„Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen“
5. Dezember 2018 von Thomas Hartung
Nach diversen Skandalen verzichtet die schwedische Jury in diesem Jahr auf die Vergabe des Literaturnobelpreises. Das ficht John Steinbeck nicht mehr an: er wurde 1962 „für seine einmalige realistische und phantasievolle Erzählkunst, gekennzeichnet durch mitfühlenden Humor und sozialen Scharfsinn“ ausgezeichnet. Der vor 50 Jahren verstorbene Romancier, Journalist und dreimal oscarnominierte Drehbuchautor gehört zu den erfolgreichsten US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, dessen Bücher in Millionenhöhe verkauft, verfilmt und in 40 Sprachen übersetzt wurden.
Steinbecks Großvater väterlicherseits, Johann Adolf Großsteinbeck, war von Heiligenhaus im Niederbergischen Land in die USA ausgewandert und hatte dabei seinen Namen zu Steinbeck verkürzt. Die Stadt bietet bis heute historische Wanderungen u.a. zum Familiengut „Großsteinbeck“ an. John wurde im Winter 1902 im kalifornischen Salinas rund 150 Kilometer südlich von San Francisco geboren und wuchs mit drei Schwestern in der ländlich-maritim geprägten Gegend auf, die heute „John-Steinbeck-Country“ heißt und in der viele seiner Erzählungen und Romane spielen.
Bereits als Kind zeigte er großes Interesse an Literatur und begann zu schreiben. Seine Bewerbung zum Studium an der Stanford University 1919 war erfolgreich, Steinbeck belegte Literatur, Geschichte, Journalismus – und Meeresbiologie. Um sein Studium zu finanzieren, musste er nebenbei arbeiten: als Hilfsarbeiter, Maurer, Fischer, Butler, Nachtwächter und Obstpflücker. In seinen akademischen Erwartungen enttäuscht, dabei offenbar auch überfordert, verließ er die Elite-Uni 1924 ohne Abschluss und ging zunächst als Publizist nach New York, wo er keine Erfolge verbuchen konnte.
Zurück in Kalifornien, schlug er sich wie in seiner Studentenzeit mit Gelegenheitsarbeiten durch, heiratete und veröffentlichte 1929 seinen ersten Roman „Eine Handvoll Gold“, der das Leben des englischen Piraten Henry Morgan nacherzählte, aber ebenso wie die beiden nächsten Werke unbeachtet blieb. Es dauerte bis „Tortilla Flat“ (1935), um das Publikum auf die neue Stimme aufmerksam zu machen: der episodische Schelmenroman wurde mit dem kalifornischen Kritikerpreis ausgezeichnet, von der Stadt Monterey als verlogen abgelehnt und in Irland als unmoralisch verboten.
Nach der Darstellung eines Landarbeiterstreiks in „Stürmische Ernte“ (1936) beauftragte die San Francisco News Steinbeck mit einer Artikelserie über die „Okis“, verarmte und entwurzelte Wanderarbeiter aus dem von Dürrekatastrophen geplagten Oklahoma, die in Scharen auf der Suche nach Jobs nach Kalifornien zogen. Steinbeck recherchierte selbst vor Ort, traf die Wanderarbeiter in ihren Camps, unterhielt sich mit ihnen, lernte ihren Jargon, sah Menschen verhungern und erfuhr ihre Geschichte aus erster Hand. Diese Erfahrungen mündeten in seine beiden bis heute eindrucksvollsten Werke: die Novelle „Von Mäusen und Menschen“ (1937) und den Roman „Früchte des Zorns“ (1939), für den er 1940 den Pulitzer-Preis sowie den National Book Award bekam. Der Roman gilt inzwischen als historische Quelle, fand bis heute über 14 Millionen Käufer und gehört in vielen englischsprachigen Ländern von Kanada bis Australien nach wie vor zur Schullektüre.
