Christoph Hein: „Das Narrenschiff“
28. April 2025 von Thomas Hartung
Er hoffe auf eine Welt, in der man leben könne, ohne sich aufs Überleben konzentrieren zu müssen, sagte Hein 2015 angesichts des Merkelschen Grenzchaos. Zehn Jahre später legt er nun sein Alterswerk vor – Roman, Historiographie, belletristische Dokumentation einer Welt, in der man überleben konnte und sich zugleich aufs Leben konzentrieren musste… all das ist das „Narrenschiff“. Und noch viel mehr. Würde er noch leben, hätte ich MRR empfohlen, als Antwort auf seine Setzung „Ich warte immer noch auf den Roman, der mir endlich die DDR erklärt“, diesen zu lesen. Auch wenn der sicher nicht die Antwort ist, die MRR gewollt hätte.
Denn zuviel formales ist auszusetzen. Der Stil ist noch sachlicher, lakonischer geworden, nur noch selten geraten Hein Sätze wie „In einem versteinerten Land kann man die Steine nicht mehr zum tanzen bringen“. Zudem beschreibt, ja behauptet er mehr, was sich eigentlich durch Dialog oder Handlung erschließen sollte. Viele Figuren – der Verleger Kaczmarek ist er offenbar selbst, die Kathinka seine verstorbene erste Frau, andere kann man nur erahnen – bleiben blass und hölzern, zudem merkt man dem Autor seine Sympathien für einige deutlich an. Und die Auswahl der literarisierten Fakten erschließt sich nicht wirklich: die Biermann – Affäre etwa fällt völlig untern Tisch.
Worum geht’s? Christoph Hein erzählt am Beispiel zweier Männer, ihrer Partnerinnen, ihrer Familien und Freunde eine Geschichte der DDR, von der Gründung der Sowjetischen Besatzungszone bis zur Friedlichen Revolution und zur Wiedervereinigung. Der Schwerpunkt liegt auf den ersten 20 Jahren, der Ära Ulbricht. Wichtige Zäsuren werden aus Sicht der Funktionsträger gespiegelt: 1953, 1956, 1961, 1968 bis zur Wende: Zum einen ist da der Ökonom Karsten Emser, lange Exilant in Moskau, nun Mitglied im Zentralkomitee der herrschenden Partei. Und dann gibt es noch den Bergbau-Ingenieur Johannes Goretzka, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ – vom Nazi zum Kommunisten wurde und jetzt von einer großen Karriere im DDR-Machtapparat träumt.

Beide Genossen – gute Fachpolitiker- sind mit verantwortlich für eine Politik, mit der freie, unabhängige Geister beständig drangsaliert und schikaniert wurden. In der Perspektive seines Romans sind Emser und Goretzka die Narren auf dem Narrenschiff. Hein sagt im MDR über den Titel seines Romans: „Es ist dieses Doppeldeutige. Es sind nicht Verbrecher, sondern Narren, was auch etwas Freundliches hat. Es erzählt von der Hoffnung dieser Leute, dass sie eine unsinnige Hoffnung hatten und scheitern mussten. Aber da schwingt noch ein bisschen Anerkennung für ihre Hoffnung mit.“
In den zentralen Lebensläufen, denen er folgt, wird zwar der ideologische Weltverbesserungsanspruch und die antifaschistische Grundhaltung des ostdeutschen Gegenmodells gegen den „Westen“ sichtbar, aber auch jener Mief und jene opportunistische Autoritätsgläubigkeit, die den Staat für viele lange zum multiplen Gefängnis machte. Fein säuberlich schildert Hein den Lauf der Dinge vom Anfang bis zum Ende, vom Einfliegen der ersten deutschen kommunistischen Führungskader aus Moskau, sobald die Schlacht um Berlin geschlagen war, bis zur Wiedervereinigung, die keine Einheit herstellte, sondern – PR-Sprech für den Beitritt – auch im Roman viele verstörte und neues Leid anrichtete: die Selbstmorde vieler restitutionsbelasteter Eigner inklusive. „Die Menschen, über die ich schreibe, so Hein in der „Berliner Zeitung“, „haben versucht, einen demokratischen, antifaschistischen Staat zu errichten. Oft recht ungebildete Leute, die eine absurde Wirtschaftspolitik betrieben (…) Es war alles absurd, es war eine Narretei.“
