„Die NSDAP war weder links noch eine Unterschichtspartei.“ Nein!
17. Februar 2025 von Thomas Hartung
Anfang Februar veröffentlichte die FAZ ein Interview von Julia Encke mit dem Historiker Volker Weiß mit der o.g. Schlagzeile, das mich zu folgendem Leserbrief herausforderte:
Wer so einen Unsinn behauptet, mag sich gern Publizist nennen – Historiker ist er nicht. Vorab: Oswald Spengler, dem man Zeitzeugenschaft schwerlich absprechen kann, bezeichnete einst die NSDAP als „Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen“. Das ist auch kein Wunder, da die Organisation aus drei Gründen attraktiv war: Sie bot Struktur und „Sinn“ in einer Zeit der Perspektivlosigkeit, daneben Kameradschaft und ein Zugehörigkeitsgefühl für sozial Ausgegrenzte, vor allem Männer, und überdies Machtgefühl durch Uniformen und Gewaltbereitschaft. Nach Kater war die NSDAP schon in ihrer Entstehungsphase eine Organisation, in der die Angehörigen der selbständigen und unselbständigen Mittelklasse eindeutig überrepräsentiert gewesen sind; wobei die unteren Schichten – Handwerker, kleine Kaufleute und Beamte – weitaus stärker vertreten waren.
Zum Grundsätzlichen in gebotener Kürze, und ich bediene mich hier gern bei Jan Fleischhauer und Michael Klonovsky: Auch Weiß scheitert an der Aufgabe, im Wort Nationalsozialismus das Wort Sozialismus unsichtbar zu machen, um es als Begriff zu retten; das funktionierte übrigens auch bei Volks-Genosse nur unzureichend: Ein Kompositum besteht aus dem Grundwort und dem Bestimmungswort, das Grundwort lautet: Sozialismus. Um es loszuwerden – und keineswegs nur, weil es bequemer ist und plastischer klingt –, hat sich die Bezeichnung „Nazis“ durchgesetzt. Bereits das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 verkündete als Motto „Gemeinnutz vor Eigennutz“ und fordert u.a. die Verstaatlichung von Betrieben – wörtlich hieß es etwas wirr „Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trust) Betriebe“ –, Gewinnbeteiligung an Großbetrieben sowie eine Bodenreform. Auf einer NSDAP-Veranstaltung am 16. Februar 1923 hatte Hitler angekündigt: „Das Kapital muss Dienerin des Staates werden und nicht die Beherrscherin.“

In einer Rede zum 1. Mai 1927 erklärte er: „Wir sind Sozialisten, wir sind Feinde der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung für die Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen.” „Wir sind Sozialisten“, echote Joseph Goebbels am 16. Juli 1928 im „Angriff“ und führte aus: „Der Sozialismus ist die Befreiungslehre des Arbeitertums”, der „Aufstieg des vierten Standes und seine Einfügung in den politischen Organismus unseres Vaterlandes” sei „unlösbar mit der Brechung des gegenwärtigen Sklavenzustandes und der Wiedergewinnung der deutschen Freiheit auf das Innigste verknüpft”. In Karl Löws über zwei Millionen Mal verkauften Propagandawerk „Der verratene Sozialismus“ (erschienen 1938 im Nibelungen-Verlag) wird Hitler gefeiert als größter Sozialist aller Zeiten. Der Nibelungen-Verlag unterstand direkt dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.
Abgesehen von diesen und weiteren Zitaten, seien Weiß und allen anderen Lechts-Rinks-Adepten nur die wichtigsten Fakten referiert: Der 1. Mai wird auch heute bis weit in linke Kreise hinein in Ehren gehalten, dabei geht seine Einrichtung als Nationalfeiertag auf die Nazis zurück. Auch der Muttertag wird unverdrossen gefeiert. Überhaupt sind wir bei der Übernahme sozialer Errungenschaften 1945 relativ großzügig verfahren, wie man bei Götz Aly in seinem Standardwerk „Hitlers Volksstaat“ nachlesen kann. Als aufrechter Antifaschist müsste man den Mietendeckel eigentlich ebenso boykottieren wie eine Reichensteuer. Die Nazis haben nicht nur die Grundzüge des Rentensystems gelegt, das dann nach dem Krieg zügig ausgebaut wurde. Auch die Ausweitung von Arbeitnehmerrechten, der Mieterschutz und die Familienförderung lagen ihnen am Herzen.
Wer weiß heute noch, dass eines der ersten NS-Gesetze die Zugriffsmöglichkeit von Gläubigern gegen Schuldner beschränkte? Mietsteigerungen waren ab sofort komplett verboten. Und als die Nazis mit Beginn des Krieges einen Kriegszuschlag auf alle Einkommen verfügten, waren die Freibeträge mit Rücksicht auf die Normalverdiener so gestaltet, dass die Erhöhung auf eine Reichensteuer hinauslief, die nur die obersten vier Prozent der Einkommensteuerpflichtigen betraf.
