Der falsche Pilger
20. Oktober 2020 von Thomas Hartung
Er beherrschte rund ein Dutzend Sprachen und Dialekte, darunter Arabisch, Hindi und Persisch. Als erster Engländer übersetzte er die Geschichtensammlungen „Tausendundeine Nacht“, den „Duftenden Garten“ und wohl auch das „Kama Sutra“. Er überlebte auf der Suche nach den Nilquellen eine Malaria und besuchte den Mormonen-Propheten Brigham Young im neu gegründeten Salt Lake City. Karl May besaß eine Zusammenfassung seiner Reisebeschreibungen; einen Band von 1861 benutzte er für die Gestaltung der Härrär-Episode des 2.600 seitigen Kolportageromans „Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde“: Sir Richard Francis Burton. Der Afrikaforscher, Offizier, Konsul, Übersetzer und Globetrotter starb am 20. Oktober 1890.
Unterwegssein prägte bereits seine Kindheit. Geboren am 19. März 1821 in Torquay in der Grafschaft Devon als ältestes von drei Kindern eines Generalleutnants im 36. Regiment der British Army, unternahm die Familie verschiedene Reisen, so 1825 ins französische Tours. Seine frühe Schulbildung erhielt Burton von verschiedenen Hauslehrern, 1829 trat er in die Grundschule in Richmond Green ein. Als bei dem blitzgescheiten Jungen seine Affinität für Sprachen zutage trat, unternahm die Familie weitere Reisen nach Frankreich und Italien, wo er rasch Französisch, Latein und Italienisch inklusive einiger Dialekte wie Neapolitanisch lernte. Von einer jungen Romni, offenbar eine Liebschaft, soll er auch Grundkenntnisse ihrer Sprache gelernt haben, was vielleicht erklären könnte, warum er in späteren Jahren überraschend schnell Hindi und andere indoarische Sprachen lernte.
Im Herbst 1840 wurde er ins Trinity College in Oxford aufgenommen. Seine Vorliebe für Sprachen motivierte ihn zum Studium der arabischen Sprache; seine freien Stunden verbrachte er mit Falknerei und Fechten. Trotz seiner Begabung wirft das Trinity ihn hinaus. Er hat ein Pferderennen besucht und danach von der Leitung des College gefordert, man möge den Studenten solche Freizeitaktivitäten generell erlauben. Darauf kennt die altehrwürdige Hochschule nur eine Antwort: Relegation. Burton verlässt Oxford – quer durchs Blumenbeet. Der geschasste Student lenkt sein Gespann mitten durch die akkurat gepflegte Botanik.
Sein Ziel ist nun das Militär: 1842 tritt er als Offizier in das 18. Regiment der Bombay Native Infantry der britischen Ostindienkompanie ein. Hier ist das Sprachgenie als Spion im Auftrag Ihrer Majestät tätig, lernt nicht nur, militärischen Drill und Entbehrungen zu ertragen, sondern auch weitere fremde Sprachen. 1849 ließ er sich beurlauben, kehrte nach Europa zurück und lebte dann längere Zeit in Ägypten, wo die Idee entstand, die Quellen des Nils zu suchen. Im Herbst 1852 bietet er der Royal Geographic Society seine Dienste an. Er will, wie er es ausdrückt, „den gewaltigen weißen Fleck, der in unseren Kartenwerken noch immer die östlichen und zentralen Regionen von Arabien ziert, austilgen“. Doch zuvor tut er etwas, das normalerweise seinen sicheren Tod als „Giaur“, als Ungläubiger bedeutet: er mischt sich unter die Wallfahrer nach Mekka.
„mit einem befriedigenden Grunzen“
Angetrieben von einem unstillbaren Erlebnishunger und extremem Wissensdurst bereitet der exzentrische Brite das waghalsige Unternehmen akribisch vor. Neben seinem phänomenalen Sprachtalent besitzt er die Gabe und den Willen, sich auf fremde Kulturen bis zur Selbstaufgabe einzulassen – obwohl er sich im viktorianischen England an starren Ordnungen stößt. Damit unterscheidet er sich fundamental von vielen anderen Entdeckungsreisenden des 19. Jahrhunderts, die den Einheimischen mit kulturellem Hochmut begegnen. Er arbeitet sich intensiv in die orientalischen Sitten ein und studiert selbst die Art und Weise eines Arabers, ein Glas Wasser zu trinken: „Er ergriff den Trinkbecher, als wäre es die Kehle eines Feindes, und beendete den Vorgang mit einem befriedigenden Grunzen“, beschreibt es Burton. Am Ende beschließt er, in die Rolle eines wandernden afghanischen Derwischs namens Abdallah Chan zu schlüpfen. Regelmäßiges Einreiben mit Nussbaumöl verleiht seiner Haut einen dunklen Teint. Um seine Metamorphose perfekt zu machen, lässt sich Burton auch noch beschneiden.
Das Unternehmen glückt, am 26. September 1853 schifft er sich auf einem britischen Segler in Dschidda, erlebniserfüllt und bis hierhin unerkannt, wieder nach Sues ein. Sein wagemutiger Alleingang macht Burton in der englischen Heimat mit einem Schlag berühmt. Hat ihn sein Umfeld bis dahin vor allem als Exzentriker wahrgenommen, so wird er jetzt zum bewunderten Helden. Dass er in seinem Haus mit Affen zusammenlebt, von denen er einen als sein „Weib“ bezeichnet, steigert nur noch die Neugier auf den verwegenen Weltenbummler. Ende 1853 veröffentlicht Burton den Reisebericht „Meine Pilgerfahrt nach Medina und Mekka“ mit einer detaillierten Beschreibung der Stadt und des Haddsch. Nun kennt ihn ganz Europa. Die deutsche Übersetzung erschien allerdings erst 1930 bei Ullstein in Berlin.
