Feeds
Artikel
Kommentare

Auf den ersten Blick haben Amazon-Chef Jeff Bezos, Architekt Friedensreich Hundertwasser, Schauspielerin Heike Makatsch, Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez und Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales gar nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten schon: sie alle sind Absolventen von Montessori-Schulen. So ganz falsch kann sie also doch nicht sein, die „Pädagogik vom Kinde her“, wie das reformpädagogische Experiment gern zusammengefasst wird. Seine Urheberin Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona als einziges Kind einer klassischen Bürgerfamilie geboren, die fünf Jahre nach der Geburt nach Rom umzieht.

Ihr Großonkel war der katholische Theologe und Geologe Antonio Stoppani, aus dessen Theorie zur Verbindung von Theologie und Naturwissenschaften Maria ihre „kosmische Erziehung“ entwickeln sollte. Schon in ihrer Schulzeit interessierte sie sich für Naturwissenschaften und besuchte daher – gegen den Widerstand ihres konservativen Vaters, eines Finanzbeamten – eine technische Oberschule. Nach ihrer Ablehnung für ein Medizinstudium studierte sie an der Universität Rom von 1890 bis 1892 zunächst Naturwissenschaften, bevor es ihr nach ihrem ersten Hochschulabschluss doch gelingt, Medizin zu studieren. Sie musste viel Kritik und Diskriminierungen über sich ergehen lassen, zum Beispiel durfte sie beim Sezieren der Leichen nicht mit Männern in einem Raum sein, was zur Folge hatte, dass sie abends und allein im Anatomiesaal arbeitete. Da sie den Geruch dort widerlich fand, soll sie kurzerhand einen Mann angeheuert haben, der abends mit ihr dort saß und Zigarre rauchte. Aufgrund ihrer Leistungen bekam sie verschiedene Stipendien, mit denen sie ihr Studium ganz alleine finanzierte.

Maria Montessori. Quelle: https://www.montessori-dietramszell.de/paedagogik/maria-montessori/

Während des Studiums war Montessori als Assistentin, später Assistenzärztin an psychiatrischen Kliniken in Rom tätig. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde und interessierte sich für die nur notdürftig versorgten geistig behinderten Kinder. Von deren würdelosen und verwahrlosten Zustand tief bewegt, bemühte sie sich um Abhilfe. Überzeugt, dass die Behandlung der „Schwachsinnigen“ oder „Idioten“ kein medizinisches, sondern ein pädagogisches Problem ist, forderte die die Einrichtung spezieller Schulen für die betroffenen Kinder. Als sie kurz vor Ende ihres Studiums einen Vortrag hielt, dem auch ihr Vater lauschte, und donnernden Applaus erhielt, fanden beide wieder zusammen, denn er hatte das Medizinstudium seiner Tochter abgelehnt. Jahre später, zu Marias 30. Geburtstag, schenkte er ihr sogar ein Buch, in das er alle Zeitungsartikel über sie und ihre Arbeit eingeklebt hatte – es waren mehr als 200.

Geburtsstunde der Inklusion

1896 promovierte sie als eine der ersten Ärztinnen Italiens an der Universität Rom über „Antagonistische Halluzinationen“ im Fach Psychiatrie und ließ sich in einer eigenen Praxis nieder. Sie begegnet ihrem Kollegen Giuseppe Montesano – die Beziehung wird einen langen Schatten auf ihre Biografie werfen. Ihr erstes Kind hat Montessori abtreiben lassen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. 1898 bekommt sie mit Guiseppe unehelich ihren Sohn Mario und erhält 1899 vom italienischen Erziehungsminister den Auftrag, vor Lehrerinnen in Rom eine Vortragsreihe über die Erziehung geistig behinderter Kinder zu halten. Aus diesem Kurs ging die Scuola magistrale ortofrenica („Heilpädagogisches Institut“) hervor, die sie als Direktorin zwei Jahre leitete und für die sie spezielle didaktische Materialien zum Sprach- und Mathematikunterricht entwickelte. Montesano gehört zum Kollegium, beide gelten als Paar – obwohl Montesano schließlich eine andere Frau heiratet.

Er willigt ein, dass Mario seinen Familiennamen bekommt, verlangt dafür aber die Geheimhaltung der Existenz des Kindes. So wuchs Mario in einer Pflegefamilie auf und wurde von Montessori erst 1913 zu sich genommen. Erst als er über 40 Jahre alt war, bekannte sich Maria zu ihm als seine Mutter. Er diente ihr bis zu ihrem Tode als Sekretär. Ihr eigenes Kind nicht selbst erziehen zu können war vielleicht ein Grund, warum sie sich so sehr um die bestmögliche Erziehung aller Kinder bemühte. Hier ähnelt sie Rousseau, der seine Kinder ins Findelhaus brachte, um ungestört Bücher über Erziehung zu schreiben.

Mit Sohn in Indien. Quelle: https://montessori-aare.ch/lebenskette-maria-montessori/

1901 verließ Montessori menschlich enttäuscht das Institut und nahm ein weiteres Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie auf. Am 6. Januar 1907 übernahm sie im neugegründeten Casa dei Bambini, eine Tagesstätte für Kinder aus sozial schwachen Familien, im römischen Arbeiterbezirk San Lorenzo die wissenschaftliche Leitung. Sie hatte beobachtet, dass die pädagogisch aufbereiteten Materialien den Kindern mit Behinderungen so sehr halfen, dass einige von ihnen genauso gut in der Schule abschnitten wie nicht Nichtbehinderte, die keine Förderung erhielten. „Warum sollten dann nicht auch diese normalen Kinder, wenn man die gleichen Methoden bei Ihnen anwendete, zu einer viel günstigeren Entwicklung angeregt werden als in jenen Schulen, in denen alle Freude der Kinder am Lernen erstickt wurde?“ Das kann man im Nachhinein auch als Geburtsstunde der Inklusion sehen.

„sich zu offenbaren

Aus den in dieser Zeit gemachten Erfahrungen entwickelte sie die Montessori-Methode, die sie erstmals in „Il metodo della pedagogia scientifica“ (1909) sowie „L’autoeducazione“ (1916) darlegte und ständig erweiterte. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als „Baumeister seines Selbst“ und kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess optimal zu fördern. Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf mir, es selbst zu tun“. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel von der Lehrer- zur Kindorientierung: „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Montessori glaubte, dass sowohl Belohnungen als auch Strafen schädlich sind für die innere Einstellung des Menschen, dass Kinder ganz natürlich aus ihrer eigenen Motivation lernen wollen.

Die Montessorimethode konzentriert sich als Pädagogik auf die Bedürfnisse, Talente und Begabungen des einzelnen Kindes, das dazu ermutigt wird, das Tempo, das Thema und die Wiederholung der Lektionen selbstständig zu steuern. Das Leitmotiv der Methode ist die Pflege der natürlichen Freude des Kindes am Lernen, die einen Kernbestandteil des Wesens eines jeden Kindes darstelle und zur Entwicklung einer in sich ruhenden und ausgeglichenen Persönlichkeit führe. Kinder, die in ihrem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernen, erleben Selbstvertrauen und Selbstständigkeit und verinnerlichen das Gelernte so am besten. Selbstständigkeit wird durch die Arbeiten des täglichen Lebens (Fähigkeiten, die direkt im praktischen Leben anwendbar sind) unterstützt.

Montessori und Mussolini. Quelle: https://www.orderisda.org/wp-content/uploads/2019/03/Maria-and-Mussolini.jpg

Dazu entwickelte sie ein eigenes entwicklungspsychologisches Dreiphasenmodell kindlicher Entwicklung, die Didaktik der „Drei-Stufen-Lektion“ und das Konzept der „vorbereiteten Umgebung“ mit selbst entworfenen Materialien in fünf Lernbereichen. Entsprechend ihrem bildungstheoretischen Modell der „Kosmischen Erziehung“ geht es um die pädagogische Umsetzung einer schon im antiken Griechenland vertretenen Vorstellung, dass der Mensch als Mikrokosmos Teil eines kosmischen Ganzen, des Makrokosmos, ist und dass seine „Schöpfungsaufgabe“ darin besteht, an der Realisierung eines universellen „kosmischen Plans“ mitzuwirken.

widerspruchsfreie Weltkultur

Kritisiert wird an dem Konzept bis heute, dass Montessori keinerlei wissenschaftliche Systematik ausgearbeitet habe und nicht über einen positivistischen, von missionarischem Pathos getragenen Eklektizismus hinausgekommen sei, wie Erwin Hufnagel befindet. Nach Helmut Lukesch sind Maria Montessoris „altbackene und allenfalls alltagspsychologische Ausführungen mit dem Stand des heutigen entwicklungspsychologischen oder pädagogisch-psychologischen Wissens nicht in Übereinstimmung zu bringen“ Aus ihren im Einzelfall anregenden „Ideen“ eine zusammenhängende „Montessori-Methode“ abzuleiten, sei „wirklichkeitsfremd“.

