Der Liederfürst
31. Januar 2022 von Thomas Hartung
Er hat sein Lebenswerk in 31 Jahren vollenden müssen, davon die letzten sechs unter der Syphilis, die auf vielfache Weise hineinwirkte in sein Leben und auch in seine Kunst. Der Kontrast zwischen ereignisarmem Lebenslauf und kurzfristigem, intensivem, unvorstellbar inspiriertem Schaffensprozess irritiert bis heute. Seine Produktivität ist absolut unfassbar. Er hat wohl 30 000 Stunden mit Komponieren zugebracht, selbst beim Schlafen seine Brille getragen, um Einfälle sofort notieren zu können. Wie mancher vor und nach ihm, sollte auch er nach seiner neunten Sinfonie sterben. Seine einzigartige Existenz innerhalb seiner Musik ging bis zum Unvermögen, ein konventionell-soziales Leben zu führen: „Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Componieren auf die Welt gekommen“, hat er zwei Jahre vor seinem frühen Tod geschrieben: Franz Schubert, der am 31. Januar vor 225 Jahren in Himmelpfortgrund bei Wien geboren wurde.
Er war das dreizehnte von zwanzig Kindern des örtlichen Schulmeisters – von seinen Geschwistern erreichten nur acht das Erwachsenenalter. Der Vater erkannte früh sein Talent und gab ihm mit fünf Jahren Violinunterricht, mit sechs Jahren bekam er von seinem älteren Bruder Ignaz Klavierunterricht, mit sieben vom Kapellmeister der Lichtentaler Pfarrkirche dann Orgelunterricht. An Sonn- und Feiertagen wurden in der Familie regelmäßig Streichquartettabende veranstaltet, bei denen sein Vater Violoncello, er selbst Viola und seine Brüder Violine spielten. Wegen seiner schönen Stimme wurde er im Oktober 1808 als Sängerknabe in die Wiener Hofmusikkapelle und in das kaiserliche Konvikt aufgenommen, Antonio Salieri war sein Lehrer und Förderer. Er wirkte nicht bloß als Solist im Gesang, sondern lernte als zweiter Violinist im Konviktorchester auch die Instrumentalwerke Haydns und Mozarts kennen.
Seine erste Komposition, eine Klavierfantasie G-Dur zu vier Händen, ist auf den April 1810 datiert – er ist er einer der ersten, der gute Musik für Piano zu vier Händen schreibt. Als er sich besonders in Mathematik und Latein verschlechterte, kehrte er im Oktober 1813 ins elterliche Haus zurück – und komponierte seine Sinfonie Nr. 1 D-Dur. 1814 – er besuchte inzwischen eine Lehrerbildungsanstalt –wurde ein Schicksalsjahr für ihn. Neben seiner ersten Oper „Des Teufels Lustschloss“ sowie mehreren Liedern wie „Gretchen am Spinnrade“ (aus Goethes Faust) und „Der Taucher“ (nach Schiller) komponierte er seine Messe Nr. 1 F-Dur. Die Uraufführung am 25. September 1814 in der Lichtentaler Pfarrkirche war die erste öffentliche Aufführung eines seiner Werke.
Dabei wurde das Sopransolo von der 16-Jährigen Therese Grob gesungen – die zur unglücklichen Liebe seines Lebens werden sollte. Sie wirkte auch bei den ersten Aufführungen der nächsten Messen mit, Schubert widmete ihr ein Streichquartett. In seinen Erinnerungen zitiert Anselm Hüttenbrenner Schubert so: „Gut war sie, herzensgut. Drei Jahre hoffte sie, dass ich sie ehelichen werde; ich konnte jedoch keine Anstellung finden, wodurch wir beide versorgt gewesen wären. Sie heiratete dann nach einem Wunsch der Eltern einen anderen, was mich sehr schmerzte. Ich liebe sie noch immer, und mir konnte seitdem keine andere so gut und besser gefallen wie sie. Sie war mir halt nicht bestimmt.“ Schubert wird definitiv bindungsunfähig.
mit glitzernden Augen komponiert
Für zwei Jahre Schulgehilfe seines Vaters, erlebt er 1815 seinen „Liederfrühling“ mit der Komposition von 150 Liedern. Im Herbst dieses Jahres soll er den „Erlkönig“ in die Hand bekommen, sofort „mit glitzernden Augen“ komponiert und noch am selben Abend aufgeführt haben. Er soll auch, nach einem langen Abend mit Freunden, etlichen Flaschen Wein und Zigarren, sich ans Pult gesetzt und „die Forelle“ geschrieben haben. Wahr an den Anekdoten könnte sein, dass Schubert – wie Mozart – im Kopf komponierte und dann nur noch niederzuschreiben brauchte. Er hatte ja meist auch kein Piano zur Verfügung. 1816 wird Goethe das ihm zugesandte Liederheft unter anderem mit dem „Erlkönig“ und „Gretchen am Spinnrade“ ignorieren.
