„Selbsterlebtes erschien mir nicht immer wichtig“
25. März 2019 von Thomas Hartung
„Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen.“ So steht es im Befehl 772989/44 zur „Verteidigung des Brückenkopfes Paris“ aus dem Oberkommando der Wehrmacht, den Stadtkommandant Dietrich von Choltitz am 23. August 1944 erhielt. Der General, 49 Jahre alt, ein Veteran schon des Ersten Weltkriegs, hat an nahezu allen Fronten gekämpft, in Russland, in Italien und in der Normandie. Er will seine „Pflicht tun“, wie er sagt, und benutzt die Ausrede aller Machtbeladenen, die vor der persönlichen Verantwortung fliehen: „Ich habe jetzt keine Wahl mehr.“
Der Verlust von Paris, so steht es im Befehl, habe in der Geschichte bisher immer den Fall von ganz Frankreich bedeutet. Aber was hätte die Zerstörung von Paris in der Geschichte bedeutet? Choltitz muss sich entscheiden, so oder so werden die Pariser, ja wird die Welt sich an ihn erinnern – als Henker oder als Retter der „Stadt des Lichts“, die für die deutschen Soldaten vier Jahre lang der schönste Standort im ganzen Krieg war, ein Ruhepol und ein Erholungszentrum inmitten des in Ruinen zerfallenden Europa. Die 1525 Tage dauernde Besetzung der französischen Hauptstadt durch die Deutschen neigt sich dem Ende zu.
„Diplomatie“, das Historiendrama Volker Schlöndorffs, das im Spätsommer 2014 in die deutschen Kinos kam, zeigt die letzten Stunden vor der Befreiung von Paris. Der Film besteht fast nur aus einem Dialog zwischen zwei Männern, den es in Wirklichkeit so sicher nicht gegeben hat, aber hätte geben können: dem Stadtkommandanten Choltitz und seinem Überraschungsbesucher, dem schwedischen Konsul Raoul Nordling, der den deutschen General mit dessen Gewissenskonflikt konfrontiert und ihm die bequeme Berufung auf den Befehlsnotstand – die Entschuldigung unzähliger Kriegsverbrechen – Zug um Zug verbaut. Am Ende setzt der Diplomat den Militär schachmatt: Choltitz lässt sich am 25. August 1944 gegen 15 Uhr im Hotel Meurice von den Siegern gefangen nehmen und abführen. Paris brannte nicht. Als „Brennt Paris?“ war die Geschichte schon 1966 unter anderem mit Gert Fröbe als Choltitz prominent verfilmt worden.
Es war das einzige Mal, dass der frankophile Schlöndorff einen bereits verfilmten Stoff erneut aufgriff – im Gegensatz zu weltliterarischen Vorlagen, die er detailverliebt und mit viel Engagement auf die Leinwand brachte, so bereits seinen Erstling „Der junge Törless“. Nach dem Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil schrieb er 1963-65 das Drehbuch und realisierte den Streifen auch als Regisseur. Der Film wurde hochgelobt, in den Kategorien Drehbuch, Regie und Bester Film mit dem Deutschen Filmpreis und mit dem Kritikerpreis des Filmfestivals von Cannes ausgezeichnet; er gilt als der erste internationale Erfolg des jungen deutschen Films.
„Leseerlebnisse waren dagegen Offenbarungen“
Ein Leben als Regisseur und Drehbuchautor war Volker Schlöndorff als zweitem von drei Söhnen einer Arztfamilie nicht in die Wiege gelegt. Geboren am 31. März 1939, verliert er seine Mutter 1944 bei einem Küchenbrand. Er wächst in Schlangenbad im Taunus auf, war ein stilles Kind, geprägt von einer frühen, universellen Liebe zum Fiktionalen, Erzählten, zu Geschichten und Charakteren: „Selbsterlebtes erschien mir nicht immer wichtig, Leseerlebnisse waren dagegen Offenbarungen“, zitiert ihn kinofenster.de. „Lesen“, erzählt er in seiner Autobiografie „Licht, Schatten und Bewegung“, hieß „zu erfahren, wie andere Menschen sind und wie sie leben“. Er besuchte erst das Gymnasium in seinem Geburtsort und setzte im Anschluss an einen Schüleraustausch ab 1955 seine schulische Ausbildung in Frankreich fort, zuletzt an der Pariser Eliteschule „Lycée Henri IV“ mit dem späteren Regisseur Bertrand Tavernier als Sitznachbar.