Dabei muss das Konzept der vorbereiteten Umgebung als Grundlage von Montessoris Forderung nach einer soziopsychischen Hygiene der gesamten Gesellschaft verstanden werden. Denn es ist nach Montessori nicht genug, einzelne Kinder in ihren Verhaltensweisen zu beeinflussen, sondern sie fordert die „Normalisierung“ der gesamten Population durch diese Hygiene, das Entfernen schädlicher Einflüsse auf die Kinder. Dieser Ansatz einer homogen gestalteten Umwelt führt in Konsequenz nicht nur zu einer Gesellschaft, welche die individuellen Ausprägungen der Kinder dämpft, sondern auch zu einer uniformen, widerspruchsfreien Weltkultur.

Montessori-Material. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/581034789395190369/

Und genau das machte sie problemlos anschließbar an den Faschismus Mussolinis – der nach einer Begegnung mit ihr 1924 die Montessori-Methode an allen italienischen Schulen einführte. Durch diese Protektion wurde die italienische Montessori-Gesellschaft von der faschistischen Regierung unterstützt. Die Entfremdung Montessoris gegenüber der faschistischen Regierung setzte erst 1934 ein, als das Regime immer mehr versuchte, sich in die tägliche Arbeit an den Montessori-Schulen einzumischen, beispielsweise durch das Gebot des Uniformtragens.

Doch da hatte ihr Konzept bereits weltweite Verbreitung gefunden. Ab 1913 entwickelte sich in Nordamerika ein starkes Interesse an ihren Erziehungsmethoden, das später erlahmte und ab 1960 mit der Gründung der Amerikanischen Montessori-Gesellschaft wieder aufflammte. In Deutschland hatte in den 1920er Jahren vor allem Clara Grunwald die Montessori-Pädagogik bekannt gemacht und verbreitet. Das erste Montessori-Kinderhaus in Österreich wurde 1917 von Franziskanerinnen in Wien gegründet.

Seit 1916 in Barcelona lebend, wo sie eine Ausbildungsstätte für ihre Pädagogik einrichtet, reiste sie viel, hielt Vorträge und veröffentlichte ihre großen Werke, etwa „Dr. Montessoris Own Handbook“ sowie „The Secret of Childhood“ („Kinder sind anders“). Vor dem Bürgerkrieg in Spanien floh sie 1936 nach Amsterdam und nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Indien, wo sie von 1939 bis 1946 mit ihrem Sohn Mario lebte, teilweise von den Briten interniert. Sie baut eine starke indische Montessori-Bewegung und ein großes Netzwerk auf, erlebte aber aus der Ferne zugleich, dass alle Montessori-Einrichtungen in Italien, Spanien, Russland, Österreich und Deutschland geschlossen wurden.

Verkehrserziehung als Anwendungsfeld

Sie kam erst 1949 endgültig nach Europa zurück und ließ sich in den Niederlanden nieder, wo sich heute auch der Hauptsitz der von ihr 1929 gegründeten Association Montessori Internationale (AMI) befindet. Ihr letztes großes Werk „The Absorbent Mind („Das kreative Kind – der absorbierende Geist“) erschien 1949 erstmals in Indien und entstand wie die meisten ihrer Bücher aus einer Sammlung von Vorträgen, die sie selbst hielt und deren Mitschriften von ihrem Sohn Mario stammten. Sie starb am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee.

Grab in Nordwijk. Quelle: https://montessori-aare.ch/lebenskette-maria-montessori/

Eine Reihe nationaler Montessori-Gesellschaften, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, sind heute der AMI angeschlossen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe nationaler und internationaler Montessori-Vereinigungen, die unabhängig von der AMI sind und sich in Deutung, Umsetzung und Qualitätsverständnis der Montessoripädagogik von der AMI unterscheiden. Nach Schätzungen der AMI existierten 2011 in 110 Ländern der Welt rund 22 000 Montessori-Einrichtungen. In Deutschland arbeiteten 2009 über 600 Kitas nach den Prinzipien der Montessoripädagogik. Ende 2012 gab es 225 Montessori-Grund- und 156 Sekundarschulen, die meisten in freier Trägerschaft.

Schulübergreifend spielt ihre Pädagogik heute noch in der Verkehrserziehung eine Rolle. Die Kinder werden allerdings nicht nur mit pädagogisch präparierten Lehrmaterialien versorgt, sondern zur Entwicklung eigenen Spielzeugs angeleitet. Dies geschieht etwa in Form der Gestaltung eines eigenen Schulwegspiels, das die Kinder als Brettspiel auf der Basis ihrer begleiteten Schulwegerkundungen selbst entwerfen und herstellen dürfen. Denn die Schüler sollen lernen, altersgerecht für sich und die Verkehrssicherheit mit Verantwortung zu übernehmen, bspw. beim Fahrradfahren, nicht aber als „unfertige Erwachsene“ behandelt und im Verkehrsleben bevormundet und entmündigt werden, in dem sie sich etwa im Elterntaxi zur Schule kutschieren lassen. Das kann man doch glatt gut finden.

Es gibt Medienikonen, die trotz unbekannter Personen wirken, etwa Jewgeni Chaldejs Schnappschuss der gerade durch Sowjetsoldaten gehissten Flagge auf dem Berliner Reichstag. Es gibt natürlich auch Medienikonen, die wegen bekannter Personen wirken, wie Sam Shaws Standfotografie Marilyn Monroes aus den Dreharbeiten zu „Das verflixte siebte Jahr“, auf der ihr weißes Kleid durch den Luftzug eines U-Bahn-Schachts angehoben wird. Und es gibt Medienikonen, die allein wegen ihres verfremdeten Motivs wirken. Der nackte Frauenrücken seiner Geliebten Kiki von Montparnasse mit zwei Celloöffnungen von 1924, „Le violon d‘Ingres“, das als wohl bekanntestes Surrealistenfoto gilt, gehört zu dieser Gruppe. Sein Schöpfer, Man Ray, kam am 27. August 1890 in Philadelphia als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Eltern als Emmanuel Rudnitzky zur Welt.

Die Familie wird ihren Namen später zu Ray amerikanisieren; zu seinen Wurzeln blieb Ray zeitlebens einsilbig. Sein Vater Melech (Max) Rudnitzky arbeitete zu Hause als Schneider, alle Kinder wurden streng er- und schon früh in die Arbeit mit einbezogen, lernten nähen, sticken und das Zusammenfügen unterschiedlichster Stoffe in Patchwork-Technik. Diese Erfahrung des spielerischen Umgangs mit verschiedenen Materialien sollte sich später in Rays Werk widerspiegeln, daneben zitierte er gern Utensilien aus dem Schneiderhandwerk wie Beispiel Nadeln oder Garnspulen in seiner Bildsprache. Er galt von Anbeginn als kreativ und eigensinnig.

Man Ray. Quelle: https://www.cassina.com/de/designer/man-ray

Nach einem Umzug 1897 nach Williamsburg begann er erste Buntstiftzeichnungen anzufertigen, was von den Eltern nicht für gut befunden wurde. Prompt musste er seine künstlerischen Neigungen lange geheim halten: „Ich werde von nun an die Dinge tun, die ich nicht tun soll“ wurde sein früher Leitsatz, dem er lebenslang folgen sollte. Im höheren Schulalter belegte er Kurse in Kunst und Technischem Zeichnen – und dazu, so eine späte Beichte des Künstlers, klaute der junge Besessene wie ein Rabe von Ölfarben bis hin zu farbiger Tinte alles, was ihm in die Finger fiel. Nach dem Abschluss der High-School lehnte er ein Architekturstipendium ab und versuchte sich, eher unbefriedigend, in Porträt- und Landschaftsmalereien. 1908 schrieb er sich an der National Academy of Design und der Art Students League in Manhattan, New York, ein. Doch der didaktisch konservative, zeitintensive und ermüdende Unterricht war nichts für den ungeduldigen Studenten. Auf Anraten seiner Lehrer gab er das Studium alsbald auf und versuchte selbstständig zu arbeiten, so in einer Werbefirma.

