„Ich bin nun einmal hoffnungslos konservativ“
4. Januar 2019 von Thomas Hartung
Mal war er unerhört hellsichtig: Den weißen Südafrikanern drohe, „wenn sie zur ewigen Minderheit verdammt“ würden, das „Los der Juden in Deutschland“. Mal war er einfach nur provokant: er erwog, den Berliner Bürgermeister Willy Brandt, der wenig später auf „Wandel durch Annäherung“ setzte, wegen Landesverrats anzuzeigen. Mal war er für und mal gegen ein einheitliches Deutschland; mal glühender Antikommunist, und mal verklärte er die DDR; mal verehrte er Preußen und mal verdammte er es. Mal verglich er den „widerwärtigen“ Ulbricht mit Hitler und nannte ihn einige Jahre später einen „Politiker ersten Ranges“; mal bezeichnete er die Bundesrepublik als Bastion der Rechtsstaatlichkeit und dann als ein Gemeinwesen, das nach „Peitschenleder“ und „Pogrom“ roch.
Dass er sein Millionenpublikum oftmals in die Irre führte, hat ihn kaum gestört. Er hatte die Chuzpe, historische Bücher, die er im Alter von weit über 50 Jahren veröffentlichte, als „Jugendsünden“ abzutun. Für alles, was noch weiter zurücklag, nahm er das „Prinzip der Verjährung“ in Anspruch: Ein Achtzigjähriger könne nicht mehr für das verantwortlich gemacht werden, was er als Dreißigjähriger getan habe. „Das sind zwei verschiedene Menschen, obwohl sie denselben Namen tragen.“
Unerreicht bis heute sind seine sarkastischen Schilderungen Hitlers, bspw. die in der postum erschienen „Geschichte eines Deutschen“:
„Die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick … Kein Mensch hätte sich gewundert, wenn dieses Lebewesen bei seiner ersten Rede von einem Schutzmann am Kragen genommen und irgendwo abgestellt worden wäre, wo man nie wieder etwas von ihm sah und wohin es ohne Zweifel gehörte.“
Der Mann, der das schrieb, liebte zwar sein Land, wusste aber mit dem Volk wenig anzufangen, von dem nur eine Minderheit etwas vom Leben verstünde:
„Ungefähr zwanzig Jahrgänge junger und jüngster Deutscher waren daran gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensinhalt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für Liebe und Hass, Jubel und Trauer, aber auch alle Sensationen und jeden Nervenkitzel sozusagen gratis aus der öffentlichen Sphäre geliefert zu bekommen – sei es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, Wirrsal und Gefahr … So empfanden sie das Aufhören der öffentlichen Spannung und die Wiederkehr der privaten Freiheit nicht als Geschenk, sondern als Beraubung …
Und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung … um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten“, so sein Befund über die Stresemann-Jahre der Weimarer Republik.
„Es ist mir lieb, wenn das vergessen wird“
Zu dieser Zeit war der 1907 als Raimund Pretzel in Berlin geborene Lehrersohn Gymnasiast und erfuhr eine lebenslang anhaltende schulische Prägung von Vorurteilsfreiheit, ja aristokratischer Vornehmheit: Er besuchte zuerst das Königstädtische Gymnasium nahe dem Alexanderplatz, viele seiner Klassenkameraden waren jüdische Deutsche, begabte Söhne von Geschäftsleuten. Unter ihnen, so Haffner, war „ich ziemlich links“. Dann wurde der Vater versetzt, sein Sohn wechselte ans Schillergymnasium in Lichterfelde, wo viele Militärs wohnten. Hier, so Haffner, „wurde ich rechts“. Für die Nazis hatten die Soldatensöhne nichts übrig, für die Weimarer Republik allerdings auch nichts. Er studiert dann Jura, entscheidet sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933, mit der für ihn Rechtsstaat gestorben war, aber gegen eine juristische Laufbahn. Um seine Doktorarbeit zu schreiben, ging Haffner 1934 ein paar Wochen nach Paris.
Der junge Jurist, der nur noch gelegentlich, meist als Vertreter anderer Anwälte, in seinem Metier arbeitet, sucht eine Nische und findet sie im Feuilleton von Frauenzeitschriften des Ullstein-Verlags, wo er hofft, dass der braune Spuk bald vorbei ist. Doch 1938 erwartet seine Freundin, die aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie stammt, ein Kind. Nach den Rassegesetzen war die Liebesbeziehung strafbar. So ließ er sich im Sommer mit einem Auftrag der Ullstein-Presse nach England schicken und bat dort mit Verweis auf seine schwangere Verlobte, die ihm nach England vorausgereist war, um Asyl. Das Paar heiratete, Pretzel erhielt eine zunächst für ein Jahr gültige Aufenthaltserlaubnis. In der Frist brach der Zweite Weltkrieg aus – er durfte bleiben.
