„Jeder Tag ist eine Last“
22. November 2020 von Thomas Hartung
In die politische Geschichte des Landes ging er ein als wirkmächtigster Literat. Während es der vor wenigen Monaten verstorbene Rolf Hochhuth zu Lebzeiten mit Hans Filbinger „nur“ zum Sturz eines Ministerpräsidenten gebracht hatte, fällte er posthum einen Bundestagspräsidenten: Am 10. November 1988 trägt Ida Ehre, die große alte Dame des deutschen Theaters, zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 seine Todesfuge im Bonner Bundestag vor. „…Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau…“ Sie hat die Worte ins Parlament „hineingebrüllt“, erinnerte sich der damalige Hausherr Philipp Jenninger. „Alle, die dort saßen, ich inbegriffen, waren erschüttert von diesem Schrei.“ Jenninger, rhetorisch nicht ansatzweise zum Kontern begabt, drückt sich auch noch erinnerungspolitisch missverständlich aus, so dass viele Abgeordnete, nicht nur der Grünen, schließlich den Saal verlassen. Am Tag darauf tritt Jenninger zurück.
Diese Todesfuge, 1944/45 als erstes veröffentlichtes Gedicht des Autors entstanden, wurde zum Inbegriff von Holocaust-Lyrik und relativierte auch wegen ihres musikalisierten Duktus‘ Adornos Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Der erschütternde Text, befindet John Felstiner, erweist sich im Sinne ästhetischer Vergangenheitsbewältigung als das „‚Guernica‘ der Nachkriegsliteratur“ – und musste sich trotzdem vorwerfen lassen, dass die „Schönheit“ der lyrischen Umsetzung der Thematik der Judenvernichtung nicht gerecht werde. Wolfgang Emmerich spricht von einem „Jahrhundertgedicht“, Winfried Freund vom „berühmtesten Gedicht der klassischen Moderne“, Harald Hartung gar vom „wichtigsten und folgenreichsten Gedicht der Epoche“. Laut Claus-Michael Ort wurde kein anderes deutschsprachiges Gedicht aus der Nachkriegszeit in vergleichbarem Umfang „Teil einer öffentlichen Kanonisierung, die es als Ganzes sowie einzelne Bildformeln zum sprachlichen Ausdruck des Holocausts erhob“: Die Metapher „Da habt ihr ein Grab in den Wolken, da liegt man nicht eng“ verstört bis heute.
Dabei hat sich sein Autor gar drei Mal mit Martin Heidegger in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg getroffen. 1954 nannte er ihn in einem nie abgeschickten, fast devoten Brief seinen „Denk-Herrn“: Ihn habe fasziniert, „dass Heidegger der Dichtung eine Mission und ein Wesen zugesprochen hat, das sie ganz in der Nähe des ‚Seins‘ platzierte“, so Emmerich. Nach den Griechen, die diesem „Sein“ näher waren, sehe Heidegger nur noch die Verfallsgeschichte der Menschheit, manifestiert in ihrer technologischen Entwicklung. Innerhalb dieser Verfallsgeschichte gebe es nur ein Medium, das dieses „Sein“ berühren kann – das ist die Sprache und ganz speziell die dichterische Sprache. Ob Heidegger wirklich auf „eine vertrackte Weise gerührt war über sich und diesen jüdischen Dichter“, der von ihm „ein klärendes Wort verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum“, wie Hans-Peter Kunisch vermutet, ist unklar. Angeblich, schreibt Kunisch, habe der Lyriker, nachdem der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg („mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen“) nur phrasenhaft reagiert habe, von diesem „gar nichts mehr erwartet“. Dieser Lyriker wurde am 23. November vor 100 Jahren als Paul Antschel geboren: Paul Celan.
ohne Lebensvertrauen
Seine Heimatstadt Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, war bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch, und galt mit ihren Künstlern, Philosophen, Musikern und Schriftstellern als vielsprachiges Zentrum deutsch-jüdischer Kreativität. Diese Pluralität prägte auch Paul, der als Einzelkind in einer deutsch sprechenden, orthodox-jüdischen Familie aufwächst. Sein strenger Vater Leo ist Vertreter einer Holzfirma. Mit der Mutter Fritzi teilt der Junge die frühe Begeisterung für deutsche Dichtung. Zunächst besucht Paul die deutsche, dann die hebräische Volksschule, von 1930 an ein rumänisches, später ein ukrainisches Staatsgymnasium. Mit vierzehn Jahren feiert er die Bar-Mizwa, vergleichbar mit der protestantischen Konfirmation im christlichen Kulturraum. Danach wird er nie wieder einen jüdischen Gottesdienst besuchen.