„die gierigen Bastarde mit Scham belegen“
Mit dem Roman, der die verzweifelte Situation der Bauern in der großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre mit Missernten, Depression und der Industrialisierung der Landwirtschaft beschreibt, wollte Steinbeck „die gierigen Bastarde, die dafür verantwortlich sind, mit Scham belegen“. Mit diesem und weiteren zeitkritischen Texten engagierte sich der publikumsscheue Autor für die Rechtlosen am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter, macht an der Gesellschaft Scheiternde zu Helden und porträtiert ihr Schicksal am Beispiel der Familie Joad. Doch ihr Traum vom Aufbau einer neuen Existenz zerbricht an Ausbeutung, Fremdenfeindlichkeit und dem Mangel an Solidarität, denen die Joads überall begegnen. Aus Farmern werden Bettler, die dennoch verzweifelt versuchen, auch im Elend einen Rest von menschlicher Würde zu bewahren.
Ein Nebeneffekt des Romans war die PR für die Route 66, die bei Steinbeck zur Straße der Hoffnung, zur „Mutter aller Straßen“ wird: als Synonym für das ganz große Gefühl von Freiheit verkörpert sie Aufbruchstimmung und Ungebundenheit, denn auf ihr flüchten in der Zeit der „Großen Depression“ die „Okis“ nach Westen, einem vermeintlich besseren Leben entgegen. Zu den einprägsamsten Schlussszenen der Weltliteratur gehört, wie die bezaubernde Rose of Sharon nach der Totgeburt ihres Kindes in einem Akt der Nächstenliebe einem verhungernden alten Mann die Brust gibt.
Das soziale und politische Engagement in diesem und weiteren Büchern rief ebenso Achtung bei den Lesern hervor wie das FBI auf den Plan. Denn dass Steinbeck in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit den amerikanischen Traum von Glück und Erfolg in Frage stellte und von den Niederlagen und dem Elend der Farmer schrieb, wurde als Provokation betrachtet. Als bittere Anklage an den entfesselten Kapitalismus heißt es im Roman: „Wenn man besitzt, ist man ewig im ‚Ich‘ eingefroren und ewig vom ‚Wir‘ abgetrennt.“ Das Werk, das rasch von John Ford mit Henry Fonda in der Hauptrolle verfilmt wurde, war zunächst vielfach als klassenkämpferisch abgelehnt und in Kalifornien sogar zeitweise verboten worden. Dabei verstand sich Steinbeck nie im dogmatischen Sinne als Sozialist, obwohl er Sympathien für die politische Linke hegte, mehrfach die Sowjetunion besuchte und ein überzeugter Anhänger der Politik des „New Deal“ von Präsident Franklin D. Roosevelt war.
Nach der Trennung von seiner ersten und einer Krise mit seiner zweiten Frau ließ sich Steinbeck als Kriegsreporter bei der New York Herald Tribune anstellen und nach Europa schicken. Er erlebte die Landung der Alliierten in Italien mit und von der Pressetribüne auch den Nürnberger Hauptprozess. So einfühlsam er zuvor Arbeitermilieus schilderte, beschrieb Steinbeck jetzt das Alltagsleben der Soldaten nicht als Helden, sondern als verzweifelten Versuch, in ständiger Gefahr zu überleben.
Parallel dazu gewann die bereits seit 1930 währende Freundschaft mit dem Meeresbiologen Ed Ricketts an Bedeutung: einem unorthodoxen, eigensinnigen, großzügigen Naturforscher, charismatisch, zuweilen skurril, der unter der Dusche einen Südwester trägt, weil er es hasste, einen nassen Kopf zu haben, und der die Menschen im Allgemeinen und die Frauen im Besonderen liebte. Eine Reise führte Steinbeck 1940 gemeinsam mit Ricketts für sechs Wochen nach Baja California in Mexiko, in Form einer Mischung aus wissenschaftlicher Expedition und abenteuerlichem Ausflug zweier Kumpels. Das draus entstandene „Logbuch des Lebens“ erschien allerdings erst 1951.