Da er seine Jurakenntnisse im britischen Rechtssystem nicht anwenden kann, beschließt der 31-Jährige, ein Buch über Nazi-Deutschland zu schreiben, das den Briten den kommenden Feind erklären soll, und beginnt seine „Geschichte eines Deutschen“. Der Verleger Frederic Warburg war von den ersten Seiten so angetan, dass er Haffner wöchentlich einen kleinen Vorschuss zahlte. Dabei blieb es auch, als er sich nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 entschloss, ein anderes Buch zu schreiben: „Germany: Jekyll & Hyde“. Dafür wählte der geborene Pretzel sein später berühmtes musikalisches Pseudonym: Sebastian nach Johann Sebastian Bach, und Haffner nach Mozarts Haffner-Musiken, von denen die Symphonie D-Dur (KV 385) in Großbritannien beliebt war. Das Erstlingswerk begeisterte die Kritiker und öffnete dem Autor die Karrieretür, Leitartikler des neu gegründeten deutschsprachigen Blatts Die Zeitung zu werden, das vom britischen Informationsministerium finanziert und kontrolliert wurde.
1942 stellt ihn die einflussreiche britische Sonntagszeitung Observer ein. In einem seiner ersten Texte schlug er vor, man solle nach Kriegsende über eine halbe Million SS-Männer einfach hinrichten. Dem gelernten Juristen Haffner waren solche Äußerungen im hohen Alter peinlich: „Es ist mir lieb, wenn das vergessen wird.“ In einer Charakterisierung des Autors, die aus unbekannten Gründen die polnische Botschaft in London 1943 dem Foreign Office zukommen ließ, hieß es bereits, Haffner zeige „eine starke Verworrenheit und ein Schwanken von einem Extrem ins andere“. Die Polen erklärten sich das damit, dass er „weltfremd, nicht bösartig“ sei.
„mit einer seltsam kalten Flamboyance“
Nach dem Krieg ließ sich Haffner in Großbritannien einbürgern und kehrte schließlich 1954 als Korrespondent des Observer nach Berlin zurück. 1961 verließ er die Zeitung, schrieb frei für die Welt und steuerte von 1962 bis 1975 eine wöchentliche Kolumne im Stern bei. In der deutschen Öffentlichkeit wird der unter Kollegen hochgeachtete Mann mit der hohen, knarzigen Stimme durch Werner Höfers „Internationalen Frühschoppen“ bekannt. Joachim Fest beschrieb den deutschen Gast-Briten in seinem launigen Porträt-Essay „Der fremde Freund“ als „Gentleman mit Weste und Einstecktuch, der das Publikum in seinen Bann zwingt. Er spricht langsam und eindringlich, und egal, was er sagt, es klingt einleuchtend und selbstverständlich“.
Nach dem Mauerbau schimpft Haffner auf die Amerikaner, sie seien wie ein „überzahmer Pudel“, der sich vom Kreml-Chef Chruschtschow „den Knochen aus dem Maul nehmen ließ“. Seiner Regierung in London wirft er sogar vor, wie einst in München 1938 gegenüber Hitler in der Sudetenfrage, gekuscht zu haben. Nie war Haffner so sehr Kalter Krieger wie nach der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“. Und er will unbedingt die Wiedervereinigung; fordert sogar einen „entschlossenen Partisanenkrieg“ in der DDR, „bis der große Aufstand kommt“, und ein eigenes Atomwaffenpotenzial für die Bundesrepublik. Dann wieder mal eine Kehrtwende: Um bei den Bundestagswahlen 1972 für Willy Brandt stimmen zu können, nimmt Haffner wieder die deutsche Staatsangehörigkeit an.
Den streitbaren Querdenker, den es lebenslang immer auch ins Rampenlicht drängte, charakterisierte Fest so: „Nicht selten schien es, er wende sich nicht nur den Anwesenden zu, sondern plädiere vor dem eigenen Innern, um die Widerstandsfähigkeit eines fast absurd waghalsigen Einfalls zu erproben. Mit einem souveränen Überblick, der die Beweisführungen gern mit historischen Ereignissen schmückte und stützte, trug er zunächst die Lage vor, wog dann die materiellen wie die psychischen Kräfte der Parteien ab und zog anschließend mit einer seltsam kalten Flamboyance die politischen Folgerungen.“ Womöglich war die oftmals radikale Vehemenz seiner Äußerungen, etwa die RAF als „Steigbügelhalter des heraufziehenden Faschismus“ zu sehen, nicht zuletzt der Versuch, „im Wald des Lebens das Misstrauen gegen sich selbst wegzupfeifen“, vermutet Fest.
Auch als Sachbuchautor befasst er sich mit zeithistorischen Themen, so mit den „Sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“, dem „Teufelspakt: 50 Jahre deutsch-russische Beziehungen“ oder mit Winston Churchill. Kontrovers diskutiert wurde „Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19“: Darin warf er als einer der ersten namhaften westdeutschen Publizisten einen kritischen Blick auf die Rolle der „Mehrheits-SPD“ um Ebert, Noske und Scheidemann als Blockierer der Revolution. Schon in diesen Werken trat seine Fähigkeit zutage, komplizierte geschichtliche Zusammenhänge einem breiten Publikum verständlich zu machen.