Mit Yvonne und Johannes Goretzka nebst Tochter Kathinka, Rita und Karsten Emser sowie dem Literaturwissenschaftler Benaja Kuckuck hat Christoph Hein ein Personal, das alle entscheidenden Etappen der DDR miterlebt und kommentiert. Sie alle versuchen letztlich, möglichst unauffällig und gleichzeitig für sie möglichst vorteilhaft durchs Leben zu kommen. Den Traum vom realen Sozialismus, der sich als besseres Gesellschaftsmodell als der Kapitalismus erweisen müsse, träumen nur wenige tatsächlich. Sie machen meist, was ihrer Meinung nach getan werden muss. So, wie die junge Witwe, die den Werbungen des um 18 Jahre älteren, kriegsversehrten Metallurgie-Experten und Funktionärs Goretzka rasch nachgibt, um sich und ihr Kind versorgt zu wissen, das sie von einem offenkundig ermordeten Juden hat. Später gibt sie dem Drängen ihres Gatten, der seine NS-Vergangenheit mit allen Mitteln verbergen möchte, nach und tritt widerstrebend der SED bei. Eine Vernunft-, aber keine Herzensentscheidung. Die sich bezahlt macht: Yvonne Goretzka bleibt nicht einfache Sekretärin, sondern macht Karriere in der Kulturverwaltung, legt sich Liebhaber zu, sammelt exzessiv Importschuhe und setzt Kummerspeck an.
Es ist genau dieses Monströse, dieses bewusst gegen sich selbst leben, um oberflächlich klarzukommen, das eine wesentliche Ursache für die vielen Deformationen im Individuellen und Familiären und die seit 1990 keimende Autoritätsablehnung ist. In diesem Fall kommt gar noch ein verstörendes weibliches Element dazu, das schon in Jurek Beckers „Amanda Herzlos“ treffend gestaltet wurde.
Aber auch Walter Ulbricht hat im Narrenschiff rasch ausgeträumt. So hält er das Land nach dem Krieg nur für überlebensfähig, wenn es Pommern und Schlesien zurückbekommt. Stalin setzt dagegen auf Polen und erteilt den Rückgabeforderungen der deutschen Genossen 1951 eine klare Absage. Auch beim jähen Ende von Ulbrichts Karriere packt Hein nach eigener Aussage verbürgtes Insiderwissen hinein: Seine Entmachtung durch Erich Honecker 1971 sei ein von Maschinenpistolen im Anschlag begleiteter erpresserischer Polit-Coup gewesen. Das war selbst mir neu. Dass die Vorsitzenden der liberalen und der Bauernpartei SED Mitglieder mit Parteiauftrag gewesen wären, stellt Hein auch als Fakten dar. Die wortreich eingeordnete Schul- Anekdote um Ulbrichts Tochter Beate halte ich für albern und unpassend.
Die Wege der Funktionäre gestalten sich unterschiedlich. Emser, der geduldete bis belächelte Abweichler, ist bis zum Ende der DDR Mitglied des Zentralkomitees. Goretzka wiederum, als Ehemann und Familienvater ein Scheusal, fällt aufgrund eigener Ansichten zur Wirtschaftspolitik bei der Partei in Ungnade. Fortan kämpft er verbittert um eine Rehabilitierung. Fast alle dieser gebrochenen Figuren weisen diese verbitterten, verhärteten Züge auf, lassen sie trotz gelegentlicher humoristischer Elemente unsympathisch erscheinen. Das trifft auch auf den Kurzauftritt von Markus Wolf zu. Es liegt eine Schwere, ja Beklemmung über den 750 Seiten, die sicher auch dieser Funktionärsdramaturgie geschuldet ist – an der allerdings die Menschen brechenden Mechanismen einer Partei hervorragend darzustellen sind, und die betreffen nicht nur die SED. Überhaupt ist sehr viel aktualisierbar aus dem Text: neben dem Parteicharakter und ihren ebenso verbohrten wie ungebildeten Funktionären auch die Gleichförmigkeit von Bildung und Wissenschaft.
