„Aber selber gelacht hat er nie“
2. Oktober 2019 von Thomas Hartung
„Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau‘n, weil ich so stürmisch und so leidenschaftlich bin…“ So ironisch kann sich nur besingen, wer seine Rolle gefunden hat. Seine Rolle war: er selbst. Ein kleiner Mann, der seinem physiognomischen oder sozialen Schicksal mindestens einen Moment der Würde abtrotzte und manchmal auch das Glück, selbst wenn es nur ein kleines war. Als er am 3. Oktober 1994 starb, war er über 60 Jahre lang ein Liebling der Deutschen geblieben: als Lausejunge, Mustergatte, Biedermann mit durchaus autoritären Zügen, braver Sünder – und Clown.
Geboren am 7. März 1902 in Wanne, hatte er schon im Alter von ungefähr fünf Jahren seine ersten Auftritte, die er selbst als Urszenen seiner Karriere bezeichnete: Vater Hermann, Betreiber der Bahnhofsgaststätte, holte zum Amüsement seiner Stammgäste seinen Sohn regelmäßig abends aus dem Bett, um ihn auf der Theke Gedichte rezitieren zu lassen. Heinz spielte seine Rolle und genoss den Applaus seines Publikums. Auch die Küche der Mutter war legendär: „Es gehörte zum guten Ton der Wanner Bürger, Samstagabends oder Sonntagmittags zu den Rühmanns in die Gaststätte zu gehen und dort sein Essen einzunehmen“, erzählt Wanne-Eickels Stadtarchivar Jürgen Hagen im DLF.
Schließlich entdeckt er die Leidenschaft, die ihn 30 Jahre später zum Publikumsliebling im Kino machte: Den Flugplatz Wanne-Herten, zu Pfingsten 1912 eingeweiht. In seinen Erinnerungen meinte er: „Ich bin immer glücklich gewesen, wenn ich bei Mechanikern und Piloten sein durfte, wenn sie an etwas herumbastelten. Es roch so schön nach Öl und Benzin“. Später machte er selbst den Flugschein und übernahm bei den Dreharbeiten zu „Quax der Bruchpilot“ sogar die spektakulären Kunstflugszenen. Präzision wird zeitlebens seine Arbeitsweise prägen: „Wer beim Fliegen einen Fehler macht, der stürzt ab. Das hat er auf seine Rollen übertragen. Hoch fliegen darf nur, wer gut vorbereitet ist“, meint Produzentin Katharina Trebitsch in der Hörzu.
Prototyp des schüchtern-lausbübischen Kleinbürgers
Im Jahr darauf endete die Idylle. Familie Rühmann zog nach Essen, weil der als großspurig beschriebene Vater Chef des mondänen „Hotel Handelshof“ wurde. Doch er übernahm sich finanziell, musste Insolvenz anmelden und beging, als darüber die Ehe zerbrach, 1915 in Berlin Selbstmord. Die Mutter musste jetzt mit einer knappen Witwenrente auskommen und zog mit den drei Kindern nach München. Rühmann verlässt nach der Mittleren Reife die Luitpold-Oberrealschule, nimmt Schauspielunterricht bei Hofschauspieler Friedrich Basil und wird anschließend von Richard Gortner für 80 Mark Monatsgage nach Breslau verpflichtet, wo er 1920 in „Rose Bernd“ von Gerhart Hauptmann und „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind zu sehen ist.
Nach einer Odyssee über Hannover, Bremen, Braunschweig, Düsseldorf und die Bayerische Landesbühne landete er bei den Münchner Kammerspielen. Er galt lange als zu klein, zu jungenhaft, um Heldenrollen zu übernehmen. Durch Zufall entdeckt er 1922 im Residenztheater Hannover sein komisches Talent: Weil er „nur“ einen Oberkellner spielt, latscht er schlecht gelaunt über die Bühne – und erhält dafür Szenenapplaus. In Bremen findet er im Schwank „Der Mustergatte“ eine der Rollen seines Lebens – über 2000-mal sollte er sie spielen. Und an der Bayrischen Landesbühne trifft er die erste Liebe seines Lebens: Maria Bernheim, über vier Jahre älter und gut zehn Zentimeter größer als Rühmann, wurde, wie er es selbst nannte, seine „Privatregisseurin“ und 1924 seine Frau.