Während seine Brüder in die Fußstapfen des Vaters traten und Mediziner wurden, studierte er in Paris zunächst Jura und bereitet sich auf die Aufnahme an der Filmhochschule vor: in der Cinéma-thèque française in Paris sah er sich allabendlich zwei bis drei Filme an und lernte wohl auch Regisseure der Nouvelle Vague kennen. Als einer von elf aus 300 Bewerbern ausgewählt, ließ er das Studium verfallen, da er 1960 bei Louis Malle als Regieassistent arbeiten und später auch bei Ludwig Berger, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais hospitieren konnte. Damit stand ihm die Tür zu einer Filmkarriere auch ohne akademische Ausbildung offen.
1967 stellt er in „Mord und Totschlag“ die Klischees des Kriminalfilms auf den Kopf, indem er nicht die Aufklärung des Verbrechens in den Mittelpunkt stellt, sondern die Bemühungen der Täterin, ihre Tat, den Mord an ihrem Freund, zu vertuschen. Der zwei Jahre später ertrunkene Rolling Stones-Gitarrist Brian Jones schrieb die Musik dazu, die FSK stufte die Altersfreigabe erst 2018 von 18 auf 16 Jahre herunter. 1969 und 1974 gründet Schlöndorff mit verschiedenen Partnern zwei Produktionsfirmen. 1969 verfilmt er Kleists „Michael Kohlhaas“, 1970 Brechts „Baal“, der 44 Jahre verboten war und erst zur Berlinale 2014 wieder gezeigt wurde.
1971 heiratet Volker Schlöndorff die Schauspielerin und Regisseurin Margarethe von Trotta, die mit ihm als Schauspielerin, Regie-Assistentin, Co-Regisseurin und Co-Autorin arbeitet. Die Beziehung wird 20 Jahre halten und bereits 1975 im mehrfach ausgezeichneten Film „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nach der gleichnamigen Erzählung von Nobelpreisträger Heinrich Böll einen künstlerischen Höhepunkt erreichen. Thematisiert wurde darin die negative, konfliktverstärkende Rolle des Sensationsjournalismus im Zusammenhang mit dem RAF-Terrorismus der 1970er Jahre.
Dafür wurde Schlöndorff von der Springer-Presse massiv angegriffen und von der CSU als „hauptverantwortlicher Informationsstratege der RAF“ diffamiert. Die Kritik zog seinen Ausstieg aus dem Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt nach sich, dem er auf Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion von 1974 bis 1978 angehörte. Der SPD stand Schlöndorff über Jahrzehnte nahe, ohne ihr Mitglied zu sein. 1999 nimmt er das RAF-Thema in „Die Stille nach dem Schuss“ mit DDR- und Stasi-Bezug erneut auf und plädiert 2007 in der Debatte um die Freilassung der Ex-Terroristen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt für Gnade. Dieses Muster, bestimmte für ihn „unabgeschlossene“ Geschichten abermals aufzugreifen, zieht sich menschlich wie künstlerisch durch sein Leben.
Nach der schwermütigen Verfilmung von Marguerite Yourcenars russischem Bürgerkriegsdrama „Der Fangschuß“ gelang Schlöndorff 1979 der internationale Durchbruch mit der Verfilmung von Günter Grass’ gleichnamigem Weltkriegsepos „Die Blechtrommel“. Ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes und dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film markiert der Streifen den ersten Höhepunkt der internationalen Anerkennung des deutschen Films nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. „Papas Kino, gegen das Alexander Kluge, Wim Wenders oder Rainer Werner Fassbinder dereinst angetreten waren, schien endlich abgeschafft“, jubelt Thomas Winkler auf kinofenster.de.
„Ich wollte endlich mal über mich reden“
Es war der Moment, in dem der Neue Deutsche Film aber auch erkennen musste, dass er nun selbst angekommen war in dem Establishment, das er doch eigentlich bekämpft hatte. In die polnische Werftstadt Danzig, wo die Dreharbeiten unter anderem stattfanden, kehrt Schlöndorff 2005 zurück, um die Geschichte von Anna Walentynowicz zu verfilmen: einer auf der Werft beliebten, aber vom Schicksal gezeichneten Kranführerin und wichtigsten Mitgründerin der polnischen Solidarność. Der Film kam 2007 unter dem Titel „Strajk – Die Heldin von Danzig“ in die Kinos.