1934 trat im Reich der „Neue Plan“ in Kraft, der die Kontrolle des gesamten Außenhandels durch 25 nach Branchen unterschiedene „Überwachungsstellen“ anordnete. Der Staat übernahm damit das Außenhandelsmonopol und entschied über sämtliche Investitionen – und das, ohne die Unternehmen zu enteignen. Ebenfalls 1934 wurde das „Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit“ verabschiedet, dessen Inkrafttreten das Wirtschaftsleben praktisch gleichschaltete. Der Unternehmer besaß zwar innerbetrieblich uneingeschränkte Weisungsbefugnis, war jedoch an die Vorgaben eines „Treuhänders der Arbeit“ gebunden, eines Staatsbeamten, der Arbeitszeiten, Lohnhöhe und die konkrete Arbeitsgestaltung diktieren konnte. Das Gesetz stärkte zugleich die Befugnisse des Staates und schwächte die Rechte von Unternehmern und Arbeitnehmern. In einer Rede zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Eisenbahn anno 1935 pries Hitler die Reichsbahn als „das erste ganz große sozialistische Unternehmen“ und stellte sie „den Gesichtspunkten der Vertretung reinkapitalistischer Eigeninteressen“ gegenüber.
Im Dritten Reich wurden Löhne und Preise staatlich festgelegt; seit 1936 gab es einen „Reichskommissar für die Preisbildung“. Unternehmer, die staatliche Planvorgaben missachteten, konnten sich vor dem Volksgerichtshof wiederfinden. Hitler drohte am 17. Dezember 1936 in einer Rede vor Industriellen: „Das Wort unmöglich gibt es hier nicht, ich werde nicht länger die Praxis des Kapitalismus dulden, sich Besitztitel für Bodenschätze zu verschaffen, die man dann ungenutzt liegen lässt, weil ihr Abbau nicht profitabel erscheint. Erforderlichenfalls werde ich solche Vorkommen vom Staat beschlagnahmen lassen.“ Hermann Göring sekundierte seinem Chef am 16. Juni 1937 in einer Rede vor Stahlunternehmen mit der Ankündigung, wenn sie sich weiterhin weigerten, dann „nehmen wir Ihnen das Erz ab und machen es selbst“.
Schon am 20. Februar 1937, in seiner Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung, forderte Hitler, das Reich müsse bei der Treibstoff- und Gummiherstellung binnen zweier Jahre vom Ausland unabhängig werden: „Entweder die sogenannte freie Wirtschaft ist fähig, diese Probleme zu lösen, oder sie ist es nicht fähig, als freie Wirtschaft weiterzubestehen!“ Goebbels notierte am 16. März desselben Jahres in sein Tagebuch: „Beim Führer Mittag. Große Tischrunde: es geht mächtig gegen die sogen. Wirtschaftsführer los. Sie haben keine Ahnung von wirklicher Nationalökonomie. Sie sind dumm, egoistisch, unnational und borniert eingebildet. Sie möchten gerne den 4 Jahresplan sabotieren aus lauter Feigheit und Denkfaulheit. Aber sie müssen nun.“
Der Ökonom und Soziologe Friedrich Pollock, Mitgründer des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und als Jude 1933 in die USA emigriert, konstatierte 1941, die Funktion des Privateigentums in Deutschland habe sich grundlegend verändert, „selbst den mächtigsten Konzernen“ habe die NS-Regierung das Recht aberkannt, dort zu investieren, wo man die höchsten Profite erwarte, und die Produktion dort zu unterbrechen, wo sie unrentabel werde; gegenüber den Entscheidungen des Regimes sei „der Eigentumstitel machtlos“ geworden. Im Krieg wurde der Ton noch schärfer. In Goebbels Tagebuch heißt es unter dem 14. Februar 1942, der Führer habe erklärt, „dass die Unternehmer, die sich den von uns gegebenen Richtlinien nicht fügen wollen, ihre Betriebe zu verlieren haben, ohne Rücksicht darauf, ob sie dabei wirtschaftlich zugrunde gehen“.
Fazit: Nichts ist durchsichtiger interessengeleitet als die linke Theorie, die Nazis seien nur die Agenten des Großkapitals gewesen. In der Kriegswirtschaft war der Staatssozialismus bereits hergestellt. Um die Kapitalisten zu einfachen Volksgenossen gleichzuschalten und de facto zu enteignen, das heißt komplett der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, fehlte allein der „Endsieg”. Betrachtet man das öffentliche Erscheinungsbild des Dritten Reichs, dann findet sich kaum ein Unterschied zu den kommunistischen Diktaturen des Ostblocks: Es gibt nur eine Partei; deren Herrschaft ist absolut, wenngleich die wirkliche Macht – bis über Leben und Tod aller – von einem kleinen Klüngel innerhalb der Parteiführung ausgeübt wird; das gesamte gesellschaftliche Leben ist nach militärischem Muster durchorganisiert, das Leben des Einzelnen desgleichen; bereits die Kinder stecken in Einheitskleidung; das Kollektiv ist absolut, der Einzelne demgegenüber nichts; eine Fülle von zentralistischen Organisationen saugt die Menschen auf und bestimmt über ihren Tagesablauf; die öffentliche Meinung ist gleichgeschaltet; rund um die Uhr läuft Propaganda, regelmäßig gibt es Massenkundgebungen und Aufmärsche, überall sieht man Fahnen, allerdings nicht die nationalen, Parolen und Uniformen. Dazu passt, dass Hitler ständig Uniform trug, wie Stalin, wie Mao, wie Pol Pot, Fidel Castro oder Kim Jong-il auch.
