schicksal des jungen Soldaten schwankt zwischen Glorifizierung des Heldentodes und der Sinnlosigkeit (jungen) Sterbens, Gefühlen von überzogener Ehre, Verlust und Traurigkeit. Dem Langemarck-Mythos zufolge hatten die „jungen“ Regimenter das Deutschlandlied auf den Lippen und „Rilkes Cornet im Tornister“. 1908 schreibt er zur Erinnerung an die verstorbene Paula Modersohn-Becker das „Requiem für eine Freundin“, vollendet „Der neuen Gedichte anderer Teil“ (1908) sowie die beiden „Requiem“-Gedichte (1909) und veröffentlicht 1910 seinen Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an dem er seit 1904 gearbeitet hat.
„die Welt synthetisch generieren“
Dieser gehört fraglos zum Kanon der klassischen Moderne, befindet Rilkes Biograph Ralph M. Köhnen. Ausgehend von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen mit Großstadtimpressionen, entwickle er in avantgardistischer Weise den Versuch, „durch Vielfalt des Erzählens, Polyperspektive, Montagetechnik und Aufbau synthetischer Raum- und Zeitbegriffe der Erfahrung des heterogenen modernen Lebens und des akzelerierten Großstadttempos eine Langerzählung an die Seite zu stellen“. Fragment geblieben, zeigt der Roman auch formal die Krisis der Moderne, die er trotz Reizüberflutung, Gewalt, Krankheit, Armut, Angst und Tod bei aller Fremdheit aber nicht ablehnt. Rilkes Modernität erweise sich vielmehr darin, dass er den Weltzweifel als dichterische Chance wertet: „Wenn die innere und die äußere Welt mit Sprache nicht adäquat dargestellt werden können, so kann man aus sprachlichen Entwürfen diese Welten schöpfen bzw. aus sprachlichen Einzelteilen die Welt synthetisch generieren“, so Köhnen.
Seine anschließende Schaffenskrise sucht er wiederum mit Reisen zu kompensieren. 1910/11 reiste er nach Nordafrika, was sich ebenso auf sein Spätwerk auswirkte wie der Aufenthalt auf Schloß Duino bei Triest bis Mai 1912, zu dem ihn seine bedeutendste Förderin, Fürstin Marie von Thurn und Taxis, eingeladen hatte und wo er die „Duineser Elegien“ begann. Anschließend reiste er nach Spanien, hielt sich erneut in Paris auf, um 1914 nach München überzusiedeln. Es sollten fünf Jahre werden: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überraschte ihn. Nach Paris konnte er nicht mehr zurückkehren; sein dort zurückgelassener Besitz wurde beschlagnahmt und versteigert. Zu Beginn schreibt er fünf „Kriegsgesänge“, doch seine anfängliche Kriegsbegeisterung weicht der Erschütterung.
So beginnt er Übersetzungen zu verfertigen, und überträgt Werke von Michelangelo, Petrarca, Paul Valery, Paul Verlaine, Stephane Mallarme und André Gide ins Deutsche. Auf der Suche nach neuer Inspiration setzte er sich erstmals auch intensiver mit dem Werk Goethes und Shakespeares auseinander. Von 1914 bis 1916 hatte er eine stürmische Affäre mit der Malerin Lou Albert-Lasard. Anfang 1916 wurde Rilke eingezogen und musste in Wien eine militärische Grundausbildung absolvieren, wo er in der Breitenseer Kaserne im Westen der Stadt stationiert war. Auf Fürsprache einflussreicher Freunde wurde er zur Arbeit ins Kriegsarchiv und ins k.u.k. Kriegspressequartier überstellt und am 9. Juni 1916 aus dem Militärdienst entlassen. Das traumatische Erlebnis des Militärdienstes, empfunden auch als eine Wiederholung in der Militärschulzeit erfahrener Schrecken, sowie weitere für ihn enttäuschende Liebschaften ließen Rilke als Dichter danach nahezu völlig verstummen. Allerdings erkannte er diese scheinbar verlorenen Jahre später selbst als Inkubationszeit und Bedingung für weiteres Reifen.
