„perfekt ausbalanciert“
24. März 2022 von Thomas Hartung
Das Riff kennt jeder. Es ist so einfach, dass selbst Menschen, die gar nicht Gitarre spielen können, die Akkordfolge auf einer Saite hinbekämen. Generationen Pubertierender, zu denen auch der Autor dieses Textes gehört, haben es breitbeinig mit Luftgitarren und Federball- oder Tennisschlägern in ihren Kinderzimmern nachgeäfft. Gerade seine Schlichtheit und Eingängigkeit machten aus Smoke On The Water einen Jahrhundertsong, den sich selbst Kurzzeit-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zu seinem „Großen Zapfenstreich“ im März 2011 wünschte – auch wenn „Rauch auf dem Wasser“ eine „klare Sicht auf die Dinge“ erschwere, wie Thorsten Dörting im Spiegel dazu lästerte. Spätestens mit dem Song wurden Deep Purple zu einer der einflussreichsten Hardrock-Bands aller Zeiten. Das Album, auf dem sie ihn mit anfangs sechs weiteren musikalischen Kleinoden verewigten, wurde vor 50 Jahren, am 25. März 1972, veröffentlicht: Machine Head.
Es war der vorläufige Höhepunkt einer rasanten Karriere, die die britische Band in der legendären „Mark II“-Besetzung mit Ian Gillan (Gesang), Ritchie Blackmore (Gitarre), Roger Glover (Bass), Jon Lord (†, Orgel) und Ian Paice (Schlagzeug) seit Mai 1969 hinlegte. Schon In Rock (1970) verbrachte in der BRD mit Titeln wie Speed King, Hard Lovin‘ Man und vor allem der Anti-Vietnamkriegshymne Child in Time zwölf Wochen auf Platz eins der Charts. Fireball (1971) mit Klassikern wie dem Titelsong, Strange Kind of Woman oder Fools stand dem in nichts nach, gelangte als erstes Album der Band in ihrer Heimat auf Platz eins und erreichte in der BRD, wenn auch verspätet, Gold-Status.
Nun also Machine Head (dt. „Stimmmechanik“): Gemeint ist der Apparat zur mechanischen Stimmung von Saiten mit einem Schnecken- oder Planetengetriebe am Halsende von Saiteninstrumenten. Im Casino von Montreux am Genfer See wollte die Band im Winter 1971 ihr neues Album einspielen, doch ging das Gebäude während eines Konzerts von Frank Zappa, zu dem die Bandmitglieder als Gäste geladen waren, am 4. Dezember in Flammen auf: Ein Fan hatte mit einer Leuchtpistole an die Decke gefeuert und den Bau in Brand gesetzt. „Der Wind kam von den Bergen herab und trieb den Rauch und die Flammen über den See“, erinnert sich Gillan. Die Band hatte ihr Aufnahmestudio verloren – und die Inspiration für ihren größten Hit gewonnen. Die Aufnahmen fanden dann vom 5. bis 21. Dezember 1971 mit dem mobilen Rolling-Stones-Studio statt: eigentlich „nur“ einem „Kontrollraum“ für maximal 20 Eingänge mit einem 16-Spur-Aufnahmegerät.
Die Rolling Stones hatten es, müde von den „9 to 5“-Einschränkungen klassischer Studios, 1968 entwickeln lassen und stellten es auch anderen Bands zur Verfügung. Deep Purple hatten nun das teure Tonstudio, aber keinen Ort mehr, an dem sie ihre Aufnahmen machen konnten. Auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten kam als erstes das Theater „The Pavilion“ in Frage. Nach Beginn der Session beschwerten sich Nachbarn über den Lärm; und die Polizei schritt ein. Schließlich wurde nach einer Woche des Suchens das fast leerstehende „Montreux Grand Hotel“ gemietet, wo der Salon zum Aufnahmestudio umfunktioniert wurde. Smoke on the Water wurde als einziges Lied nicht hier eingespielt, sondern erst später aus dem Basic Track der abgebrochenen Pavilion-Aufnahmen vollendet.
Weltrekord mit 1802 Gitarristen
Das Album beginnt mit Highway Star, das zu den wichtigsten Wegbereitern des Speed Metal zählt und schon am 13. September 1971 in einem Tourneebus vor Journalisten aus einer Improvisation entstanden sein soll. Im Beat-Club von Radio Bremen feierte das Lied schon Ende September seine Fernsehpremiere und war zwei Jahre lang auch der Konzertopener der Band. Das Gitarrensolo von Blackmore wurde vom Magazin Guitar World auf Platz 15 der „100 Greatest Guitar Solos“ gelistet, der Song selbst vom britischen Automagazin Top Gear auf dem 5. Platz der „Greatest Driving Songs of All Time“ geführt. Roger Glover bescheinigte, dass Highway Star „der endgültige Deep-Purple-Song“ sei. Er wurde in verschiedenen Kinofilmen, Fernsehserien und Computerspielen verwendet und von vielen Bands gecovert.
Es schlossen sich Maybe I’m a Leo sowie Pictures of Home an; letzteres war nach Blackmores Ausscheiden jahrelang im Live-Repertoire der Band und erfuhr in der Classic-Edition von 1999 auch ein Arrangement mit dem London Symphony Orchestra. Beendet wird die A-Seite von Never Before. Die Band wollte mit diesem Song eine kommerzielle Single machen, falls das Plattenlabel danach verlangen würde, und investierte viel Zeit in dessen Arrangement. Umsonst – die Single floppte, war aber gefällig: Sogar die Les Humphries Singers coverten sie. Das Juwel auf der B-Seite der Single fand dagegen nicht den Weg aufs Album: When A Blind Man Cries – ein musikalisch-textlich ausgereiftes balladeskes Fresko über einen einsam erblindeten Mann, das erst 1997 zum 25. Albenjubiläum als jetzt achtes Stück in die Neuauflage gelangte.