„nicht einmal Hass, nur Ekel“
1978 dann der große Wurf: die „Anmerkungen zu Hitler“. Fünf Jahre nach dem 1000-Seiten-Spektakel seines Freundes Joachim Fest, das aber, vielkritisiert, das Judenthema nur randständig würdigte, gelang Haffner auf gerade mal 200 Seiten ein allgemeinverständlicher Essay, der, ruhig und kühl geschrieben, trotzdem nicht vereinfacht und auch keine bedeutenden Aspekte aus Hitlers Leben und Wirken unberücksichtigt lässt.
Der Autor wurde dafür mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und dem Friedrich-Schiedel-Literaturpreis ausgezeichnet. Golo Mann würdigte im SPIEGEL den Text: „Sehr klar bringt Haffner die Beispiellosigkeit des Phänomens heraus: in der Weltgeschichte so viel angerichtet zu haben – ‚ausgerichtet‘ allerdings nichts – und doch für sich selbst kein Interesse, nicht Sympathie, nicht Respekt, nicht einmal Hass, nur Ekel zu erwecken.“ Das Buch hielt sich 43 Wochen lang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Zwei Jahre später erregte er nochmal Aufmerksamkeit mit seinen „Überlegungen eines Wechselwählers“. Später wurde es stiller um Haffner, der die Rolle des hochgebildeten, einzelgängerischen Querkopfs, die er so lange Zeit mit provokanter Laune gespielt hatte, im Fortgang der Jahre zusehends hinter sich ließ. Zeitlebens aber unterschied er zwischen „moderner“ und „richtiger“ Literatur: Thomas Mann, Fontane, Stendhal, Tolstoi… – „ich bin nun einmal hoffnungslos konservativ.“ Er war so gern „umstritten“ gewesen: „Das ist der Lauf der Welt – Man beginnt als Genie und endet als Redakteur für die Rätselecke.“
Den Fall der Mauer empfand Haffner als verheerend: er fühle sich „lächerlich“ gemacht und müsse mit der „entsetzlichsten Niederlage“ zurechtkommen, die ihm je widerfahren sei. Was jetzt ende, sei die Möglichkeit politischen Urteilens: „Ich bin überflüssig. Das hat nicht einmal Hitler erreicht. Aber der Herr Generalsekretär, den alle Welt so sympathisch und umgänglich findet – dem ist es gelungen“ – gemeint ist Gorbatschow. Zu Kohl kein Wort.
Am 2. Januar 1999 stirbt er im Alter von 91 Jahren. Seine Urne wurde im Familiengrab auf dem Parkfriedhof Berlin-Lichterfelde West beigesetzt; es gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin. An vorderster Stelle bleibt von ihm, so Fest,
„gewiss seine rhetorische Brillanz. Dann aber auch die Radikalität seiner Auffassungen mitsamt der Neigung, selbst im Abseitigen weiterzulaufen. Die Vorliebe für das Denken in sozusagen freier Luft und ohne die Kettengewichte der Realität an den Füßen. Zuletzt immer wieder die großen Brüche mit dem Ableugnen oder Vergessen dessen, was gestern war. […] Nicht selten hatte man den Eindruck, Haffner begrüße jeden politischen Szenentausch schon deshalb, weil er dadurch die Maske abwerfen und das alte Textbuch loswerden konnte, das ihn allmählich zu langweilen begann.“
Auch wegen dieser Schwankungen wollte er seine alten Schriften zu Lebzeiten lieber nicht noch einmal veröffentlicht sehen. Doch schon drei Jahre nach seinem Tod steht der Name Haffner für ein Millionengeschäft. Da wird schon mal ein Haffner-Buch einfach umbenannt und mit einem neuen Vorwort versehen – flugs lässt es sich abermals verkaufen. Haffners Geschichte der Revolution von 1918/19 stand unter vier verschiedenen Titeln in den Bibliotheken.
Die Verlage warfen auf den Markt, was sie finden konnten – knapp zwei Dutzend Veröffentlichungen in 18 Monaten. Seit der spektakulären Entdeckung seiner Erinnerungen „Geschichte eines Deutschen“ überzog ein beispielloser Haffner-Boom die Republik. Innerhalb von gerade drei Jahren wurden allein von diesem Buch über 500 000 Exemplare verkauft. Er wurde gefeiert als ein „Solitär unter Historikern“ (WamS), „politischer Ästhet“ (taz), weitsichtiger Prophet und unbestechlicher Analytiker, gar als „Publizist und Mensch ein Vorbild“ (Guido Knopp).
Im Blick aufs Ganze gleicht das Leben Sebastian Haffners einem Puzzle, dessen Teile nicht zusammenpassen. Klaus Wiegrefe nannte ihn im SPIEGEL den „umstrittensten Infotainer Deutschlands“ – und lag damit sicher am nächsten.