Nach dem Erfolg der Blechtrommel ging Schlöndorff mit der Absicht in die USA, auch den Rest seines Lebens dort zu verbringen – mit dem Fall der Mauer sollte er seine Lebensplanung ändern und von New York nach Potsdam ziehen. Zunächst drehte er „Die Fälschung“ (1981) nach dem Roman von Nicolas Born. Der medienkritische Streifen zählt zu seinen interessantesten Literaturverfilmungen und wurde mit Bruno Ganz und Hanna Schygulla während des libanesischen Bürgerkriegs in Beirut realisiert. „Eine Liebe von Swann“, 1984 nach dem gleichnamigen Kapitel aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verfilmt, bezeichnete er selbstkritisch als „weitgehend gescheitert“.
1985 verpflichtete er Dustin Hoffman, Kate Reid und John Malkovich für seine preisgekrönte Fernsehverfilmung „Tod eines Handlungsreisenden“ nach dem gleichnamigen Drama von Arthur Miller. 32 Jahre später nimmt er Hoffman gegen Vorwürfe der sexuellen Belästigung in Schutz: Eine damals 17-jährige Praktikantin hatte dem Hollywood-Star vorgeworfen, sie am Set von Schlöndorffs Film sexuell belästigt zu haben. Schlöndorff nannte die Vorwürfe in der ZEIT eine „lächerliche Anklage“.
1990 schafft Schlöndorff mit „Die Geschichte der Dienerin“, einer Verfilmung des dystopischen Romans „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, einen weiteren künstlerischen Höhepunkt: In einer düsteren Zukunftsvision werden Frauen von Fremden in einem religiös-fundamentalistischen Nachfolge-Teilstaat der USA zum Gebären gezwungen. Im Jahr darauf verfilmt er Max Frisch’s „Homo Faber“. Aus Dankbarkeit hat Frisch Schlöndorff damals seinen Jaguar geschenkt: „Da, wo ich hingehe, brauche ich ihn nicht mehr“. Die Kritik verreißt den Streifen aber als „zu ehrfürchtig“.
Das verwunderte nicht unbedingt, verband Schlöndorff mit dem Schweizer Schriftsteller auch eine Freundschaft, die mehr als 15 Jahre nach dessen Tod im Film „Rückkehr nach Montauk“ einen gemeinsamen Höhepunkt fand: Das Drehbuch war nicht nur eine Art doppelte Autobiographie, sondern auch der erste Film über Schlöndorffs eigenes Leben: „Ich wollte endlich mal über mich reden“, sagte er dem SPIEGEL. Denn in seiner Autobiografie hatte Schlöndorff einige seiner Frischs Leben ähnelnden Liebeswirrungen angedeutet und beschrieben: Die Trennung von seiner langjährigen Ehefrau Margarethe von Trotta, seine Zerrissenheit zwischen drei Frauen in den Trennungsjahren.
Damals schrieb er: „Fehlte mir der Mut, mich dem wirklichen Leben zu stellen? Floh ich immer noch ins Literarische? Mit Möglichkeiten spielend, statt mich zu entscheiden?“ Seit 1992 ist er in zweiter Ehe mit der Schnittmeisterin Angelika Gruber verheiratet, mit der er eine Tochter hat. Im selben Jahr wird er Geschäftsführer des Filmstudios Babelsberg und ist für die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin als Dozent tätig.
„Schludern“ und „Pfuschen“
1996 verfilmte Schlöndorff prominent den Roman „Der Erlkönig“ von Michel Tournier: Eine „ambitionierte, aufwendige Literaturverfilmung, die versucht, die Faszination des nationalsozialistischen Kultes auf ihre mythischen und romantischen Wurzeln hin zu durchleuchten“, verheißt das „Lexikon des internationalen Films“. In der Geschichte um die Napola-Burg Kaltenborn spielen neben John Malkovich in der Hauptrolle auch Armin Mueller-Stahl, Gottfried John und Marianne Sägebrecht.
Trotz seiner SPD-Nähe unterstützte Schlöndorff 2005 und 2009 im ARD-Morgenmagazin die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel in ihrem Wahlkampf: „Wer nach 1989 noch links ist, muss ein Brett vor dem Kopf haben.“ Schlöndorff bezog diese Aussage allgemein auf „die linke Ideologie“ und im Besonderen auf die „Planwirtschaft“, welche die Menschen unselbständig und unmündig gemacht habe, was er während der Privatisierung der DEFA selbst erleben konnte. Merkel werde die Gesellschaft nicht spalten, sondern sozialpartnerschaftlich handeln. Im Jahr 2010 empfahl er Merkel in einem offenen Brief im Cicero eine Rückkehr in ihren „eigentlichen Beruf“ nach Ablauf ihrer Amtszeit.