Nach dem Abitur beginnt er im französischen Tours das Studium der Medizin. Als sein Schnellzug auf dem Weg nach Frankreich Berlin erreicht, hatte die Stadt gerade die Reichspogromnacht hinter sich. Wegen des beginnenden Krieges kehrt er nach Czernowitz zurück und studiert dort Romanistik. 1940 besetzen gemäß der Annexionsbestimmungen des Hitler-Stalin- Pakts sowjetische Truppen die Stadt. Ein Jahr später trifft die SS-Einsatztruppe D in Czernowitz ein. Das Judenviertel wird zum Ghetto erklärt, ab Oktober 1941 werden 55.000 Juden in die Vernichtungslager Transnistriens deportiert. Nur 5.000 Menschen überleben.
Der 21jährige wird vierhundert Kilometer südlich von Czernowitz als Straßenbauer eingesetzt – in einem von den Rumänen eingerichteten Arbeitslager. Dadurch entgeht er der Deportation. Als er im Juni 1942 seine Eltern in Czernowitz besuchen will, findet er die Wohnung leer vor – sie waren nach Transnistrien geschafft worden. Sein Vater stirbt dort kurz darauf an Cholera, seine Mutter wird im folgenden Winter mit einem Genickschuss umgebracht. Die Deportation seiner Eltern und ihr Tod hinterließen tiefe Spuren in Paul. Er litt für den Rest seines Lebens unter dem Gefühl, seine Eltern im Stich gelassen zu haben. In seinen Gedichten sind zahlreiche Verweise auf dieses Trauma der „Überlebensschuld“ zu finden: „Sprachvertrauen ist nichts ohne Lebensvertrauen und das war ihm zerstört worden“, meint der Theologe Karl-Josef Kuschel im DLF.
„Der liest ja wie Goebbels“
Nach der Einnahme durch die Rote Armee kehrte Paul im Dezember 1944 nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium wieder auf. 1945 übersiedelte er nach Bukarest und studierte dort weiter, war später als Übersetzer und Lektor tätig und nennt sich nun Celan – ein Anagramm des rumänisierten Ancel. 1947 floh er über Ungarn nach Wien und siedelte 1948 nach Paris über, wo er bis zum seinem Tod als Lyriker, Übersetzer, Sprachlehrer und Dozent der Ecole Normale Superieure arbeitete – das Sprachgenie übersetzt Texte von über vierzig Autoren in sieben Sprachen, darunter der Creme de la Creme der Weltliteratur: Apollinaire, Baudelaire, Éluard, Jewtuschenko, Mallarmé, Pessoa oder Shakespeare. Noch im selben Jahr erschien in Wien mit Der Sand aus den Urnen sein erster Gedichtband mit der Todesfuge, dessen gesamte Auflage er jedoch wegen zahlreicher Satzfehler einstampfen ließ.
Hier begegnet er Ingeborg Bachmann, die zur Liebe seines Lebens wurde – der Briefwechsel Herzzeit (Frankfurt 2008) kündet davon. Inhalt und Form seiner Gedichte ändern sich radikal. Der Tod, das Schicksal des jüdischen Volkes und der ferne Gott durchziehen seine Texte – selbst die Liebesgedichte. Der Reim verschwindet immer mehr aus seinem Werk. „Diese Dialektik von Muttersprache und Mördersprache ist einer der Schlüssel, um zu verstehen, wie er seine Gedichte schreibt“, befindet Kuschel.
Vier Jahre später veröffentlicht Celan seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die 25-jährige Tochter des Marquis de Lestrange, Gisèle, mit der er im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps logiert. Im selben Jahr las er zum ersten und letzten Mal vor der Gruppe 47 – ein Desaster, erinnerte sich Walter Jens: „…er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht. ‚Der liest ja wie Goebbels‘, sagte einer. Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit. … Hans Werner Richter war der Ansicht gewesen, Celan habe ‚in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge‘“.