Parallel dazu bekam er sein erstes Filmangebot: Für den Stummfilm „Das deutsche Mutterherz“. Obwohl anfangs nicht sehr begeistert von den laufenden Bildern, überzeugten ihn die 500 Mark Gage für zehn Drehtage. 1927 geht er zu Max Reinhardt ans Deutsche Theater in Berlin und reift zum erfolgreichen Bühnenschauspieler. Nachdem den Ufa-Produktionschef Erich Pommer ein erstes Vorsprechen für einen Tonfilm noch nicht überzeugte, nutzte er seine zweite Chance und wurde mit der Rolle des „Hans“ in der Filmoperette „Die drei von der Tankstelle“ besetzt. Mit einer Einspielsumme von 4,3 Millionen Reichsmark wurde der Streifen zum erfolgreichsten Film des Jahres 1930.
Mit darauf folgenden Produktionen wie „Einbrecher“, „Bomben auf Monte Carlo“ oder „Der Mann, der seinen Mörder sucht“ wird er trotz modulationsarmer, abgehackter Sprechweise neben Hans Albers zum beliebtesten und bestbezahlten deutschen Filmschauspieler. Als Prototyp des schüchtern-lausbübischen Kleinbürgers, der es durch naive Pfiffigkeit und Frechheiten zu etwas bringt, spielt er in zahlreichen Komödien und Tragikomödien jene leisen und selten wagemutigen Figuren, mit denen sich die Mehrzahl der Zuschauer offenbar identifizieren kann. Wirtschaftlich so abgesichert, erfüllte sich Rühmann seinen Jugendtraum vom Pilotenschein, kaufte sich ein eigenes Flugzeug und wurde zum Fan von Luftkampflegende Ernst Udet. 1932 schloss die Ufa einen Dauervertrag mit ihm.
„Ich wurde gebraucht“
Das Jahr 1933 sieht ihn in einer so gefestigten Position, dass er als „unersetzbar“ gilt: für Kriegsdienste u.k. (unabkömmlich) gestellt, steht er ab 1944 gar auf der legendären „Gottbegnadeten-Liste“ der Nazis. Während viele seiner Kollegen das Land verlassen, baut er, der sich als strikt neutral und unpolitisch versteht, seine Karriere aus. „Ich wurde gebraucht“, rechtfertigt Rühmann später sein Verhalten. „Man sah von hoher Stelle ein, dass ein gewisser Humor unter die Menschen getragen werden muss.“ „Er mogelte sich durch, er lavierte und war deshalb schwer einzuordnen“, betont Biograf Torsten Kröner. Rühmann kam wie viele Prominente des Dritten Reiches in den Genuss von teilweise jährlichen Sonderzahlungen aus einem Geheimfonds Hitlers in Höhe von bis zu 60.000 Reichsmark.
Als sich seine jüdische Frau als Karrierekiller zu entpuppen droht und er vor der Wahl „Karriere oder Emigration“ steht, handelt er pragmatisch, nachdem er vier Jahre die Entscheidung vor sich her schob, und stimmt einer Scheidung zu. Gleichzeitig organisiert er die Wiederverheiratung seiner Ex-Frau mit einem schwedischen Kollegen, der ihr so die Emigration nach Schweden ermöglicht. Dabei besteht die Ehe längst nur noch auf dem Papier: Seit 1935 ist Rühmann mit einer Kollegin, der Schauspielerin Leny Marenbach, liiert. Als „Freikauf“ sehen es viele bis heute, auch der jüdische Film-Produzent Arthur Brauner, für den Rühmann ein „charakterlich schwacher Mann“ bleibt.
Im Scheidungsjahr 1938 lernte Rühmann bei Dreharbeiten die Wiener Schauspielerin Hertha Feiler kennen, nach den Nürnberger Rassegesetzen eine „Vierteljüdin“, die er 1939 heiratete. In diesem Jahr wurde er auch wieder in die Reichsfilmkammer aufgenommen. 1942 kam als einziges Kind der Ehe der Sohn Peter auf die Welt. Noch in den späten Kriegsjahren dreht er einen Film nach dem anderen, zuletzt den unsterblichen Pennälerklamauk „Die Feuerzangenbowle“ – eine einzige Heile-Welt-Gaukelei, aber ein filmischer Geniestreich.