1818, mit 21 Jahren, will Schubert sein Leben als „Berufskomponist“ ganz der Musik widmen, was den zeitweisen Bruch mit seinem Vater nach sich zog. Zunächst wirkt er als Musiklehrer beim Grafen Esterházy in Zseliz (heute Ungarn). Für die Komtessen Marie und Caroline, die Töchter des Grafen, schrieb er vierhändige Stücke und Lieder und schuf seine Sinfonie Nr. 6 C-Dur. Während der ihm noch verbleibenden zehn Jahre lebt er in Wohngemeinschaften bei verschiedenen Freunden, zu denen er auch homosexuelle Beziehungen unterhalten haben soll, er galt als bisexuell. Seinen ersten Auftritt als Liedkomponist hatte er 1819 mit „Schäfers Klagelied“. Schubert wird Zentrum und Magnet kunstliebender Zirkel, der sogenannten „Schubertiaden“, die die musikalische Bürgerfamilie Sonnleithner zu seinen Ehren organisierte und die in ähnlicher, aber völlig anders organisierter Form noch immer stattfinden, so als Schubertiade-Festival in Vorarlberg.
Das große öffentliche Publikum blieb ihm eher verschlossen. Zu seinen Bewunderern gehörte unter anderem Franz Grillparzer oder Moritz von Schwind. Ermutigt von den Erfolgen versuchte Schubert nun, sich als Bühnenkomponist zu etablieren, wurde aber in seinen Hoffnungen enttäuscht. Sowohl „Alfonso und Estrella“ als auch „Die Verschworenen“ wurden vom Theater abgelehnt, „Fierrabras“ nach ersten Proben abgesetzt. Im Alter von 25 Jahren entdeckt er dann Symptome für Syphilis und wird im AK Wien behandelt, damals das modernste Krankenhaus Europas, wo er in ekel- und angsterregender Umgebung von Geschwürskranken die schönsten Müllerin-Lieder schreibt.
Die Symphonie Nr. 8 wird unvollendet bleiben und spiegelt seine Krankheit: Die zwei vorhandenen Sätze sind von eindringlicher emotionaler Spannung – Musik strahlenden inneren Lichts, gefangen in Traurigkeit und Einsamkeit. Werke wie die zwei Liederzyklen „Winterreise“ und „Schwanengesang“ sind auch in Beziehung zu seiner Krankheit zu sehen: Zeitlebens hat er eine Neigung gehabt zur Thematik von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Verlassensein, Einsamkeit, Tod und, alles umfassend, Wanderschaft: schicksalhafte Unstetigkeit, von der es Erlösung durch Liebe vielleicht, gewiss aber nur durch den Tod gibt. 1823 entsteht die beliebte „Rosamunde“-Musik, 1824 „Der Tod und das Mädchen“.
Auch in den nächsten Jahren arbeitete Schubert unermüdlich und produzierte zahlreiche Kompositionen. Es entstanden Werke wie der Liederzyklus „Die Winterreise“, der einen Gipfel in der Gattung des Liedes im 19. Jahrhundert darstellte. Jeden Morgen begann er nach dem Aufstehen mit dem Komponieren, aß um zwei Uhr, ging spazieren und wandte sich dann erneut der Komposition zu oder besuchte Freunde. Mit zunehmendem Alter wurde er korpulenter und neigte zu alkoholischen Exzessen. Wegen seiner Größe von nur 1,56 m wird er „Schwammerl“ gerufen. Im Frühjahr 1824 scheint die Krankheit den Komponisten psychisch besonders schwer belastet zu haben: „Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen der Welt“ schrieb er. Es ist davon auszugehen, dass sich Schubert fortan wiederholt Quecksilberkuren unterzog, die mit heftigen Nebenwirkungen verbunden waren.
„hier ist mein Ende“
im Sommer dieses Jahres war er zum zweiten Mal bei Esterházy engagiert. Er widmete der 19-jährigen Komtesse Caroline drei Lieder, angeblich soll er sie umworben haben. 1825 hatte Schubert noch einmal eine glücklichere Phase, in die eine Reise durch Österreich zur Kur nach Bad Gastein fiel. Er arbeitete an der „Gmunden-Gasteiner Sinfonie“ und schrieb Klaviersonaten D-Dur, die er zu einem recht hohen Preis veröffentlichen konnte. Das war nicht selbstverständlich: Einen Gulden pro Lied bekommt er von Verlegern, die seine Not um Geld für Medikamente schamlos ausnutzen. Von 1826 bis 1828 hielt sich Schubert in Wien und seinen Vorstädten auf. Die Stelle des Vizekapellmeisters an der kaiserlichen Hofkapelle, um die er sich 1826 bewarb, bekam er nicht. Am 26. März 1828 gab er das einzige öffentliche Konzert seiner Karriere, das ihm 800 Gulden Wiener Währung einbrachte. Zahlreiche Lieder und Klavierwerke waren inzwischen gedruckt worden; doch das Geld gab Schubert vor allem im Wirtshaus beim Wein aus.
