„Deutschlands professionellster Hallodri“
23. Dezember 2021 von Thomas Hartung
Er hielt einige Rekorde, manche davon wie seine zehn Bambis haben immer noch Bestand. So galt er seit 2001 als der weltweit älteste aktive darstellende Künstler: Insgesamt stand er 90 Jahre auf der Bühne und 87 vor der Kamera. Am Silvestertag 1938 gab er mit Nelke im Knopfloch, weißen Handschuhen und langem, weißem Seidenschal erstmals den Grafen Danilo in der Lustigen Witwe am Münchner Gärtnerplatztheater – eine Rolle, die er danach über viereinhalb Jahrzehnte hinweg bis 1983 mehr als 1600-mal verkörperte. Von 1996 bis 2001 spielte er in dem von Curth Flatow für ihn geschriebenen Stück Ein gesegnetes Alter als weltweit ältester Schauspieler, der über 250-mal en suite in der Hauptrolle eines Drei-Stunden-Stücks auf der Bühne stand: Johannes „Jopi“ Heesters, der am Weihnachtstag 2011 als damals zweitältester lebender deutscher Mann in Starnberg starb.
Als Johannes Marius Nicolaas Heesters am 5. Dezember 1903 im niederländischen Amersfoort als jüngster von vier Kaufmannssöhnen geboren wurde, gab es noch kein Radio und keinen Fernseher. In Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II.; in Detroit ließ Henry Ford sein erstes Auto vom Fließband. Als Junge hat er geboxt und beim holländischen Renommierklub Ajax Amsterdam Fußball gespielt. Heesters, der spätere „Dandy des Jahrhunderts“, wollte eigentlich Priester und dann Kaufmann werden, verfiel jedoch, nachdem er mit 16 zum ersten Mal ein Theater von innen gesehen hatte, sofort der Schauspielkunst und gründete mit Freunden eine Theatergruppe. Schon damals fiel er als Sänger auf und ließ sich, dem Rat der anderen folgend, am Amsterdamer Operettentheater ausbilden. Im Dezember 1927 sang er bei Harry Frommermann vor, der die Comedian Harmonists gründete, lehnte ein Engagement jedoch ab, als dieser ihm sagte, er würde für die nächsten Monate keine Gage bezahlen können.
Schnell feierte er in seiner Heimat Erfolge als Operettentenor, und auch seine Frau Louise Ghijs („Wiesje“), die er 1928 in Rottterdam kennen lernte und die 1985 starb, war ein junger Operettenstar. Der Ehe entstammten in den 1930er Jahren zwei Töchter, die ebenfalls erfolgreiche Künstler wurden. Jopies Durchbruch begann 1934 an der Wiener Volksoper in der Titelpartie von Carl Millöckers „Bettelstudent“. Als ihn ein Jahr später die Komische Oper Berlin abwarb, spielte Heesters diese Rolle auch in der opulenten Ufa-Verfilmung von 1936, mit Carola Höhn und der vom Varieté kommenden Marika Rökk, die bald Heesters´ wichtigste Filmpartnerin wurde. Es folgten binnen kürzester Zeit die Ufa-Filme „Das Hofkonzert“, „Wenn Frauen schweigen“ und „Gasparone“, mit denen der Beau aus Holland in typischer Befrackung endgültig zum „Typus des amerikanischen Tonfilmcharmeurs“ avancierte. Ihm wurden zahllose Affären nachgesagt.
Heesters´ Startposition in Berlin war glänzend, waren doch die berühmten jüdischen Operettenstars samt und sonders aus Deutschland vertrieben worden. Mit Operettenmelodien und Songauskopplungen seiner Filme wurde er jetzt auch zum Plattenstar: Man müsste Klavier spielen können oder Ich knüpfte manch zarte Bande wurden ganz große Hits. Sein größter allerdings war als Danilo Heut geh ich ins Maxim, den Heesters bis ins Greisenalter reflexhaft abrufen konnte, als sei er darauf programmiert. Allein im Berliner Admiralspalast haben ihn zwischen 1939 und 1941 fast eine halbe Million Zuschauer dafür bejubelt.