Bereits zuvor setzte Steinbeck seinem Freund mit der Figur des „Doc“ 1945 in dem Roman „Die Straße der Ölsardinen“, einem der fröhlichsten und optimistischsten Werke des Autors, und 1947 in dessen Fortsetzung „Wonniger Donnerstag“ ein literarisches Denkmal. Die kleine Welt rund um die Straße der Sardinenfabriken von Monterey fungiert als Schauplatz des zunehmend irrwitzigen Bemühens einer Gruppe liebenswerter Herumtreiber, Schnorrer und Lebenskünstler, ihrem Freund und Gönner „Doc“ eine Party zu geben. Sein Personal beschreibt Steinbeck so: „Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen. Man könnte mit gleichem Recht auch sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer – es kommt nur auf den Standpunkt an.“
furchtloser Ritter und ironischer Beobachter
1947 reiste Steinbeck, diesmal mit dem preisgekrönten Fotografen Robert Capa, erneut nach Rußland. Den beiden war aufgefallen, „dass es einige Dinge in Russland gab, über die niemand schrieb, und dass es gerade diese Dinge waren, die uns am meisten interessierten. Was tragen die Leute dort? Was tischen sie zum Abendessen auf? Feiern sie Feste? Wie lieben sie, und wie sterben sie?“ Es entstand der Reisebericht „Russisches Tagebuch“, in dem der Leser „diese mentale Melange aus Heimatliebe, sozialistisch-realutopisch motivierter Tatkraft und gleichzeitiger Neugier auf die Modernität und Liberalität Amerikas“ entdeckt, so Konstanze Kriese im Freitag. „Steinbecks Text ist nicht russophil, nicht russophob und auch weder anti- noch prokommunistisch, er ist einfach realistisch, empathisch und natürlich auch voller Ironie gegenüber den erlebten propagandistischen und bürokratischen Zumutungen.“
1948 durchlebte Steinbeck eine Krise. Zuerst starb Ed Ricketts bei einem tragischen Autounfall, dann trennte er sich von seiner zweiten Frau (und heiratete zwei Jahre später seine dritte), und insgesamt war er unzufrieden mit seinem Werk. Es fiel ihm zunehmend schwer, an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen, zudem erkannten viele Kritiker in „Die Straße der Ölsardinen“ und in „Wonniger Donnerstag“ nur Variationen des Themas von „Tortilla Flat“. Es folgten bis in die 60er Jahre hinein lange Reisen durch Nordafrika sowie Süd- und Westeuropa bei zunehmend schlechterer Gesundheit.
1952 dann gelang John Steinbeck noch einmal ein großer literarischer Wurf mit dem Roman „Jenseits von Eden“: einer epischen Familiensaga um einen alleinerziehenden reichen Farmersvater und seine beiden Söhne, die über mehrere Jahrzehnte reicht. Im selben Jahr kam „Viva Zapata!“ in die Kinos: ein Film über den mexikanischen Revolutionshelden Emiliano Zapata, zu dem Steinbeck das Drehbuch geschrieben hatte. Inszeniert wurde er mit Marlon Brando in der Titelrolle von Elia Kazan, der dann auch „Jenseits von Eden“ mit dem jungen James Dean verfilmte. 1954 erhielt John Steinbeck, inzwischen Bürger New Yorks, die Freiheitsmedaille des US-Präsidenten.
Ein letzter Geniestreich glückte ihm 1962 mit dem literarischen Roadmovie „Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika“. Darin erzählt Steinbeck von seiner Rundreise durch die Vereinigten Staaten, die er im Herbst 1960 allein mit seinem zehn Jahre alten französischen Pudel Charley in einem eigens dazu angefertigten Pickup-Camper namens „Rosinante“ unternommen hatte. Der Name lässt tief blicken: für Steinbecks Biograph Jay Parini ist der Held gleichzeitig Don Quijote und Sancho Pansa, der furchtlose Ritter und der ironische Beobachter – so wurde in den USA noch nie geschrieben. In drei Monaten absolvierte er eine Tour von Long Island hinauf bis zur Nordspitze von Maine, dann an der kanadischen Grenze entlang bis nach Seattle, die pazifische Küste hinunter bis in seine alte Heimat Salinas und Monterey, dann durch den Süden der USA zurück nach New York.