Als Reichserziehungsminister Bernhard Rust die Freigabe des Streifens verhindern wollte, weil der Film die Autorität der Schule und der Lehrer geradezu gefährden würde, fährt Rühmann persönlich zu Reichsmarschall Hermann Göring ins Führerhauptquartier. Göring sah den Film im Kreise seines Stabes, ergötzte sich köstlich und bejahte die Frage Hitlers, ob der Film zum Lachen sei. „Dann ist dieser Film sofort für das deutsche Volk freizugeben“, dekretiert der prompt. Joseph Goebbels notiert am 25. Januar 1944 in sein Tagebuch: „Der neue Rühmann-Film ‚Feuerzangenbowle‘ soll unbedingt aufgeführt werden. Der Führer gibt mir den Auftrag, mich nicht durch Einsprüche von Lehrerseite oder von Seiten des Erziehungsministeriums einschüchtern zu lassen.“ Einige Oberprimaner-Statisten erlebten die Premiere des Films schon nicht mehr.
„Sein Anteil am großen Nazi-Verbrechen war die Arbeit für die Ufa-Unterhaltungsmaschine, die explizit das Politische gerade vermied“, dekretiert Beatrix Novy im DLF. Rühmann sei ein „durch und durch deutscher Schauspieler“ mit „vielen Masken“ gewesen, schreibt der Filmregisseur und Freund der Rühmann-Familie Michael Verhoeven; ein unpolitischer Künstler, was ihm manchmal „den vernichtenden Vorwurf des Opportunismus“ eingebracht habe. „Künstler, die das System nicht bekämpft haben, haben das System bestärkt. Auch mit harmlosesten Komödien. Und auch, wenn sie glaubten, mit Harmlosigkeiten dem System zu entgehen.“ In Rühmann könne man sein Publikum wieder erkennen.
„Mit Rühmann oder gar nicht“
Nach einigen Notumzügen im Kriegsberlin begibt sich Rühmann nach erfolgreicher „Entnazifizierung“ durch die russischen Behörden mit „Der Mustergatte“ auf Theatertournee durch die sowjetische Besatzungszone, bevor er nach München geht. Er lebt mit Hertha in einem Behelfsheim auf dem Gelände der Bavaria-Filmstudios. Die von Rühmann 1947 gegründete Produktionsfirma „Comedia“ geht Pleite und reißt das Paar fast in den Ruin. Sohn Peter muss für vier Jahre ins Internat, sieben Jahre zahlen Rühmanns ihre Millionenschulden ab. Auch als es später aufwärts geht, hat er mit Rückschlägen zu kämpfen: Ausgerechnet der Erfolg mit „Charleys Tante“ erweist sich als Falle, denn die Charakterrolle im „Hauptmann von Köpenick“ traut man ihm daraufhin nicht zu. Regisseur Helmut Käutner muss 1956 ein Machtwort sprechen: „Mit Rühmann oder gar nicht.“
Die Rolle des Schusters Voigt in der Verfilmung von Carl Zuckmayers Stück begrenzt Rühmanns Fähigkeiten nicht, wie so oft, auf harmlos-schmunzelnden Humor, sondern fordert ihn als den Charakterschauspieler, zu dem er im Alter immer mehr wurde. Wie der zarte 1,65-Meter-Mann mit schnarrender Stimme und klappernden Sporen die preußische Obrigkeitshörigkeit lächerlich macht, gehört zu den Kabinettstücken der Filmgeschichte. Zuckmayer beschrieb ihn fast ehrfürchtig: „Wenn er, nach gelungener ‚Köpenickiade‘, auf der Treppe des Rathauses die Soldaten entlässt ‚Für jeden Mann ein Bier und eine Bockwurst‘ – geht eine so fundamentale Traurigkeit von ihm aus, dass man sich der Vergeblichkeit aller Fluchtversuche des Menschen aus seinem Schicksal schaudernd bewusst wird.“ Auch seine Adaption von „Der brave Soldat Schwejk“ lässt sich so einordnen.