Seine lässige Eleganz, mit sich der Heesters in Revuefilmen wie Nanon (1938), Hallo Janine (1939) oder Jenny und der Herr im Frack (1941) auf Showtreppen bewegt, lässt die Streifen heute noch wie ganz großes Kino erscheinen. „Er machte die Operette intelligent, allein durch seine abgefeimte Kunst des Pointierens. Was Johannes Heesters auch künstlerisch anfasste, er verwandelte es in eine Wolke farbensprühender Luftballons. Und ließ sich von ihnen ins Himmelblau ziehen“, meinte Klaus Geitel in der Welt. Zu seinen größten Fans zählte Adolf Hitler, der Heesters zu seinem Lieblings-Danilo erkor, sowie Joseph Goebbels, der ihn 1943 mit dem Zusatz „Ausländer“ auf die sogenannte Gottbegnadeten-Liste setzte. Sympathiebekundungen von ihm für das Regime sind nicht bekannt. Er nahm weder die deutsche Staatsangehörigkeit an, zu der ihn Goebbels drängte, noch war er NSDAP-Mitglied.
„aus Platzgründen“ wieder ausgeladen
Nach dem Krieg wurden Heesters’ Filme – im Gegensatz zu einigen Filmen mit Heinz Rühmann (etwa Quax, der Bruchpilot) – vom Alliierten Kontrollrat nicht als NS-Propaganda eingestuft, sie hätten dem NS-Regime nur zur Ablenkung und Ruhigstellung der Bevölkerung gedient. So konnte er seine Karriere bruchlos fortsetzen. Die 1944 von der Terra Film produzierte Operettenverfilmung Die Fledermaus wurde am 16. August 1946 in Ost-Berlin als erste deutschsprachige Produktion in der sowjetischen Besatzungszone uraufgeführt. Neue Unterhaltungsstreifen wie Wenn eine Frau liebt (1950) mit Hilde Krahl, Operettenverfilmungen wie Die Czardasfürstin (1951) und Die geschiedene Frau (1953) mit Marika Rökk oder das Singspiel Im weißen Rößl (1952) mit Johanna Matz als Rößlwirtin ließen die Kinokassen klingeln.
1953 engagierte ihn Otto Preminger für den Film Die Jungfrau auf dem Dach nach Hollywood. Von weiteren Auftritten in den USA sah er ab: Er müsse sich schon anstrengen, richtig Deutsch zu sprechen; da auch noch Englisch zu lernen habe er keine Lust, ließ er verlauten. In den 1960er und 1970er Jahren war er in zahlreichen Fernsehfilmen, Theateraufzeichnungen und Fernsehshows zu sehen. Und weil sie jetzt unterging, die gute alte Operettenwelt der Grafen und Galane, widmete sich Heesters nun dem Musical und den Möglichkeiten des Fernsehzeitalters getreu seiner Devise: „Wenn man zu sehr den alten Dingen nachhängt, versäumt man die Zukunft.“ 1978 erschienen seine Memoiren: Es kommt auf die Sekunde an. Anfang des neuen Jahrtausends kommen ein weiterer Band sowie mehrere Fotobücher und Biographien auf den Markt.
750 Mal – bis zu seinem 80. Geburtstag – spielte er ab Mitte der siebziger Jahre am Münchner Gärtnerplatztheater die andere große Lebemann-Rolle seiner Karriere: den Honoré Lachailles in Frederick Loewes Erfolgsmusical Gigi. „Er war Deutschlands professionellster Hallodri. Wie andere Schweiß versprühten, so versprühte er Charme“, befand Geitel. Später kehrte er auch ans Theater zurück, spielte im zarten Alter von 86 Jahren den gealterten Casanova auf Schloss Dux. 1992 heiratete Heesters die Schauspielerin Simone Rethel, fast 46 Jahre jünger als er, die schon als Elfjährige in ihn verknallt war. Wer je erlebte, wie fürsorglich und geduldig sie mit ihrem greisen Mann umging, der zuletzt kaum mehr hörte und komplett erblindet war, ahnt, was sie geleistet hat. 2003 standen sie in der Stuttgarter Komödie am Marquardt sogar gemeinsam auf der Bühne.