Die B-Seite des Albums nun beginnt mit Smoke on the Water. Das Lied erreichte Platz vier der amerikanischen Billboard-Charts, gilt mit über 12 Millionen verkauften Exemplaren als eines der meistverkauften und bekanntesten Werke der Rockmusik und wurde in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. In den USA ist es das bekannteste Lied nach der Nationalhymne. Die Zeitschrift Ultimate Classic Rock listete Smoke on the water auf Platz 1 der Top 10 Deep Purple Songs. Es existieren zahlreiche Zitate und Coverversionen, darunter 1989 eine Neueinspielung durch das Fundraising-Projekt Rock Aid Armenia anlässlich des Erdbebens von Spitak, das 25.000 Tote forderte. 2007 stellten 1.802 Gitarristen in Leinfelden-Echterdingen einen Gitarren-Weltrekord mit dem Lied auf, dirigiert vom Volkschor-Guru Gotthilf Fischer. Gillan war aus England zugeschaltet, konnte wegen technischer Probleme jedoch nicht mitsingen.
Lazy ist dann mit über sieben Minuten das längste und nicht nur wegen Gillans Mundharmonika auch bluesigste Stück des Albums. Die Leser von Guitar World wählten Blackmores Solo auf Platz 74 der 100 größten Gitarrensoli aller Zeiten. Teile dieses Songs wurden in Australien im Sportprogramm Channel 9 als Werbetrenner verwendet. Space Truckin’ beschließt dann das Album. Gillan erzählt im Songtext comichaft vom Alltag eines Weltraumfernfahrers zwischen planetaren Raststätten. Das Lied wurde unter anderem von „Captain Kirk“ William Shatner („Raumschiff Enterprise“) auf seinem vierten Album Seeking Major Tom gecovert, aber auch in Filmen und Computerspielen benutzt. Im Allgemeinen dauerte Space Truckin’ bei einem Live-Konzert länger als 20 Minuten, wurde am Ende des Sets gespielt und diente Lord und Blackmore als Anlass ausufernder „Live-Duelle“.
Die rohe und ungezügelte Energie des Songs offenbarte sich 1974 beim California Live Jam, als Blackmore eine Gitarre in den Bühnengraben schleuderte, eine weitere auf einer Fernsehkamera zerschlug, zum Ende des Songs hin die Verstärker in Brand setzte und so eine Detonation auslöste, die die Bühne zum Beben brachte. Dabei wurde Paice‘s Brille weggeschleudert, sehbeeinträchtigt trommelte er wild um sich. Auch Lord kam hinter seiner Orgel am anderen Ende der Bühne ins Wanken. Blackmore selbst wurde auf den vorderen Bühnenrand geblasen, seine Haare fingen Feuer. Nach der Beendigung des Konzerts prasselten sofort Schadenersatzklagen auf die Band-Manager ein. Blackmore konnte sich seiner drohenden Verhaftung entziehen, indem er mit einem Hubschrauber ins Hotel und von dort mit einer Limousine nach Los Angeles gebracht wurde.
Wegbereiter des Heavy-Metal-Genres
Viele Musikkritiker sehen Machine Head als einen der wichtigsten Wegbereiter des Heavy-Metal-Genres an. Es wurde mit Led Zeppelins IV (Stairway to Heaven) und Black Sabbaths Paranoid (Iron Man) als „Holy Trinity“ (Heilige Dreifaltigkeit) des Hardrock bezeichnet und das meistverkaufte Studioalbum der Band. Es gelangte in Deutschland und im Vereinigten Königreich auf Platz eins und auch in anderen Staaten hoch in die Charts. Am 13. Oktober 1986 erlangte es Doppel-Platin-Status, 2001 listete die Zeitschrift Q das Album unter den 50 Heaviest Albums of All Time. Songwriting, Instrumentierung und Interpretation seien perfekt ausbalanciert auf den Punkt gebracht, befanden Christof Mallet & Oliver Lange 2002 im Musikmagazin Eclipsed: „Das Album fiel schnörkellos, kompakt und in sich stimmig aus wie kein anderes Purple-Produkt zuvor oder danach.“
Im Rahmen ihrer Machine Head Worldtour nahmen Deep Purple Mitte Juni 1972 nicht nur Made in Japan auf, das bis heute als eins der besten Live-Alben der Musikgeschichte gilt, sondern spielten am 30. Juni auch ein Konzert im Londoner Rainbow Theatre, wo sie einen Lautstärkeweltrekord mit 117 dB aufstellten. 1975 führte sie dann das Guinness-Buch der Rekorde als „lauteste Popgruppe der Welt“. Doch da war die „Mark II“-Besetzung schon Geschichte: Gillan und Glover wurden wegen andauernder Querelen mit Blackmore ersetzt.
Beider Karriere schadete das nicht, im Gegenteil: Glover vertonte erfolgreich ein Kinderbuch und arbeitete als gefragter Produzent, Gillan wurde von Andrew Lloyd Webber engagiert, auf der Originalaufnahme von Jesus Christ Superstar zu singen. Als er auch in der Verfilmung die Hauptrolle bekommen sollte, war sein Marktwert schon zu hoch. Beide sind seit 1984 wieder bei Deep Purple; Gillan sang 2020 mit Whoosh! das inzwischen 21. Studioalbum ein. Insgesamt soll die Band bis zu 150 Millionen Alben verkauft haben; allein Gillans Vermögen wurde 2019 auf 40 Millionen Dollar geschätzt.