Vom Welterkunden hat er noch lange nicht genug. Zunächst traf er 1854 in Aden mit John Hanning Speke zusammen, einem Bruder im Geiste und Urheber der Hamitentheorie, die allen kulturellen Fortschritt Afrikas dem Einfluss hellhäutiger, aus dem Norden kommender „Hamiten“ zuschrieb und die „negroide“ Bevölkerung Afrikas für kaum kulturfähig hielt. Gemeinsam reisten sie zunächst nach Somalia und starteten 1857 eine Expedition nach Ostafrika, um endlich die Quellen des Nils zu finden. In der Zeit der Vorbereitung infizierte sich Burton mit Malaria. Von Sansibar aus marschierten sie zuerst nach Tabora und entdeckten am 13. Februar 1858 den Tanganjikasee, den Burton für die Quelle des Nils hielt. Am 9. Juli trennten sie sich. Speke entdeckte zunächst am 3. August den Viktoriasee, den er wiederum als Quellsee des Nils ansah. Als Burton im Frühjahr 1859 wieder in London eintraf, hatte der eher angekommene Speke dort bereits seine Theorien veröffentlicht und war mit einer neuen Expedition beauftragt worden. Beide waren seitdem erbitterte Feinde.
1861 gelang Burton in einer neuen Expedition gemeinsam mit dem deutschen Botaniker Gustav Mann die Erstbesteigung des Kamerunbergs (4095 Meter). Er erforschte das Nigerdelta und Dahomey. Nach seiner Rückkehr im August 1864 kritisierte er erneut Spekes Theorien von der Nilquelle. Am 15. September 1864 sollte es deshalb eine Anhörung vor der British Association for the Advancement of Science in Bath geben. Allerdings starb Speke am Tag zuvor bei einem Jagdunfall. Bis heute ist nicht geklärt, ob er Selbstmord beging. Burton bereiste weiter die Welt, gründete die Anthropological Society of London, beschäftigte sich unter anderem mit Astrokartographie und verfasste eine Reihe von Büchern.
„Dem Starken ist jeder Ort Heimat“
Ebenfalls 1861 hatte Burton Isabel Arundel geheiratet, die aus einem sehr konservativen Haus der oberen Gesellschaft stammte und ihn gegen den Willen ihrer Eltern ehelichte. Mithilfe ihrer guten Kontakte vermittelte sie ihm immer wieder Anstellungen an britischen Konsulaten, so in Fernando Poo (1861–1865) und Santos (1865–1869). Anschließend übernahm sie heimlich, um ihrem Mann das Reisen zu ermöglichen, dessen Aufgaben. Sie redigierte seine Bücher und Texte und sorgte für deren Publikation. Neben ihrer Rolle als aufopfernde viktorianische Ehefrau reiste sie auch autonom und gemeinsam mit ihrem Mann. Unter anderem erkundete sie den brasilianischen Amazonas, Arabien und Indien.
Von 1869 bis 1871 lebten beide, er wiederum als Konsul, in Damaskus, von wo aus Isabell oft wochenlang und in arabischer Männerkleidung in die Wüste ausritt. Als ihr bedeutendstes Werk wird die Biographie ihres Mannes gelten. Burtons letzte Station als Konsul war seit 1871 Triest, wo der 1886 von Queen Victoria zum Ritter geschlagene letztlich an den Folgen eines Herzinfarkts starb. Isabel überredete einen Priester, Burton die Sterbesakramente zu erteilen, obwohl er nicht der katholischen Kirche angehörte, was ihr später einige Freunde Burtons zum Vorwurf machten. Burton liegt unter einem marmornen, arabisch nachempfundenen Beduinenzelt mit Glasfenster an einer Seite auf dem katholischen Friedhof von Mortlake im südwestlichen Teil von London begraben, seine Frau folgte ihm sechs Jahre später nach.
Seine Person und sein Leben sind vielfach adaptiert worden: In „Indiana Jones“ steckt ebenso ein Stück Burton wie im „Allan Quatermain“ von Henry Rider Haggard. In der fünfbändigen Science-Fiction-Romanreihe „Flusswelt der Zeit“ von Philip José Farmer spielt Burton eine Hauptrolle – er ist der auf der Suche nach den Quellen des größten Flusses aller Zeiten. Bob Rafelsons Film „Land der schwarzen Sonne“ (1990) beschreibt die Expedition Burtons mit Speke auf der Suche nach der Quelle des Nils. Sein größter Fan aber ist der bulgarischstämmige Autor Ilija Trojanow. Der Roman „Der Weltensammler“, immerhin Finalist für den deutschen Buchpreis 2006, zeichnet drei Stationen von Burtons Biographie – Indien, Arabien und Ostafrika – über 16 Jahre hinweg nach. Die Collage „Nomade auf vier Kontinenten“ (2007) fasst Trojanows Recherchen auf den Spuren des Weltensammlers mit Originaltexten von Burton zusammen, dem das Lebensmotto „Omne Solum Forte Patria“ (Dem Starken ist jeder Ort Heimat) nachgesagt wird. Er gilt noch heute als eine der schillerndsten Gestalten Englands des neunzehnten Jahrhunderts.