Avantgarde im Zeitraffer

Ab 1910 malte Ray Porträts von Freunden und Verwandten in seinem Atelier im Wohnhaus seiner Eltern. Zwei Jahre später schrieb er sich an der liberal-anarchistischen Modern School of New Yorks Ferrer Center ein und belegte Abendkurse. Erstmals fühlte er sich in seinem freien und spontanen Arbeiten unterstützt. Tagsüber arbeitete er als Kalligraf und Landkartenzeichner für einen Verlag in Manhattan. Laut vieler Biographen habe er die europäische Avantgarde im Zeitraffer durchlaufen: Beginnend mit den Impressionisten, gelangte er bald zu expressiven Landschaften, die einem Kandinsky ähnelten, um schließlich zu einer eigenen futuristisch-kubistischen Figuration zu finden, die er abgewandelt sein Leben lang beibehielt.

Rays berühmtestes Werk. Quelle: https://www.researchgate.net/figure/Le-Violin-dIngres-Ingress-Violin-by-Man-Ray-He-mentions-few-more-examples-such-as_fig17_307606894

1913 verließ er sein Elternhaus und zog in eine Künstlerkolonie in Ridgefield, New Jersey, wo er mehr als zwei Jahre lebte. Hier begegnete er der belgischen Dichterin Adon Lacroix, die seine erste Frau werden sollte und mit der er gemeinsame Buchprojekte startete. Ein Galerist verkaufte ein Bild für 150 $ an einen Sammler – der erste Erfolg Man Rays als Künstler. 1915 erwarb er einen Fotoapparat, nutzt das fotografische Bild zunächst aber nur zu Reproduktionszwecken und als Inspirationsquelle. Im selben Jahr wurde er mit den Konzeptkunstpionieren Marcel Duchamp und Francis Picabia bekannt und hatte seine erste Einzelausstellung.

Er experimentierte mit Aerographie, einer Airbrushtechnik, trennte sich von Adon Lacroix, gründete die erste modernistische Künstlervereinigung der USA und entdeckte zunehmend das künstlerische Potential des Fotoapparats, auch des Films. Bei der Arbeit in der Dunkelkammer experimentierte Man Ray erstmals mit Fotogrammen, bei denen Objekte auf lichtempfindlichen Materialien wie Film oder Fotopapier direkt im Kontaktverfahren belichtet werden. Er nennt die Technik Rayographie und produziert sie in der Folgezeit wie am Fließband: Fast die Hälfte seines gesamten Œuvres an Rayographien beziehungsweise „Rayogrammen“ entstand in den ersten drei Jahren nach der Entdeckung seiner „Erfindung“. Bereits Anfang 1922 hatte er alle technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit am Fotogramm ausprobiert. Er legt sich in seiner gesamten Künstlerlaufbahn nie auf ein bestimmtes Medium fest: „Ich fotografiere, was ich nicht malen möchte, und ich male, was ich nicht fotografieren kann“, sagte er einmal.

„nicht länger auf Anerkennung warten“

Im Sommer 1921 trifft er, endlich, in seiner „Stadt der Sehnsucht“ Paris ein, wo er bis 1940 leben wird. Hier lernte er die Gruppe von Literaten um André Breton und Paul Eluard kennen, die 1924 den Surrealismus aus der Taufe hob – und sich dabei u.a. auf sein Werk berief. Durch seine fotografischen Porträts der Pariser Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre macht er sich rasch einen Namen: „um dazuzugehören, brauchte man ein Foto von Man Ray“, weiß der Sammler Marconi im Spiegel zu berichten. Doch der erhoffte finanzielle Erfolg blieb aus, und Man Ray fasste einen folgenschweren Entschluss. „Meine ganze Aufmerksamkeit“, schreibt er in seiner Autobiographie, „richtete ich jetzt darauf, mich als Berufsfotograf zu etablieren, ein Studio zu finden und es einzurichten, um effektiver arbeiten zu können. Ich wollte Geld verdienen – nicht länger auf eine Anerkennung warten, die sich vielleicht nie einstellen würde.“

Das Casati-Bild. Quelle: https://static.geo.de/bilder/60/95/15686/colorbox_image/465509b2eadfbaf751b13e1b1a567a43.jpg

Die Anerkennung als Fotograf aber erfuhr er fast augenblicklich. Er revolutionierte mit seinen Aufnahmen die Ästhetik der Fotografie – und schrieb Geschichte. Ab 1930 machte er regelmäßig Modeaufnahmen für Vogue und Harper’s Bazaar und konzentrierte sich auf surreal-traumhafte Arrangements in statisch-kühlem Studioambiente, die er mit experimentellen Techniken mischte: so arbeitete er oft mit Spiegelungen und Doppelbelichtungen. „Die Bilder, die heute längst Klassiker der Moderne sind, trieben damals manchem Kunstkritiker die Röte ins Gesicht, sie waren ihrer Zeit weit voraus und nicht jeder begriff, welches Darstellungspotential in der Fotografie verborgen lag“, befand Stephan Reisner auf dem Online-Portal lumas.

Auch die Reichen und Schönen rissen sich darum, von Man Ray abgelichtet zu werden – und waren selbst dann noch begeistert, wenn die Aufnahmen völlig in die Hose gingen. Das verhunzte Foto der schrillen Marquise Casati – unscharf und verwackelt bis zur Unkenntlichkeit – zeigte drei Paar Augen untereinander und sollte sofort nach der Entwicklung in den Papierkorb. Aber die betuchte Exzentrikerin bettelte um einen Abzug und war überwältigt. Nichts Geringeres als ein „Porträt ihrer Seele“ habe der große Meister geschaffen, schmachtete sie ergriffen. Mit diesem historischen Stoßseufzer verhalf sie Man Ray zu einer steilen Karriere als Porträtist der feinen Gesellschaft.

Ende der 20er Jahre probiert er sich auch als Filmregisseur aus, doch seine artifiziellen Premieren, obwohl durch US-Mäzene gefördert, floppen. Sein Ruhm war dennoch so groß, dass die 22-jährige Amerikanerin Lee Miller sich bei dem Künstler meldete, um dessen Assistentin zu werden. Die beiden perfektionierten gemeinsam Man Rays Technik der Solarisation – eine Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung – und wurden ein Liebespaar. Miller setzte gegenüber dem älteren Künstler ihre persönliche und künstlerische Unabhängigkeit durch, was nach drei Jahren in der Trennung endete. In dieser Phase wandte sich Man Ray den Theorien des Marquis de Sade zu, seine Werke werden deutlich erotischer, ja pornographischer. Kolportiert wird bis heute, dass ihn die sexuell unabhängige, intelligente und sehr kreative Miller zu einer merkwürdig obsessiv-destruktiven Liebesbeziehung verleitete, die er nicht mehr kontrollieren konnte.

„unbekümmert, aber nicht gleichgültig“

1940 flieht er zurück in die USA, zum einen vor dem heraufziehenden Krieg, zum anderen vor dem Trend der schnelllebigen realistischen Schnappschuss-Fotografie, wie ihn der aufkommenden moderne Fotojournalismus mit seinen innovativen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa in seiner politischen Emotionalität verkörperten. Er ließ nicht nur seine Freunde und seinen Status als Künstler in Paris zurück, sondern auch seine wichtigsten Werke der letzten zwanzig Jahre: Fotografien, Negative, Objekte und zahlreiche Gemälde. Die meisten Arbeiten hatte er wohl bei Freunden versteckt, dennoch sind zahlreiche Arbeiten im Krieg zerstört worden oder verschollen.