Die Deutschen liebten ihren Jopie vorbehaltlos, seine holländischen Landsleute aber haben ihm die Karriere in Nazi-Deutschland schwer verübelt. Für sie war Heesters ein Kollaborateur, Auftritte in Holland wurden ihm verwehrt. Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch soll ihn 1985 für den Roman Höchste Zeit als Vorbild für einen Operettenkollaborateur genommen haben. Dass er nicht einmal zum 100. Geburtstag offizielle Glückwünsche aus seiner Heimat bekam, hat ihn getroffen. Umso beseelter war er, als er im Februar 2008 nach fast einem halben Jahrhundert wieder in seiner Geburtsstadt Amersfoort auftreten durfte. Von einem Staatsbankett, das Bundespräsident Christian Wulff für die niederländische Königin Beatrix gab, wurde er „aus Platzgründen“ wieder ausgeladen – auch der Stachel sitzt tief. Noch 2008 setzte sich Heesters vor Gericht gegen Behauptungen zur Wehr, er sei 1941 bei einem befohlenen Besuch des Gärtnerplatz-Ensembles im KZ Dachau dort auch aufgetreten. Der KZ-Besuch selbst ist unumstritten.
„absolute Ausnahmeerscheinung“
Zu seinem 95. Geburtstag hatte der Jahrhundert-Charmeur Heesters 1998 bei einer Wetten dass…?-Sendung als Wetteinsatz angeboten, dass er zu seinem 100. Geburtstag wieder in die Sendung käme, falls er mit seiner Meinung falsch läge und das mit dem Lied Ich werde 100 Jahre alt, darauf könnt ihr bauen! untermauert. 2003 konnte er sein Versprechen wahr machen. Anlässlich seines 100. kündigte er an, dass er erneut Gesang studieren möchte: „Meine letzte Gesangsstunde ist schließlich schon 40 Jahre her“. Im Herzen blieb ich jung, sang er in einem seiner jüngeren Lieder. Er machte regelmäßig Fitnesstraining und liebte seine Arbeit, von der er bis zuletzt nicht abließ. 2002 spielte er den alten Diener Firs in Tschechows Kirschgarten.
Den 104. Geburtstag feierte er singend im Berliner Admiralspalast, zum 105. trat er in Hamburg im Winterhuder Fährhaus als Kaiser Franz Joseph im Weißen Rössl auf. Und jedes Jahr gab es seit dem Hundertsten einen Bambi. 2007 nahm er mit Claus Eisenmann, dem ehemaligen Sänger der Söhne Mannheims, bei einem Hip-Hop-Label die Maxi-Single Generationen auf; im Sommer 2010, mit sagenhaften 106 Jahren, trat er im Berliner Ensemble in einer kleinen Rolle als König in einem Hochhuth-Stück auf. Mit 107 hörte er seiner Frau zuliebe mit dem Rauchen auf. Und während er im Dezember 2011 schon im Krankenhaus lag, ist in München der Kurzfilm Ten herausgekommen, in dem Jopie den Petrus spielt: Seine letzte Rolle war der Himmelspförtner. Es gibt einen Witz, den Heesters ganz gern selbst erzählte: Es ist 4 Uhr nachts, jemand pocht laut an die Pforte. Jopi quält sich aus dem Bett und sieht, nachdem er zur Tür schlurfte und sie öffnete, den Tod stehen. Da dreht er sich um und ruft: „Simone! Für dich!“
Heesters spielte, solange er fit war, denn: „Soll ich zuhause sitzen und warten, bis man mich holt?“, wie er einmal sagte. „Man kann ihn als absolute Ausnahmeerscheinung bezeichnen“, zitiert der Wiener Kurier Heesters Arzt aus Starnberg. „Es gibt keine auffälligen Werte, Puls, Lunge, Herz, alles ist in Ordnung, er benötigt keine Medikamente.“ Der ewige Grandseigneur, der sein Archiv bereits 2004 der Akademie der Künste in Berlin übergeben hatte, verkörperte eine versunkene Welt. Heesters wollte immer gefallen, was seine größte Stärke, gleichzeitig aber auch seine größte Schwäche war. Niemand genoss den Beifall des Publikums so, zelebrierte den Applaus so gekonnt wie Johannes Heesters, hat seine Kollegin Dagmar Koller einmal über ihn gesagt. Sein Grab auf dem Münchner Nordfriedhof ist einem steinernen Theaterauditorium nachempfunden – mit seiner Büste auf der Bühne.