Celan entwickelte zwar Freundschaften mit deutschen Schriftstellerkollegen, doch die endeten regelmäßig in Zerwürfnissen. Das betraf vor allem das deutsch-französische Schriftstellerpaar Yvan und Claire Goll. Nach dem Tode ihres Mannes erhebt Claire Goll 1960 öffentlich Plagiatsvorwürfe, auch gegen die Todesfuge. Der Dichter wird zwar später von den Anklägern vollständig rehabilitiert, aber seine Psyche erleidet durch die „Plagiatsaffäre“ dauerhaften Schaden: „Celan war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche ‚Hitlerei‘“, so Iris Radisch in der Zeit.
Beeinflusst vom französischen Symbolismus und Surrealismus, gilt er dennoch als der bedeutendste Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind, die er in die geistigen Traditionen des Judentums der letzten dreitausend Jahre einzubetten versuchte, sie mit religiösen Motiven verband, vor allem aus dem Alten Testament. Seine Zweifel, sein Glauben-Wollen, aber nicht können, werden ihn bis zu seinem Tod begleiten.
Sein erster Sohn stirbt bald nach der Geburt. 1955 wird Claude Francois geboren, zugleich erhielt Celan die Staatsbürgerschaft der Republik Frankreich. In den 1960er Jahren erscheinen Gedichtbände, die ihn, inzwischen Büchner-Preisträger, weltberühmt machen, etwa Die Niemandsrose, Atemwende oder Fadensonnen. Seine ungeheure Sprachverdichtung gilt als Indiz für seine zunehmende psychische Implosion, die zu mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken führt. So wollte er in einem Wahnzustand einmal sich selbst umbringen, in einem anderen seine Ehefrau mit einem Messer töten. Seit November 1967 lebten sie getrennt voneinander, blieben aber in Verbindung.
„Man hat mich zerheilt“
Im Oktober 1969 unternahm Celan seine einzige Reise nach Jerusalem – ein weiteres Desaster. Er sieht sich nicht in der Lage, sich mit einem Leben dort zu identifizieren, fühlt sich aber auch in seiner Pariser Exilheimat zunehmend einsam. An seine Jugendliebe Ilana Schmueli schreibt er: „Ich muss täglich in meine Abgründe hinab. Jeder Tag ist eine Last. Das, was Du ‚meine Gesundheit‘ nennst, kann es wohl nie geben. Die Zerstörungen reichen bis an den Kern meiner Existenz. Man hat mich zerheilt.“
Im Februar 1970 tauchte plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der kurz darauf entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien. Eine weitere Plagiatsdiskussion wollte Celan womöglich nicht mehr erleben; sie blieb übrigens aus. Am 1. Mai 1970 findet ein Fischer seinen Leichnam in der Seine – zehn Kilometer abwärts von Paris. Wahrscheinlich hat er sich in der Nacht vom 19. auf den 20. April am Pont Mirabeau in der Nähe seiner Wohnung in den Fluss gestürzt. Einen Abschiedsbrief gibt es nicht. „Er hat sich“, schreibt Gisèle an Ingeborg Bachmann, „den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.“
Aus seinen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität seiner Anfänge verschwunden: „Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen“, befindet Radisch. Seine „weltliterarisch fast einzigartige Wirkung“ bestehe darin, dass er in einer „durch die Gräuel des Massenmordes hindurch gegangenen Sprache schreibe“, ohne „je der Illusion anzuhängen, ,über‘ Auschwitz und die Millionen von Opfern mit den Mitteln des Abbildrealismus schreiben zu können“, fasst Emmerich sein Wirken zusammen. Zu Ehren des nachdichtenden Übersetzers stiftete der Deutsche Literaturfonds 1988 den Paul-Celan-Preis für ebenfalls herausragende Übersetzerleistungen. Sein Nachlass liegt im Marbacher Literaturarchiv, auch die Handschrift der Todesfuge.
„Ich habe nie eine Zeile gedichtet, die nichts mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte. Ich bin, Du siehst es, Realist auf meine Weise“, schreibt der Dichter anfangs der 60er Jahre an einen Freund. Spätestens seit dieser Zeit hat er die Todesfuge nicht mehr gelesen, er hielt sie für „lesebuchreif gedroschen“. Hans Mayer, selbst Jude, gebrauchte die Formulierung, Celan habe sie „zurückgenommen“. Celan entgegnete: „Ich nehme niemals ein Gedicht zurück, lieber Hans Mayer.“ Den Vers „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat übrigens Heiner Müller noch zu Zeiten der DDR adaptiert zu „Deutschland dein Meister ist der Tod“. Darüber kann man nun lange nachdenken.