Denn allen Sozialisten sind drei Dinge gemeinsam. Sie verlangen das Primat des Staates gegenüber der Wirtschaft. Sie wollen die Menschen in ihrem Machtbereich sozialisieren, das heißt: dem Staat unterwerfen, entprivatisieren, entindividualisieren, zu gleichen, gehorsamen Gliedern der Gesellschaft machen; ob als Volksgemeinschaft oder die Gemeinschaft der Woken, ist einerlei. Und sie glauben, dass die Entwicklung der Gesellschaft menschlicher Planung zugänglich ist und deshalb keineswegs dem Zufall – etwa dem chaotischen Markt – überlassen werden darf. Der Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, der als Jude in die USA emigrierte, hat schon früh gute ökonomische Argumente für den sozialistischen Charakter der braunen Diktatur vorgetragen. Einer seiner Schüler, der Wirtschaftsprofessor Georg Reisman, führt dazu aus: „Grund der Annahme, Nazi-Deutschland sei kapitalistisch gewesen, ist die Tatsache, dass die meisten Unternehmen in Nazi-Deutschland formal in privaten Händen verblieben. Mises betont hingegen, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln unter den Nazis nur dem Namen nach existierte, dies Eigentum aber tatsächlich beim Staat lag. Denn der deutsche Staat, nicht der nominelle Privateigentümer, verfügte über alle wesentliche Macht an den Produktionsmitteln; der Staat bestimmte, was in welcher Menge und auf welche Art zu produzieren war und wem die Produkte zugeteilt werden sollten; er bestimmte auch, welche Preise zu verlangen, welche Gehälter zu bezahlen und welche Dividenden oder andere Einkommen den nominellen Privateigentümern zu beziehen erlaubt waren.“
Armin Mohler, der das Dritte Reich als Zeitzeuge erlebt hat, berichtet in seinem Essay „Der faschistische Stil”, wie er 1942 während seines Studiums in Berlin „gegenüber einem höheren Hochschulbeamten” den Namen Ernst Jünger erwähnt habe, woraufhin der Mann, „ein linientreuer Nationalsozialist”, ihn misstrauisch angeblickt und „mit tadelndem Unterton” gesagt habe: „Jünger ist ein Faschist!” Und sogleich als Erklärung nachschob: „Jünger kämpft nicht für sein Volk – im Kriege kämpfte er um des Kämpfens willen.” Hellhörig geworden, so Mohler, habe er in der Folgezeit festgestellt, dass die Vokabel „faschistisch” im internen Gebrauch der Nationalsozialisten der „geistige(n) Diskriminierung” diente. Faschistisch zu sein, war „undeutsch”. Es waren Nationalsozialisten, die im Juli 1934 in Wien den faschistischen Kanzler Engelbert Dollfuß ermordeten. Das hing im Wesentlichen damit zusammen, dass der Faschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus klerikal, international, elitär, ästhetizistisch und tatsächlich rechts war.
„Hitler ist keineswegs so leicht als extrem rechts im politischen Spektrum einzuordnen, wie viele Leute es heute zu tun gewohnt sind”, notierte Sebastian Haffner in seinen berühmten „Anmerkungen zu Hitler” (München 1977). „Er war natürlich kein Demokrat, aber er war ein Populist: ein Mann, der seine Macht auf Massen stützte, nicht auf Eliten; in gewissem Sinne ein zu absoluter Macht gelangter Volkstribun. Sein wichtigstes Herrschaftsmittel war Demagogie, und sein Herrschaftsinstrument war keine gegliederte Hierarchie, sondern ein chaotisches Bündel unkoordinierter, nur durch seine Person an der Spitze zusammengehaltener Massenorganisationen. Alles eher ‚linke‘ als ‚rechte‘ Züge.” Und zum Schluss mag Joachim C. Fest zu Wort kommen: „Der auffallendste Unterschied bleibt, dass der Nationalsozialismus sich schon im Programm unmenschlich ausnahm, während der Sozialismus in verschiedenen humanitären Maskeraden auftrat. Zu lernen ist aus dieser Erfahrung, dass alle Ideologien, was immer sie den Menschen weismachen, nie halten, was sie versprechen. Auf dem Papier wirken sie stellenweise verführerisch. Aber wer genauer hinsieht, entdeckt im Hintergrund all der idyllisch-egalitären Kulissen stets das nackte Grauen.“