„The long hair“. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/831336412444414230/

1941 wurde er in Los Angeles sesshaft. Wenn er auch als Maler reüssieren wollte, so arbeitete er doch als Berater für Hollywood-Studios und als Porträtfotograf. Seine umfangreichste Ausstellung, die am 13. Dezember 1948 mit zahlreichen internationalen Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern eröffnet wurde, war ein großes Ereignis und erinnerte noch einmal an die „guten“ Pariser Jahre. Die Ausstellung war zugleich Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens in Los Angeles. Ungeachtet des respektablen Erfolgs an der Westküste empfand Man Ray die Resonanz des Publikums in den USA als zu gering, und so kehrte er gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau, Juliet Browner, die der 1946 geheiratet hatte, 1951 nach Paris zurück und bezog eine Studiowohnung in der Rue Férou, die er bis zu seinem Lebensende bewohnte und in der er seine Werke mannigfach kuratierte, ohne Neues zu schaffen.

1960 war er auf der Photokina in Köln vertreten; auf der Biennale von Venedig erhielt er 1961 die Goldmedaille für Fotografie. 1963 legte Man Ray in London seine Autobiografie „Self-Portrait“ vor. Er starb am 18. November 1976 in Paris und wurde auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteins lautet: „unconcerned, but not indifferent” (unbekümmert, aber nicht gleichgültig). Seine Frau Juliet kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1991 um den Nachlass von Man Ray, spendete zahlreiche seiner Arbeiten an Museen und gründete die Stiftung „Man Ray Trust“, die eine große Sammlung von Originalarbeiten besitzt und die Urheberrechte des Künstlers hält. Sie wurde neben Man Ray beigesetzt.

„aggressiver Charme“

Der Künstler zählt bis heute zu den bedeutendsten Vertretern des Dadaismus und Surrealismus, wird aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werkes allgemein der Moderne zugeordnet und gilt als wichtiger Impulsgeber für die moderne Fotografie und Filmgeschichte bis hin zum Experimentalfilm. Seine zahlreichen Porträtfotografien zeitgenössischer Künstler dokumentieren die Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er Jahre. „Geprägt von dem unbedingten Willen, die Motive zu verrätseln und die Welt in die Sphäre des Traums zu heben“, strebe er zumindest für sein künstlerisches Œuvre nach Fotografien, „die nicht wie Fotografien aussehen“, so Freddy Langer in der FAZ und erkennt einen „radikalen Ausdruck aggressiven Charmes“.

Rayographie. Quelle: https://www.ebay.de/itm/Rayograph-XVIII-1923-MAN-RAY-Vintage-Photography-Dada-Surrealism-Poster-/292932958389

Er sei „ein Getriebener, ein ewiger Pendler zwischen den Kunst- und Lebenswelten, der sich immer wieder neu erfinden musste“, meint Bettina Pieper in der Jüdischen Allgemeinen. „Äußerliche Unruhe und Zerrissenheit spiegeln sich wider in den Brüchen seiner künstlerischen Arbeit. Die Beachtung, die Man Ray zu Lebzeiten als Auftragsfotograf entgegengebracht wurde, fand er als Künstler erst lange nach seinem Tod.“ „Man Rays größtes Anliegen und das was, ihn seine ganze Laufbahn hindurch beschäftigte, war sein Wunsch, die Grenzen zwischen den Medien aufzuheben“, bilanzierte Merry Foresta 1988. Er hat allein über zwölftausend Negative hinterlassen, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. In Deutschland wird er regelmäßig ausgestellt. Die jüngste Einzelschau hatte im Frühjahr die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz ausgerichtet, daneben war er in Düsseldorf und Chemnitz zu sehen.

Schon die Legende, wie seine Vorfahren in die Welt kamen, war abenteuerlich: Saba, die Königin von Reicharabien, kam, „Salomo zu versuchen mit Rätseln“, wie es im 1. Buch der Könige, Kapitel 10, heißt. Von Salomos Weisheit beeindruckt, schenkte sie dem „König hundertzwanzig Zentner Gold und sehr viel Spezerei und Edelgestein“ und zog beglückt von dannen. Die offiziellen, aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammenden äthiopischen Geschichtstafeln „Kebra Nagast“ („Ruhm der Könige“) enthüllen aber außerdem: „Salomo hatte der schönen Fremden scharf gewürzte Speisen vorgesetzt, so dass sie in der Nacht Durst bekam. Um aber den Brunnen zu erreichen, musste sie durch das Schlafgemach des weisen Königs. Und diesem Durst entsprang der Ahnherr der erobernden Löwen aus dem Stamme Juda, Menelik, Sohn Salomos.“ Ein äthiopischer Gouverneurssohn sah sich über seine Großmutter väterlicherseits als 225. Nachfolger Salomos: Ras Tafari Makonnen.

Nun findet die Königin von Saba, die im 10. Jh.v.Chr. gelebt haben soll, nicht nur im Alten Testament und äthiopischen Legenden, sondern auch im Koran Erwähnung, weshalb unklar ist, ob ihr Reich tatsächlich in der Gegend von Aksum in Äthiopien gelegen hat. Doch einerlei: als Anfang des 20. Jahrhunderts auf Jamaika eine protestantisch geprägte afroamerikanische Neu-Religion entstand, die als eines der gemeinsamen Merkmale die Vorstellung eines Mensch gewordenen Gottes teilen, prophezeite der jamaikanische Nationalheld Marcus Mosiah Garvey: „Schaut nach Afrika, wenn ein schwarzer König gekrönt werden wird, dann ist der Tag der Erlösung nahe!“

Haile Selassie. Quelle: https://timenote.info/de/Haile-Selassie

Am 2. November 1930 war es soweit: der gerade 1,62 m große Makonnen wurde unter dem Namen Haile Selassie I. („Macht der Dreieinigkeit“) zum Kaiser von Äthiopien gekrönt, der Messias war da. Bis 1953 gehörten zu den Glaubenssätzen der Rastafaris übrigens Aussagen wie „Schwarze sind den Weißen überlegen. Sie werden bald die Welt regieren“ oder „Bald werden die Schwarzen sich an den Weißen rächen.“ Die Farben der äthiopischen Nationalflagge Grün, Gelb, Rot sind zugleich die Farben der Rastafaribewegung. Am 27. August 1975 starb der inzwischen abgesetzte Monarch im Arrest unter ungeklärten Umständen an „Durchblutungsstörungen“. Sein Großneffe Asfa Wossen Asserate schrieb in seinen Erinnerungen, Haile Selassie sei mit seinem Kopfkissen erstickt worden.

„und grübelt und grübelt“

Am 23. Juli 1892 wird er als Sohn des Oberbefehlshabers der Königstruppen und Gouverneur der Provinz Harrar geboren und von französischen Lehrern erzogen. Er sei ein „elfenzarter Knabe“ gewesen, dessen Spielgefährte Iyasu, der designierte Thronerbe, ihn „jederzeit einarmig aufs Kreuz legen konnte“, so der Spiegel 1954. Seine Ausbildung blieb nach europäischen Maßstäben rudimentär, in seiner Jugend war er Gouverneur kleinerer Landstriche. Er heiratet seine erste Frau, die ihm eine Tochter zur Welt bringt, die bereits 1940 stirbt. 1912 folgte die Ehe mit der späteren Kaiserin Menen II., die ihm nochmal sechs Kinder schenkt und 1931 die erste Hochschule für Mädchen gründen wird. Nach einem Putsch der christlich-orthodoxen Aristokratie gegen Iyasu wegen seiner islamfreundlichen Politik wurde dessen konservative Tante Kaiserin und Makonnen, der als Vertreter des liberalen Adels gilt und von der Kaiserin „schmachtäugiger Zwerg“ genannt wird, am 27. September 1916 Kronprinz.

Als Bevollmächtigter Regent war er für die Administration des Landes zuständig, Regierung wäre wohl zu hoch gegriffen. Äthiopien wurde auf sein Betreiben hin 1923 Mitglied des Völkerbundes, 1928 schloss er einen zwanzigjährigen Friedensvertrag mit Italien. Die von ihm fortgesetzte Modernisierung kommentierte er jedoch mit den Worten: „Wir brauchen den europäischen Fortschritt nur, weil wir von ihm umringt sind. Das ist gleichzeitig ein Vorteil und ein Unglück.“ Nach zwei erfolgreich niedergeschlagenen Aufständen wird er 1928 erst König und zwei Jahre später, nach dem Tod der Kaiserin, Kaiser („Neguse Negest“, „König der Könige“).