Zum existentiellen Kipppunkt für beide wird die Geheimrede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, 1956, das erste Eingeständnis der Verbrechen Stalins. Sie sind fortan mit einer großen Frage konfrontiert: Wie will oder kann man noch Kommunist sein, wenn man weiß, dass im Namen dieser Ideologie furchtbare Gewalt verübt worden ist? Die Antwort bleibt offen. Der Untergang der DDR fällt für Emser und Goretzka zusammen mit Krankheit und Tod – eine symbolische Überschneidung. Oder Erlösung? Jahrzehntelang haben sich diese Männer selbst betrogen. Sie wollen nicht eingestehen, dass ihr Staat auf Lügen, Gewalt und Unfreiheit gegründet wurde. Und eben: dass auf dieser Grundlage kein Staat zu machen ist.

Die Funktionäre halten bis zum Untergang der DDR an ihren Überzeugungen fest, auch wenn zu spüren ist, dass sie mehr und mehr ins Wanken geraten. Ganz anders die nächste Generation, insbesondere Goretzkas Stieftochter Kathinka. Sie, eigentlich das Zentrum im Roman, gerät immer mehr in Distanz zur Welt ihrer Eltern. Als Schülerin spielt sie in einer Theatergruppe, die an Wolf Biermanns „berliner arbeiter- und studententheater“ aus den frühen 60er-Jahren erinnert – ein kreativer Freiraum, kurz nach seiner Gründung von der SED verboten. Später heiratet Kathinka – zum Ärger der Alten – einen Pfarrerssohn und zieht mit ihm nach Leipzig. In den späten 80er-Jahren besucht sie die Friedensgebete in der Nicolaikirche. „Das war auch etwas sehr Typisches für die DDR, dass diese erste Generation an ihren Idealen festhielt, während die Kinder und dann nochmal die Enkelkinder-Generation sich deutlicher abwandte und sehr viel kritischer als die Eltern und Großeltern die DDR betrachteten“, erzählt Christoph Hein. Das sei im ganzen Land etwas Vorherrschendes gewesen, dass die nachfolgenden Generationen sehr viel kritischer auf dieses Land blickten und sich dazu verhielten als die sogenannte Aufbau-Generation. Doch auch sie, hochgebildete promovierte Philosophin, findet sich am Ende, mit 47, arbeitslos. Sie küsst , und damit schließt sich der Rahmen des Romans, jene Postkarte, die sie als Klassenbeste mit dem ersten DDR Präsidenten Wilhelm Pieck zeigt, zerreißt sie in kleine Schnipsel und wirft sie in den Papierkorb. Aus, vorbei. Der einzige Lichtblick des Romans ist also auch keiner. Dazu passt das Cover: ein Ausschnitt aus der „Bauchbinde“ am Berliner Haus des Lehrers von Walter Womacka. Der Titel „Unser Leben“. Wenigstens steht es noch. Aber die DDR, so Heins düstere Prognose im letzten Spiegel, wird rückstandslos verschwinden.
Ich bin ein großer, ein bekennender Hein-Fan und fordere nach wie vor seine Aufnahme nicht nur in den Lehrplan Deutsch, sondern auch Geschichte. Aber dieser Text des 81jährigen – es ist vielleicht sein letzter großer – hinterlässt mich nicht wie die anderen aufgewühlt, sondern resigniert: ob der zerstörerischen Gleichartigkeit von Machtmechanismen, einerlei ob im Faschismus, Stalinismus oder Demokratismus. Um Menschen geht es nie, sondern um Ideologien, denen man sich unterwerfen soll zum Preis des persönlichen Untergangs. Das finde ich kein gutes Zeichen zumal zur Auferstehungszeit.