In den 60er Jahren unterstützte Steinbeck Präsident Lyndon B. Johnson, angetan von dessen proklamierter Idee einer „Great Society“, einer sozial gerechteren Gesellschaft. Die Aufhebung der Rassentrennung und eine verbesserte Sozialgesetzgebung waren Forderungen, für die er seit den 30er Jahren eingetreten war. Seine persönliche Freundschaft mit Johnson führte aber auch dazu, dass er zu den wenigen Befürwortern des Vietnamkriegs gehörte. Deshalb kam es schließlich zum Zerwürfnis mit seinem Sohn John, der als Kriegsberichterstatter in Vietnam zum überzeugten Pazifisten geworden war. 1967 unternahm er eine Reise nach Südostasien, um sich selbst ein Bild zu machen, kehrte jedoch schwer krank zurück und erlag am 20. Dezember 1968 in New York einem Herzversagen.
„was uns quält, ist die Langeweile“
Gegenwärtig spielen Steinbecks Werke mit den Ausnahmen „Früchte des Zorns“ und „Von Mäusen und Menschen“ nur noch eine Nebenrolle im angloamerikanischen Sprachraum. Aufgrund ihres naturalistischen Stils und ihrer expressionistischen Wortwahl wurden diese beiden Werke aber auch öfters aus öffentlichen Bibliotheken entfernt, die American Library Association führt sie auf ihrer Liste der in Nordamerika am häufigsten verbotenen Klassiker. Manchen gilt Steinbeck bis heute als radikal, der zu vehement für die Armen und Entrechteten, für Landarbeiter und kleine Farmer eintrat. Von einigen Kritikern wurde ihm auch vorgeworfen, er schildere die Armen zu idealistisch und die Armut zu romantisch, was aber aus keinem Text explizit interpretierbar ist.
Steinbecks Sichtweise auf die Natur ist stark geprägt vom Denken seines langjährigen Freundes Ed Ricketts, dessen Philosophie man heute „ganzheitlich“ oder „nachhaltig“ nennen würde. So heißt es im „Logbuch des Lebens“ zum industriellen Garnelenfang: „Warum die mexikanische Regierung die vollständige Vernichtung einer wichtigen Nahrungsquelle zugelassen hat, ist eines der Rätsel, deren Ursprünge wahrscheinlich in Taschen zu finden sind, die man sich besser nicht so genau anschaut.“
Nach Steinbecks tiefster Überzeugung ist der Mensch nicht Herr der Natur, sondern ein Teil von ihr. Prompt stellt er den Menschen oft als getriebenes, in seiner biologischen Körperlichkeit befangenes Wesen dar, dem es als Glied eines ökologischen Ganzen nicht gelingt, sich selbstbestimmt-heroisch über die Natur zu erheben. So erzählt er in „Die Reise mit Charley“ im Kapitel über die Mojave-Wüste, wie er einmal in der Mittagshitze, im Schatten seines Wohnmobils sitzend, mit seinem neuen Präzisions-Jagdgewehr auf zwei Kojoten anlegt, sie lange durch das Zielfernrohr betrachtet, sich ihren Tod vorstellt und dann das Gewehr weglegt, um ihnen stattdessen zwei Dosen Hundefutter hinzustellen. Die Wüste schildert er als möglicherweise rettendes Ufer und Ort der Wiedergeburt des Lebens nach einer von Menschenhand gemachten finalen Katastrophe.
Führende Literaturkritiker der USA begegnen ihm ob solchen Menschenbilds bis heute reserviert bis offen ablehnend. An seinen Lektor Pascal Covici schrieb er im Juli 1961 mitten in der Arbeit an „Die Reise mit Charley“: „Immer wieder ist mir durch den Kopf gegangen: Uns fehlt der Druck, der die Menschen stark macht, und das Leid, das sie groß macht. Was uns drückt, sind unsere Schulden, was wir uns wünschen, sind noch mehr materielle Spielsachen, und was uns quält, ist die Langeweile. Im Laufe der Zeit ist diese Nation ein missvergnügtes Land geworden.“ Darüber mögen nicht nur Amerikaner nachdenken.