Selassi bei einem Frontbesuch 1935. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

„Was macht er denn noch so spät?“, soll Selassies Berater Daniel Arthur Sandford laut Spiegel einmal einen Leibgardisten gefragt haben. „Nichts, er sitzt alleine in seinem Arbeitszimmer und grübelt und grübelt und grübelt“, habe der Soldat geantwortet. Ergebnis dieser nächtelangen Überlegungen war ein radikales Modernisierungsprogramm. Zum Entsetzen der Adeligen verbot Selassie die Sklaverei, er rüstete die Armee auf und schickte junge Leute zum Studium nach Europa. Drei Jahre später erließ er erste Verfassung des Kaiserreichs Abessinien, die das Land zwar formell in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte, tatsächlich aber seine absolute Machtposition festigte. Als Staatsmann schmiedete er zahlreiche Pläne, wie er sein Land vor den Europäern beschützen könnte. Vor allem vor den Italienern, deren erstes abessinisches Abenteuer 1896 blutig endete und die auf Rache sannen.

„Spannung der Entschlossenheit“

Als die Italiener 1935 in Eritrea Truppen massierten und Grenzzwischenfälle provozierten, enthüllte sein Taktieren – so schlug er eine internationale Beobachterkommission vor und machte das Angebot, seine Truppen von der Grenze zurückzuziehen – die Schuld Mussolinis vor der Weltöffentlichkeit, noch ehe die Invasion begann, mit der die Römer ihre „Kolonialansprüche“ befriedigen wollten. Vor der Generalversammlung des Völkerbunds hielt er am 30. Juni 1936 eine flammende Rede gegen die Untätigkeit angesichts der italienischen Aggression. „Schaffen die Staaten damit nicht einen schrecklichen Präzedenzfall, indem sie sich der Gewalt beugen?“, fragte der Kaiser die Politiker. Seine Anklage blieb unbeachtet, zahlreiche Staaten erkannten die italienische Eroberung an. Trotzig hatte ihn das amerikanische „Times“-Magazin zum Mann des Jahres erklärt. Selassie emigrierte nach Großbritannien. Das Ende des freien Abessinien, einem seit fast 3.000 Jahren unabhängigen und nie kolonisierten Kaiserreich, scheint absehbar.

Dennoch ist die fünfjährige italienische Episode ambivalent zu werten. Unentschuldbar ist die Grausamkeit der italienischen Besatzer, die anfangs sogar das Giftgas Yperit einsetzen, das Zehntausende tötet, das Vieh der Bauern verenden lässt und das Trinkwasser verseucht. Die Bevölkerung wehrte sich mit Attentaten gegen wichtige Funktionsträger. „Auf solche Attentate hat der faschistische Staat dann mit härtester Repression reagiert und hat Tausende von Äthiopiern hinrichten lassen. Und zwar in erster Linie die äthiopische Intelligenz“, meint der Historiker Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut Rom im DLF.

Selassie kehrt zurück. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Andererseits hat Italien „das Land ins 20. Jahrhundert gezerrt. Mussolinis Kolonisatoren brachten moderne Technik und konfrontierten die versteinerte mittelalterliche Sozialordnung des Landes mit den Werkzeugen Europas. Sie legten Telephonkabel und Wasserleitungen, sie bauten Autostraßen, Geschäftshäuser, Kühlhäuser, Schulen und Rundfunkstationen, sie demonstrierten die Effektivität moderner Verwaltungsformen“, so der Spiegel. 1941 kehrte Selassie an der Spitze der britischen Befreier zurück und erkannte, dass sein Staat im 20. Jahrhundert nur bestehen kann, wenn er sich des technischen Instrumentariums Europas bemächtigt. „Diese Spannung der Entschlossenheit, den Geist des Alten zu bewahren und die Technik des Neuen zu gebrauchen, kennzeichnet die Regierung Haile Selassies seit seiner Rückkehr“, befindet der Spiegel.

„Wir sind nicht Gott“

Sein Reformeifer nach innen erlahmte allerdings. Der Kaiser zeigte vor allem Interesse am eigenen Machterhalt. Es gibt keine Tageszeitungen, nur zwei Wochenzeitungen, die wenig informativen Wert haben. Die kaiserliche Zensur verbietet alle halbwegs interessanten Meldungen als zu „politisch“. Für moderne Aufgaben, meinen die Äthiopier, sind die ausländischen „Berater“ da, die der Kaiser anwirbt. Sie sind geschickt aus vielen Nationen ausgesucht, deren Einflüsse sich gegenseitig aufheben. Ein Schwede drillt die Luftwaffe, ein Amerikaner die Zivilluftfahrt, Deutsche sitzen im Handelsministerium, Engländer in der Polizei, und Sowjetrussen betreuen das Menelik-Krankenhaus, das Stalin dem Land vermacht hat, weil das einst vom Zaren gestiftete Hospital zerstört wurde. Der frühere Wiener Bürgermeister und SS-Gruppenführer Hermann Neubacher hat die Aufgabe, das „Großdorf“ Addis dem stärkeren Verkehr anzupassen.

Staatsbesuch in Deutschland mit Heuss und Adenauer. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Und Selassie zeigt Interesse an zahlreichen Auslandsreisen, die ihm den Spitznamen „Reisekaiser“ einbrachten. Im November 1954 besuchte er als erster offizieller Staatsgast die Bundesrepublik, traf Präsident Heuß und Kanzler Adenauer, Parlamentarier und Industrielle, besichtigte Universitäten, Pferdegestüte und Krankenhäuser und gab auf dem Bonner Petersberg eine Pressekonferenz. Mit Kamelen, Elefanten und Ponys auf der Beueler Rheinbrücke wollte man dem Afrikaner ein Gefühl von Zuhause geben. Zehntausende Menschen waren zusammengeströmt, um einen Blick auf den Märchenkaiser zu erhaschen – genau wie bald darauf auch in den USA und zahlreichen anderen Staaten, die Selassie besuchte. Vor allem in Jamaika 1966 entfachte er Begeisterungsstürme. „Wir sind nicht Gott. Wir sind kein Prophet“, versuchte er die Rastafaris umzustimmen. Schließlich stiftete er eine Kirche auf der Karibikinsel.

Haile Selassie genoss im Ausland hohes Ansehen als Staatsoberhaupt des ältesten afrikanischen Landes, eines Gründungsmitgliedes der Vereinten Nationen, und war graue Eminenz und Integrationsfigur des afrikanischen Kontinents in der Dekolonialisierungsphase. Gleichwohl fallen in seine Amtszeit mehrere Kriege, unter anderem mit Somalia um das Grenzgebiet des Ogaden sowie gegen Separatisten in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise 1950 föderaler Teil Äthiopiens war, dann aber vom Kaiser zur Verwaltungsprovinz herabgestuft wurde. Äthiopien hat ein Parlament, doch das darf nur verabschieden, was der Kaiser vorschlägt. Er selbst ernennt die Mitglieder des Oberhauses, und diese wiederum ernennen die Unterhaus-Abgeordneten. Wahlen sind mit der Würde des Throns unvereinbar. Bereits 1960 war einer seiner Söhne in einen Putsch gegen ihn verwickelt.

„brillanter Außenpolitiker“

Anfang der 1970er Jahre zeigte sich dann auch immer mehr die Unzufriedenheit der Bevölkerung, vor allem der Studenten, mit der Machtfülle des Kaisers, der zu keinerlei Reform des konservativ-aristokratischen Staatsaufbaus bereit war, was sich in den Parlamentswahlen in Äthiopien 1973 zeigte: „Das Volk weiß nicht, was es braucht“, behauptete der Alleinherrscher. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Selassies Reich betrug 38 Jahre, nur jeder zehnte Äthiopier konnte lesen. Weltweit sorgt nun die Untätigkeit des einst so bewunderten Selassie und seiner Beamten für Entsetzen. In diesem Jahr versuchte sein Enkel Iskander Desta, damals Oberbefehlshaber der äthiopischen Marine, einen Umsturz zu erzwingen.

