Wo Welten walten…
31. März 2011 von Thomas Hartung
Vor 100 Jahren (und ein paar Tagen mehr; 11.01.1911, „Der Demokrat“, Berlin) wurde Jacob van Hoddis‚ „Weltende“ erstmals publiziert – bis heute das „expressionistische Manifest“. Mich hat der Text seit meinem Studium nicht mehr losgelassen.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Spätestens seit letztem Jahr muss ich angesichts der Realität fast täglich daran denken. Nicht nur, dass die Form noch absolut stimmig ist, der Inhalt ist es auch. Gut (oder besser: schlecht), Flut und Sturm gingen noch andere Katastrophen voraus bzw. folgten ihnen nach. Und gerade das ängstigt mich. Ich hätte heute – einerlei, ob ich in Dresden oder Fukushima lebte – so getextet:
Weltende Zwo
Dem Banker birst vor gelber Gier der Bauch,
Auf mancher Straße schwimmt schon mancher Hai.
Entführte Kinder schrein und gehn entzwei
Und die Minister – sieht man – gehen auch.
Der Brand ist da, die keuschen Künste steigen
Aufs Dach und brechen sich dabei die Beine.
Die kurze Asche trübt das lange Schweigen.
Die Vögel fallen röchelnd auf die Steine.