Er macht die Bekanntschaft von Hanns Eisler und Ernst Toller und verlässt München 1919, um an wechselnden Orten in der Schweiz zu wohnen, zuletzt im Chateau de Muzot im Kanton Wallis, das ihm sein Schweizer Mäzen Werner Reinhart mietfrei zur Verfügung stellte. Hier vollendete er auf dem Höhepunkt seines Schaffens 1922/23 die „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“. Er versuche, seine Existenzverzweiflung dichterisch aufzulösen, indem er in der Kunstsprache Innen- und Außenwelt zum „Weltinnenraum“ verwebt, in dem die festen Zeitstufen und Raumkategorien aufgelöst sind, meint Köhnen. Diese „neue Mythologie“ spiegele sich in den Gedichtfiguren: Engelsfiguren treten auf, Liebende, Verzweifelnde und Hoffende, jung Verstorbene, die im dichterischen Eingedenken lebendig werden, schließlich Orpheus, der mythische Liebende und Sänger, der zugleich Selbstbild des Dichters wird.
„Differenz zur Alltagssprache“
1924 erkrankte Rilke an einer seltenen Form der Leukämie, was häufige Sanatoriumsaufenthalte zur Folge hatte. Der lange Paris-Aufenthalt von Januar bis August 1925 war ein Versuch, der Krankheit durch Ortswechsel und Änderung der Lebensumstände zu entkommen. Indes entstanden in den letzten Jahren zwischen 1923 und 1926 noch zahlreiche wichtige Einzelgedichte (etwa „Gong“ und „Mausoleum“) sowie ein umfangreiches lyrisches Werk in französischer Sprache, das an die Lyrik des französischen Spätsymbolisten Paul Valéry anknüpfte.
Im Januar und Februar 1926 schrieb Rilke der Mussolini-Gegnerin Aurelia Gallarati Scotti drei Briefe nach Mailand, in denen er die Herrschaft Mussolinis lobte, den Faschismus als „Heilmittel“ pries und staatliche „Gewalt“ billigte: Er war bereit, eine gewisse, vorübergehende Gewaltanwendung und Freiheitsberaubung zu akzeptieren, um über Ungerechtigkeiten hinweg zur Aktion zu schreiten. Italien sah er als das einzige Land, dem es gut gehe und das im Aufstieg begriffen sei. Mussolini sei zum Architekten des italienischen Willens geworden, zum Schmied eines neuen Bewusstseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzünde. „Glückliches Italien!“ rief Rilke aus, während er den Ideen der Freiheit, der Humanität und der Internationale eine scharfe Absage erteilte. Sie seien nichts als Abstraktionen, an denen Europa beinahe zusammengebrochen wäre.
Er starb am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont sur Territet bei Montreux und wurde am 2. Januar 1927 – seinem Wunsch entsprechend – in der Nähe seines letzten Wohnorts auf dem Bergfriedhof von Raron beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht der von Rilke selbst verfasste Spruch:
Postum erschienen sein Buch „Dichtungen des Michelangelo“ und sein umfangreiches Briefwerk. Rilke verstand sich nicht als Schulengründer und ist so auch kaum rezipiert worden, sieht man von der Naturlyrik der 1920er bis 1950er Jahre und von einzelnen Autoren wie Peter Handke ab. Populär wurde insbesondere sein von neuromantischer Schwärmerei und Dichteremphase getragenes Frühwerk. Die Rubrizierung seines Œuvres unter eine Epoche oder eine bestimmte Richtung ist kaum möglich; akzeptiert ist allenfalls die Zurechnung zum Symbolismus. Eine Perspektive, die sich bis heute durchgesetzt hat, zielt über die Motive hinaus „auf jene Besonderheiten der Dichtungssprache bei Rilke, deren Differenz zur Alltagssprache nach wie vor Entdeckungen zulässt“, so Köhnen. Seine kühne Metaphorik rings um Abstrakta wie Gott, Stille, Existenz, Trauer oder Zeit gilt bis heute als unerreicht.
Seine Werke sind häufig vertont oder musikalisch bearbeitet worden: In der langen und illustren Reihe seiner Adepten finden sich etwa Alban Berg, Arnold Schönberg, Leonard Bernstein, Dmitri Schostakowitsch und selbst Udo Lindenberg. Populär geworden ist vor allem die musikalische Annäherung an Rilkes lyrisches Werk durch das „Rilke Projekt“, das im Jahr 2001 begonnen wurde. In bisher vier CD-Veröffentlichungen interpretieren bekannte zeitgenössische Schauspieler und Musiker Texte von Rilke. Die ersten drei CDs erreichten Goldstatus. Zu den bekanntesten Mitwirkenden gehören Ben Becker, Mario Adorf, Iris Berben, Nina Hagen und Xavier Naidoo. „Generationen deutscher Leser galt und gilt er als Verkörperung des Dichterischen, sein klangvoll-rhythmischer Name wurde zum Inbegriff des Poetischen“, befand 2007 Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki. Damit hat er 13 Jahre später immer noch Recht.