Freilaufende Löwen im Palast. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Als im Norden eine verheerende Hungersnot ausbrach, während das fruchtbare Äthiopien zugleich 200.000 Tonnen Getreide exportierte, rebellierten die Untertanen: Im Dokumentarfilm „Die unbekannte Hungersnot“ war gezeigt worden, wie Selassie zahme Löwen in seinem Palast mit Fleischstücken von goldenen Tellern fütterte. Ein Jahr später führte die Rebellion gemeinsam mit gewaltsamen Protesten von Studenten schließlich zur Revolution, in deren Verlauf die Forderung nach einer parlamentarischen Monarchie schnell unter Führung des Hauptmanns und späteren Diktators Mengistu Haile Mariam einer marxistisch-leninistischen Doktrin wich. Nach einem Militärputsch musste der Kaiser am 12. September 1974 abdanken. Sein Diener fand den 83-Jährigen im Jahr darauf leblos in seinem Zimmer.

Rastafaris in Jamaica. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Haile Mariam ließ den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern, wo er erst 1992 wieder entdeckt wurde. Erst nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurde im Jahr 2000 die Bestattung in der Familiengruft in der Dreifaltigkeitskirche von Addis Abeba nachgeholt. Selassie hatte das Land 45 Jahre lange geführt – kein afrikanischer Herrscher der Neuzeit war so lange an der Macht. Er hielt die Landbevölkerung, vor allem die Leibeigenen, in Unwissenheit – noch immer heute hemmt diese Rückständigkeit des ländlichen Äthiopiens jede Entwicklung. Der Kaiser versuchte aber, der städtischen Elite den Anschluss an das 20. Jahrhundert zu verschaffen. Im restlichen Afrika wurde er geschätzt für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im Kampf gegen die Kolonialherrschaft: Nach der Phase der Dekolonisierung wurde Addis Abeba Sitz der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), die Selassie mitbegründete.

Sein Großneffe Asserate kommt zu einer ambivalenten Einschätzung: Zwar habe er sein Land „vom Mittelalter in die Moderne“ geführt, dem italienischen Faschismus Widerstand geleistet und sei ein „brillanter Außenpolitiker“ gewesen, womit er „wesentlichen Anteil an der Entkolonisierung Afrikas“ gehabt hätte. Aber er war den Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen und uneinsichtig, „dass sich ein moderner Staat … nicht mehr paternalistisch-autokratisch regieren ließ“. Daneben habe er Macht nicht teilen können und sei unfähig gewesen, Entscheidungen zu delegieren, weshalb es „Stillstand im Land“ gegeben habe und er es versäumte, „das Zepter an die nächste Generation weiterzureichen“. Sein Fazit: Vor dem Urteil der Geschichte würden seine „Verdienste um Äthiopien mehr Gewicht haben als die großen Fehler, die er zweifelsohne besaß.“

Den sardinischen und den deutschen Krieg verlor er; seine Kriegserklärung an Serbien mündete auf Grund der Bündnisdynamik in den Ersten Weltkrieg. Eine Tochter starb als Kleinkind, sein einziger Sohn beging Selbstmord, sein Bruder wurde hingerichtet, sein Neffe erschossen, seine Frau erstochen – nach ihrem Tod soll er den Satz „Mir bleibt doch nichts erspart auf dieser Welt“ gesagt haben. Und sein als Neoabsolutismus bezeichneter Versuch, ohne jedes Parlament zu regieren, ließ ihn erst verhasst, später aber, auch aufgrund seines äußeren Erscheinungsbilds, mehr und mehr wie einen gütigen älteren Herrn erscheinen, der als archetypischer „Landesvater“ als letzte Instanz der Bewahrung und des Zusammenhalts seines Vielvölkerstaats auftrat.

Der k.u.k. Hofballdirektor Johann Strauß (Sohn) komponierte gleich zwei Märsche für ihn. Dreimal wurde er erfolglos für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Im Bewusstsein der meisten Deutschen sieht er aus wie Karl-Heinz Böhm, der ihn Mitte der 50er Jahre in der Sissi-Trilogie gespielt hatte: einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Filmproduktionen nach 1945. Joseph Roth beschreibt in seinem Roman „Radetzkymarsch“ die letzten Lebensstunden des Monarchen: Franz Joseph I. Am 18. August würde der erste und zugleich letzte Kaiser der k.u.k. Monarchie seinen 190. Geburtstag feiern.

Franz Joseph I. Quelle: https://www.habsburger.net/de/personen/habsburger-herrscher/franz-joseph-i

Seine Eltern waren Erzherzog Franz Karl und Prinzessin Sophie von Bayern; als Franz II. war sein Großvater bis 1806 der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Bereits von frühester Kindheit an wurde der kleine „Franzi“ als möglicher Kandidat für den Kaiserthron gesehen und konsequent darauf vorbereitet. Vor allem die stolze, dominante, staatsbewusste Mutter Sophie beobachtete die körperliche und geistige Entwicklung ihres Erstgeborenen in ihren Tagebüchern penibel – so wurde das Kleinkind in seiner Umgebung bald „Gottheiterl“ genannt. Die Erziehung lag bis zum siebten Lebensjahr in den Händen der Kinderfrau Louise von Sturmfeder. In einem Überschwang kindlicher Liebe meinte Franzi: „Wenn Du einmal stirbst, laß‘ ich Dich ausstopfen!“

Danach begann eine harte Staatserziehung: Franz Joseph hatte in seiner Kindheit wenig Freiraum. Der Sechsjährige hatte 13 bis 18 Wochenstunden zu absolvieren, mit sieben Jahren bereits 32 Wochenstunden. Im Alter von 16 Jahren war sein Tagesprogramm von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends vollkommen durchstrukturiert, was viele Biografen als regelrechte Dressur ansehen, durch die seine spätere Persönlichkeit vorgeformt wurde. Das Fundament für sein Selbstverständnis als Soldat und Erster Diener des Staates wurde damals gelegt. Das Hauptaugenmerk lag auf dem Spracherwerb: Deutsch und Französisch vor allem, aber auch Tschechisch und Ungarisch sowie später Italienisch und Polnisch als wichtigste Sprachen der Monarchie. Aber auch Latein und Altgriechisch wurden nicht vergessen. Neben der zeitüblichen Allgemeinbildung erhielt er Unterricht in künstlerischen Fächern wie Zeichnen, in dem er sich erstaunlich begabt erwies und Musik, aber natürlich auch in Leibeserziehung wie Turnen, Schwimmen, Fechten, Reiten, Tanzen sowie der Einführung in militärisch-strategische Grundkenntnisse. Die Einführung in das Staatswesen wurde von Metternich persönlich vorgetragen. Anlässlich seines 13. Geburtstages wurde er zum Obersten des Dragonerregiments Nr. 3 ernannt.

„einige gravierende Fehlentscheidungen“

Als es schließlich im März 1848 in großen Teilen von Deutschland und Österreich zu Revolutionsversuchen kam, beschloss der Familienrat der Habsburger, ihrer Monarchie ein neues Gesicht zu verleihen. Franz-Josephs Onkel Ferdinand I. entsagte im mährische Fluchtort Olmütz dem Thron, Vater Erzherzog Franz Karl verzichtete nach energischem Zureden seiner Gattin Sophie. Die sah nun den Moment gekommen, ihren Lebenstraum zu verwirklichen, ihren gerade 18jährigen Erstgeborenen auf dem Kaiserthron zu sehen. Zu seinem Wahlspruch erkor er „Viribus Unitis“ („mit vereinten Kräften“). Er sah seine Hauptaufgabe zunächst darin, eine erneute Revolution unmöglich zu machen. Sein absolutistisches Vorgehen, gestützt auf Militär und katholische Kirche, das im Silvesterpatent 1851 gipfelte, mit dem der neue Reichstag mit Ober- und Unterhaus wieder abgeschafft wurde, machte ihn keineswegs beliebt. 1853 versuchte der ungarische Schneidergeselle János Libényi vergebens, ihn zu erdolchen. Franz-Joseph erlitt eine Wunde unterhalb des Hinterkopfs, der Geselle wurde hingerichtet. An dieses Attentat erinnert die Votivkirche in Wien, die als Dank für die Errettung des Monarchen auf Initiative seines Bruders Ferdinand Maximilian errichtet wurde – der 1867 als Kaiser von Mexico, in Wirklichkeit Spielball von Napoleon III., erschossen werden wird.