Dazwischen, 2008, sollte Schlöndorff bei der von ihm seit Jahren geplanten Verfilmung von „Die Päpstin“, dem historischen Bestseller von Donna Woolfolk Cross, die Regie übernehmen, wurde jedoch von der Produktionsfirma entlassen: Er hatte öffentlich eine „unheilige Allianz von Film- und Fernsehproduzenten“ kritisiert, die zwei Fassungen für das Kino und als Fernsehmehrteiler drehen wollten. Die unterschiedlichen Dramaturgien eines Kinofilms und Fernsehfilms würden zum „Schludern“ und „Pfuschen“ führen, zu einem sogenannten „Amphibien-Film“.
Daraufhin wurde ihm von Constantin Film mit der Begründung gekündigt, er habe das Vertrauensverhältnis verletzt. Seine (generelle) Kritik habe außerdem der Produktion geschadet. Schlöndorff wollte wohl nicht geschmeidig genug sein für die neuen ökonomischen Realitäten. Statt seiner übernahm der 20 Jahre jüngere Sönke Wortmann das Kommando bei den Dreharbeiten – und Schlöndorff hat Zeit, seine Autobiographie zu schreiben. 2009 bekommt er die Carl-Zuckmayer-Medaille für das „große Gerechtigkeitsempfinden“ in seinen Filmen: Seine Figuren wüssten sich immer selbst zu helfen und stünden dabei „immer kurz vor ihrer Verwandlung“, so Laudator Thomas Koebner.
2011 lieferte Schlöndorff mit der Verfilmung von Ernst Jüngers „Zur Geiselfrage“ unter dem Titel „Das Meer am Morgen“ einen weiteren Mosaikstein zu seiner Auseinandersetzung mit dem 2. Weltkrieg. Am Nachmittag des 22. Oktober 1941 werden in der Bretagne, als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf einen deutschen Offizier, 27 französische Geiseln aus einem Internierungslager bei Choisel durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Der Jüngste der Erschossenen, Guy Môquet, ist gerade mal siebzehneinhalb. In seinem Abschiedsbrief heißt es: „Gewiss würde ich gerne leben, aber was ich von ganzem Herzen wünsche, ist, dass mein Tod zu etwas gut sein möge.“
Im Auftrag von General Otto von Stülpnagel hatte Jünger die Vorgänge um die Exekutionen und weitere Vergeltungsmaßnahmen gegen den französischen Widerstand in einem Geheimbericht zu Papier gebracht. Sein Text, ergänzt um von ihm übersetzte Abschiedsbriefe der Exekutierten, tauchte erst nach Jüngers Tod in dessen Nachlass auf und wurde 2003 veröffentlicht. Jüngers fahrlässige Formulierung „In Nantes sind die ersten Geiseln hingerichtet worden. Ohne Zwischenfälle, ohne Gewaltanwendung“ greift der Film jedenfalls dankbar auf, ehe der Denker mit dem Eisernen Kreuz zu philosophieren beginnt: „Der Mensch scheint erst im Angesicht des Todes zu seiner wahren Größe zu finden.“ Den Abschiedsbrief von Guy Môquet ließ Nicolas Sarkozy am Tag seines Amtsantritts als Staatspräsident im Mai 2007 erstmals öffentlich verlesen. Seither wird sein Text am Todestag, dem 22. Oktober, an allen Schulen Frankreichs von Schülern vorgetragen.
Auch wenn manche seiner über 30 Streifen heute künstlerisch nicht mehr unbedingt zu überzeugen wissen, auch wenn sein langjähriges Wirken als Geschäftsführer der Filmstudios Babelsberg von steter Kritik begleitet war: Schlöndorff ist aus dem deutschen Film nicht mehr wegzudenken. Er ist zur Institution geworden, reist als Jury-Präsident zum Filmfestival nach Teheran, schreibt Grundsätzliches zur Globalisierung des Kinos und ist eine prägende Figur der Kulturpolitik und des Filmgeschäfts in Deutschland – unabhängig von allen parteipolitischen Präferenzen. Das ist selten und lässt hoffen.