Rühmann überzeugt inzwischen in Stücken wie „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett oder Filmen wie „Es geschah am helllichten Tag“. Daneben bemüht er auch seine Sangeskarriere wieder. Als 1955 „Wenn der Vater mit dem Sohne“ in die Kinos kam, wurde sein Wiegenlied „La-Le-Lu“ berühmt und gelangte, neu arrangiert und mit zeitgemäßem Rhythmus unterlegt, fast 30 Jahre später in die deutschen Single-Charts. 1965 dreht er an der Seite von Vivien Leigh mit „Das Narrenschiff“ seinen einzigen Film in Hollywood. Im Jahr darauf erhält er das Große Bundesverdienstkreuz. 1968 beginnt Rühmann mit dem „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller seine Arbeit fürs Fernsehen, in den 70ern gastiert er als „Frosch“ in Strauß‘ „Fledermaus“ gar an der Wiener Staatsoper. In seinen letzten Lebensjahren entdeckte Rühmann die Rezitation als neue Leidenschaft, etwa bei den Weihnachtslesungen des ZDF. Die Lesungen im Hamburger Michel sind Monate im Voraus ausverkauft.
1970 stirbt Hertha Feiler in München an Krebs. Da hatte er bereits ein Auge auf seine letzte Liebe geworfen: die schöne Witwe des Verlegers Willy Droemer, die auch Hertha heißt. 1971 lädt sie Rühmann zu einem Alpenrundflug in seinem Sportflugzeug ein – und es funkt. Sie ist 48, er 61, künftig sind sie unzertrennlich. Sie leben ein erfülltes Leben, mit Enkel und Hund. Aus Liebe ändert sie sogar ihren Rhythmus, geht mit ihm jeden Abend zeitig zwischen 21 und 22 Uhr ins Bett, weil er sie immer dabei haben will. „Ich hab mir nie erlaubt, auch nur eine Tasse Kaffee irgendwo zu trinken, weil ich wusste, dass er wartet und unglücklich ist und dass man so schnell wie möglich heim muss“, erzählt sie später.
„Rühmann war nicht komisch“
Nach dem Kinofilm „Gefundenes Fressen“ zieht sich Rühmann 1977 langsam ins Privatleben zurück. 1982 erscheint seine Autobiographie „Das war‘s“. Die frühere Hörzu-Chefreporterin Karin von Faber trifft ihn 1989 zu einem seiner raren Interviews. Ihre Analyse:
„Die permanente Unzufriedenheit mit sich selbst ist der Schlüssel zum Phänomen Rühmann. Seine Rollen glänzen wie Hochkaräter – da schleift einer so lange, bis es perfekt ist. Am Ende dieses Prozesses steht anrührende Einfachheit, durchsichtig wie ein Wassertropfen und ebenso verletzlich.“
1993 übernimmt er seine letzte Kinorolle in Wim Wenders „In weiter Ferne, so nah“. Seinen letzten Auftritt hatte Rühmann am 15. Januar 1994 in Linz bei „Wetten, dass…?“ – das Publikum feierte den bereits zur lebenden Legende gewordenen Schauspieler mit minutenlangem stürmischem Beifall und rührte ihn zu Tränen. Er stirbt 92jährig als der Mann, den Wenders „das lebende Denkmal des kleinen Mannes im deutschen Film“ nannte. Hertha hält seine Hand und streichelt sie zärtlich. „Es war das Letzte, was ich für ihn tun konnte“, schreibt sie später in ihrem Buch „Meine Jahre mit Heinz“. 1995 erhielt er posthum die „Goldene Kamera“ als „Größter deutscher Schauspieler des Jahrhunderts“; zuvor hatte er u.a. 13 Bambis gewonnen.
Bei den „Stars in der Manege“ 1980 war er im Circus Krone mit Oleg Popow aufgetreten: In einem Wettstreit zweier Clowns, die sich um einen Flecken Sonnenlicht balgen – bis sie erkennen, dass der Himmelsglanz für alle reicht. Was für die Clownskunst gilt, stimmt auch für ihn: Bereite dich minutiös vor. Nimm ernst, was du tust. Und: Verrate dein Spiel nie durch ironische Distanz. Diese Gratwanderung beim In-Eins-Fallen von Kunst und Leben – das war es, was das Publikum an ihm schätzte, wofür es ihn feierte; und was nichts so treffend auf den Punkt bringt wie sein vielzitiertes Chanson „Der Clown“:
„Er wollte alle Menschen immer lachen machen
Und machte er selber auch ein trauriges Gesicht.
Und er konnte die komischsten Sachen machen
Aber selber gelacht hat er nicht.
Und hinter ihm liegt nun ein langes Leben
Bald wird sie verstummt sein, die Zirkusmelodie
Er hat Millionen das Lachen gegeben
Aber selber gelacht hat er nie.“
Großartig geschrieben. Toll!
Vielen Dank, gern.