Franz und Sisi. Quelle: https://i.pinimg.com/474x/1d/91/7c/1d917cbe51b97044a5dc7bfd26072d88–sissi-franz.jpg

Ebenfalls 1853 suchte die dynastiebewusste Erzherzogin nach einer geeigneten Braut für ihren Sohn, fasste eine Verbindung mit dem Haus Wittelsbach in Gestalt der Töchter ihrer Schwester ins Auge und sorgt für ein Treffen der 19jährigen Helene und der 15jährigen Elisabeth (genannt Sisi) anlässlich seines Geburtstags in Bad Ischl. Unerwartet zog er Elisabeth vor. Am 24. April 1854 kam es in der Wiener Augustinerkirche zur Hochzeit. Aus der Ehe gingen drei Töchter und ein Sohn hervor: Der angedachte Thronfolger Kronprinz Rudolf. Derweil machte der autoritär regierende Franz-Joseph, der es auf 15 Enkelkinder und 55 Urenkel bringen wird, außenpolitisch eine höchst unglückliche Figur: „Die ersten Jahre waren geprägt von Willkür, Unsensibilität und politischer Kurzsichtigkeit, die in einige gravierende Fehlentscheidungen mündeten“, befand sein Biograph Martin Mutschlechner. Sein erster großer Fehler war die Positionierung im Krimkrieg 1853–1856: Österreich erklärte sich neutral, wodurch Franz Joseph seinen engsten Verbündeten, den russischen Zaren Nikolaus I., brüskierte, war doch die ungarische Revolution nur durch Waffenhilfe Russlands niedergeschlagen worden.

Der Verlust der norditalienischen Gebiete während des Risorgimento, der Einigung Italiens, stellte einen weiteren Rückschlag dar, der zudem auch von einem persönlichen Tiefschlag begleitet war: bei der Schlacht von Solferino 1859 übernahm Franz Joseph persönlich das Oberkommando, und als die Schlacht für Österreich desaströs endete, galt seine Unfähigkeit als Heerführer als erwiesen. Österreich hatte in der Folge schwere Gebietsverluste hinzunehmen. Eine fundamentale Erschütterung erfuhr Franz Josephs Regierung dann durch die Niederlage in der Schlacht von Königgrätz 1866, die den endgültigen Verlust der habsburgischen Vorherrschaft unter den deutschen Fürsten zur Folge hatte. Preußen übernahm dank der energischen Politik Bismarcks die Führerschaft, der nach 1871 das österreichische Kaiserreich zu einer Bündnispolitik mit dem wirtschaftlich stärkeren Deutschen Kaiserreich als „Juniorpartner“ zwang.

So stellte sich Presse die Tragödie von Mayerling vor. Quelle: https://i.pinimg.com/474x/1d/91/7c/1d917cbe51b97044a5dc7bfd26072d88–sissi-franz.jpg

1867 half ihm seine Frau Elisabeth, vor allem durch Beziehungen zu hohen ungarischen Familien, den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich herzustellen und, zum König von Ungarn gekrönt, den Staat Österreich-Ungarn aus der Taufe zu heben: Die Insuffizienz des neoabsolutistischen Zentralismus hatten Reformen in Richtung eines konstitutionellen Systems („monarchischer Konstitutionalismus“) unausweichlich werden lassen. Die k.u.k. Monarchie hatte nun zwei Hauptstädte – Wien und Budapest, das in wenigen Jahrzehnten einen rasanten Ausbau zu einer Metropole europäischer Geltung durchmachte, sowie zwei gesonderte Regierungen und zwei Volksvertretungen nebeneinander. Zu dieser Zeit war es jedoch längst zu Entfremdung zwischen den Eheleuten gekommen, da Sissi das strenge Hofzeremoniell abstoßend fand und ihre Zeit lieber auf Reisen verbrachte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Franz-Joseph mehrere Beziehungen zu Geliebten einging: mit Anna Nahowski zeugte er vermutlich eine Tochter, die Schauspielerin Katharina Schratt vermittelte ihm seine Frau höchstselbst.

Wiener Hof als Hort der Traditionen

Das Habsburgerreich erlebte nun einen Gründerzeit-Aufschwung, neue Industriezweige und ein finanzstarkes Bürgertum entstanden – auch wenn anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 ein Börsenkrach nebst Gründerkrach folgte. Die Monarchie wandelte sich vom feudalen Agrarstaat zu einer Industriegesellschaft, wenn auch enorme Unterschiede zwischen hochentwickelten und rückständigen Landesteilen bestehen blieben. Franz Joseph stand dem gesellschaftlichen Wandel ambivalent gegenüber. Der Wiener Hof blieb weiterhin ein Hort der Traditionen und galt als elitärster Europas. Die neuen bürgerlichen Eliten und der Finanzadel wurden als „Zweite Gesellschaft“ zwar Träger des kulturellen Lebens der Stadt – die von ihm gebaute Wiener Ringstraße gilt als Symbol dieser Zeit. Dennoch wurden sie vom Hof nicht als der alteingesessenen Aristokratie gleichwertig angesehen.

Die späteren Jahre des Kaisers verliefen dann alles andere als erfreulich: Nach dem Tod seines Bruders musste er am 30. Januar 1889 den Selbstmord seines einzigen Sohns verkraften. Nach einer unglücklichen Ehe mit Stephanie von Belgien, die nur unter Druck von Franz-Joseph arrangiert wurde, erschoss Kronprinz Rudolf in Mayerling erst seine Geliebte Mary Vetsera und dann sich selbst. Rudolf hatte seine streng militärisch geprägte private Ausbildung abbrechen dürfen, sich naturwissenschaftlichen Studien gewidmet und an Brehms Tierleben mitgearbeitet – und sein Vater ihn von allen Staatsgeschäften ferngehalten. Nur neun Jahre später wurde Kaiserin Elisabeth in Genf von einem italienischen Attentäter mit einer Feile ermordet. Die Thronfolge war zu diesem Zeitpunkt bereits auf seinen ungeliebten Neffen Franz-Ferdinand übergegangen, da auch der Kaiserbruder, Erzherzog Karl Ludwig, bereits verstorben war.

Darstellung des Feilen-Attentats. Quelle: https://img.welt.de/img/geschichte/mobile181480108/9187939767-coriginal-w780/Assassination-of-Elisabeth-of-Bavaria-by-Luigi-Lucheni-1898-Artist-Anon-2.jpg

Ab 1893 verfügte die österreichische Reichshälfte über keine stabilen Regierungen mehr, da diese nacheinander an der Lösung der brennenden sozialen Probleme und angesichts des nationalistischen Extremismus scheiterten. Das Militär und der Beamtenapparat wurden somit zur wichtigsten Stütze der Monarchie, die nach veralteten Prinzipien weiterverwaltet wurde, ohne dass es zu einer grundlegenden Bereinigung der Missstände kam: „Fortwursteln“ nannte das der Volksmund. Das Reich und sein Kaiser wurden von der Moderne überrollt. „Der alte Herr in Schönbrunn“ hielt sich aus dem politischen Tagesgeschäft heraus und wurde mit zunehmendem Alter zu einer mystifizierten, über jede Kritik erhabenen Symbolfigur für den Zusammenhalt der Monarchie. Kein Staatspatriotismus, sondern die Loyalität zum Monarchen wurde als Ausdruck des Zugehörigkeitsgefühls der Bürger zur Monarchie propagiert.