In seinem letzten Lebensjahr schreibt Schubert, wie Mozart, tief inspirierte Kompositionen. Sein Tagebuch wird spärlicher: Isolation, Kälte, Lebensverneinung. „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Im Kontrast zu Schuberts Melancholie ist es beruflich ein gutes Jahr: Einladungen, beachtliche Privatkonzerte, Veröffentlichungen. Er schreibt die C-Dur-Sinfonie Nr. 9, die Große, 1838 von Robert Schumann entdeckt; und im Mai die letzten drei Impromptus, die dann 30 Jahre lang verschollen bleiben. Für seine Kopfschmerzen wird Landluft verordnet, so zieht er im Juni zum Bruder Ferdinand. Die große Messe Es-Dur, die Klaviersonaten in c-Moll und A-Dur sind aus diesem letzten Sommer, und das Streichquintett in C-Dur.
Trotz Schwindel und unerträglichen Kopfschmerzen wandert er noch Anfang Oktober mit Bruder Ferdinand und zwei Freunden nach Eisenstadt zum Grab des verehrten Haydn und zurück, 70 Kilometer zu Fuß. Schuberts Tod meldet sich gespenstisch beim Abendessen: „Da er nun am letzten Oktober abends einen Fisch speisen wollte“, schreibt Ferdinand, „warf er, nachdem er das erste Stückchen gegessen, plötzlich Messer und Gabel auf den Teller und gab vor, es ekle ihn gewaltig vor dieser Speise, und es sei ihm gerade, als habe er Gift genommen. Von diesem Augenblick an hat Schubert fast nichts mehr gegessen und getrunken, bloß Arzneien geschluckt.“ Bei einem Aderlass soll Schubert dann dem Arzt starr ins Auge gesehen, an die Wand gegriffen und gesagt haben: „Hier, hier ist mein Ende.“
Er stirbt an Typhus, der gleichen Krankheit wie seine Mutter, nachmittags um drei an ihrem Namenstag, dem 19. November 1828. Begraben nahe Beethoven, wurden seine Gebeine 1888 in ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof überführt. Sein Grabmal trugt eine Inschrift Grillparzers: „Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz; aber noch viel schönere Hoffnungen.“ Dass er lange als „verkanntes Genie“ dargestellt wurde, das seine Meisterwerke unbeachtet von der Öffentlichkeit schuf, liegt daran, dass er mit seinen Großwerken – etwa seinen Sinfonien – keine große Wirkung erzielte und ihm mit seinen Opern nicht der ersehnte Durchbruch gelang. Allerdings suchte er selbst auch nicht die Öffentlichkeit und konnte anders als Mozart und Beethoven erst spät zu einem eigenen Konzert überredet werden. Er gilt neben Beethoven als der Begründer der romantischen Musik im deutschsprachigen Raum, schuf weltliche und geistliche Chormusik, sieben vollständige und fünf unvollendete Sinfonien, Ouvertüren, Bühnenwerke, Klaviermusik und Kammermusik, vor allem Quartette und Quintette.
Einschließlich der drei großen Lieder-Zyklen komponiert Schubert rund 700 Lieder, in denen er meistens das „Strophenlied“ verlässt und die Möglichkeiten des Klaviers über das Begleiterische hinaus zu dramatischer Gestaltung der künstlerischen Aussage entwickelt. „Er hat das Kunstlied auf eine bis dahin nicht gekannte Höhe geführt“, so Dietrich Fischer-Dieskau. Das Besondere an Schuberts Liedern gründet darin, dass nicht eine musikalische Idee leitend ist, sondern die sprachliche Vorgabe. Seine Mittel, der vorgegebenen melodischen und metrisch-rhythmischen Sprachgestalt musikalisch zu folgen, sind neben äußeren Mitteln wie gezielte Text-Wiederholungen oder Wechseln des Tongeschlechts in einem Lied auch die Klavier-Imitation realer Schallphänomene wie plätscherndes Wasser, Hundegebell oder Wetterereignisse. Ernst Keil gab ihm 1866 den Titel „Liederfürst“. Franz Liszt beschrieb Schubert als den „poetischsten Musiker, der je gelebt hat.“