Am Ende seiner Amtszeit sollte es zur folgenschwersten Entscheidung Franz-Josephs kommen, dessen endgültige Folgen der Kaiser nicht mehr erleben musste. Nachdem Franz-Ferdinand 1914 einem Attentat in Sarajewo zum Opfer fiel, nahm dies der greise Franz-Joseph zum Anlass, einen Krieg gegen Serbien zu beginnen: Er verstand das Attentat als einen Angriff auf die Ehre der Dynastie und das Königreich Serbien als Drahtzieher des Attentats. In völliger Verkennung der Weltlage führte er damit die Donaumonarchie in den Weltkrieg und zu ihrem späteren Untergang. Noch bevor es soweit war, starb Franz-Joseph schließlich am 21. November 1916, nach 68 Jahren auf dem Thron, im Alter von 86 Jahren an einer Lungenentzündung. Seine letzten Stunden lesen sich in der Rekonstruktion von Michaela und Karl Vocelka wie eine ewige Wiederholung, geprägt von der Pflicht. Er stand zwischen drei und vier Uhr auf, Termine, Akten und Audienzen folgten bis in den Abend, unterbrochen von kurzen Mahlzeiten, die die meisten Teilnehmer hungrig ließen, weil sich der Kaiser nicht einmal an seinem geliebten Tafelspitz lange aufhielt, das Essen aber mit seiner Sättigung beendet war.

„ein trockener Pragmatiker“

Auch diesen 21. November verbrachte Franz Joseph am Schreibtisch, an dem er mehrfach Schwächeanfälle erlitt. Gegen 18 Uhr wurde der stark fiebernde Monarch auf Anraten der Ärzte zu Bett gebracht, um 20 Uhr war man sich sicher, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. Seine letzten Worte waren: „Bitte, mich morgen um halb vier wecken; ich bin mit meiner Arbeit nicht fertig geworden.“ Dann verlor er das Bewusstsein. Um 21.05 Uhr, eine halbe Stunde nach der letzten Ölung, stellte der Leibarzt Joseph Ritter von Kerzl den Tod fest. Um 22.30 Uhr wurde er dem Publikum vor dem Schloss Schönbrunn bekannt gegeben. Der Titel der Extraausgabe der amtlichen „Wiener Zeitung“ lautete: „Das edle Herz eines großen Monarchen hat aufgehört zu schlagen!“ Am 11. November 1918, verzichtete sein Nachfolger Karl I. auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“. Am Tag darauf folgte die Ausrufung der Republik. Doch den meisten Zeitgenossen schien es, als sei das Kaiserreich bereits zwei Jahre zuvor untergegangen.

Das Attentat von 1914. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/79307cca-0001-0004-0000-000000713950_w1528_r0.7960935187925422_fpx44.99_fpy51.74.jpg

Manche Biographen meinen, der alte Kaiser habe sein Reich sehenden Auges in den Untergang geführt, da er das Ende seiner gewohnten Welt gekommen sah. Als Ausdruck seines Fatalismus muss sein bekannter Ausspruch herhalten: „Wenn wir schon zugrunde gehen müssen, dann wenigstens anständig!“ Seine Trauerfeier war der letzte große Staatsakt der k.u.k. Monarchie – ein „düster-prachtvolles Schauspiel, das sich in absoluter Totenstille vollzog“, wie es ein Zeitungsreporter beschrieb. Viele sahen mit dem toten Kaiser den letzten Anker ihrer Welt schwinden. Denn Franz Joseph I. hat tatsächlich einer ganzen Epoche seinen Stempel aufgedrückt. Als großer Bewahrer und Beschützer überkommener Traditionen und Werte, zugleich aber auch als Trugbild ihrer tatsächlichen Macht, denn sein Kaisertum verschleierte auf fatale Weise die säkularen Gewalten, die am Ende den zweitgrößten Staat Europas aus den Angeln heben sollten.

Mit seinem Tod verlor Österreich-Ungarn die verbindende Klammer, die noch die zentrifugalen Kräfte hatte im Zaum halten können. „Durch die Dauer der Regierung Franz Josephs ist jenes Gefühl der Beständigkeit erzeugt worden, das gerade in diesem zerrissenen und schwankenden Staate wohltätig wirkte“, bestätigte selbst das „Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratie in Oesterreich“ in seinem Nachruf dem toten Kaiser. Er „war kein großer Denker, sondern ein trockener Pragmatiker“, befindet Mutschlechner, der „durch seinen erstarrten Traditionalismus entgegen seinen Absichten zum Ende der Monarchie“ beitrug. Die Persönlichkeit des Kaisers wird unisono als nüchtern und fantasielos geschildert: Pflichtbewusst bis zur Pedanterie, galten ihm Pünktlichkeit und Ordnungssinn als höchste Tugenden. Franz Joseph galt als „Aktenmensch“, der ein enormes Arbeitspensum absolvierte und wie ein Uhrwerk funktionierte. Sein Hobby war die Jagd. 55.000 Stück Wild sind auf den Abschusslisten erfasst.

Der Trauerzug auf dem Heldenplatz. Quelle: https://www.mediathek.at/der-erste-weltkrieg/der-erste-weltkrieg-ausgabe-4/der-alte-kaiser/begraebnis-einer-epoche/

Franz Joseph präsentierte sich als statische, leidgeprüfte Gestalt, die „mit der zwangsneurotischen Pedanterie einer Maschine“ am Schreibtisch saß, Akten studierte und unterschrieb, wie Erwin Ringel meinte: „Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert, … und hat in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt “. Diese Diagnose resultiert aus dem Pessimismus des Kaisers und seinem Wissen um die eigene Erfolglosigkeit, die jedoch vom Gedanken der Pflichterfüllung bis zum letzten Atemzug und dem Wunsch, mit Ehren zugrunde zu gehen, flankiert wurden, ferner von einer tief eingewurzelten „Scheu vor Entscheidungen, Reformen und Veränderungen“. Seinen Spuren begegnet man in Österreich allerorten; unzählige Verkehrsflächen, Gebäude, Schiffe oder Institutionen wie Schulen wurden nach ihm benannt und künden von einem Glanz, dem doch seit hundert Jahren keine Politur mehr zuteil wurde.

Als sich der Landwirt Johann Philipp Kreißler mit seiner Familie aus dem leiningischen Guntersblum am Rhein der ersten Massenauswanderung der Pfälzer in die Vereinigten Staaten anschloss, in der britischen Provinz New York niederließ und nach einem unspektakulären Leben nach 1744 als vierfacher Vater starb, ahnte er sicher nicht, dass er dereinst eine eigene Straße in seinem deutschen Heimatdorf bekommen sollte. Sein Verdienst: er wurde zum Ahnherrn eines Mannes, den das Time Magazine 1928 zum Man of the Year wählen sollte: Walter Percy Chrysler, wie sich die Familie inzwischen nannte. Der Automobil-Pionier und Begründer des internationalen Automobilunternehmens Chrysler Corporation starb am 18. August 1940 in Long Island.

Chrysler vor seinem ersten Auto. Quelle: https://www.drive.com.au/motor-news/mogul-walter-p-chrysler-20150608-ghiw49

Walter P. Chrysler wurde 2. April 1875 als Sohn des Lokomotivingenieurs Henry Chrysler und dessen Frau Mary in Wamego im US-Bundesstaat Kansas geboren. Nach Abschluss der High School begann Chrysler 1892 eine Lehre bei der Union Pacific in Ellis im US-Bundesstaat Kansas. Anschließend arbeitete er bei der American Locomotive Co. (ALCo) wo er es bis zum Stützpunktleiter in Pittsburgh brachte. Am 4. Juni 1900 heiratete Chrysler seine Frau Della, mit der er drei Kinder hatte. Bereits mit 33 Jahren wurde er Manager der Chicago Great Western Railway. Ein weißer Locomobile Phaeton mit roter Innenausstattung für 5.000,- US-Dollar wurde Chryslers erstes eigenes Fahrzeug. Als großer Technikinteressierter soll er das Fahrzeug auseinandergenommen und anschließend wieder zusammengebaut haben.

1910 wurde er Werksleiter bei Buick, einer Tochtergesellschaft von General Motors GM in Flint, Michigan, und brachte seine Leute in Schwung, indem er die Tagesproduktion von 20 auf 550 Fahrzeuge steigerte. Prompt wurde er 1912 Produktionschef. Fünf Jahre später, 1917, avancierte Chrysler zum Präsidenten von Buick und machte die Marke zur erfolgreichsten im GM-Konzern. 1919 wurde er zum Vize-Präsidenten von GM ernannt, gab jedoch wegen Differenzen mit seinem Vorgesetzten William C. Durant diese Position wieder auf. Chrysler fand einen Führungsposten bei Willys-Overland, dem bekannten Jeep-Hersteller, der in Schieflage geraten war. Sein Ruf als erfolgreicher Manager bescherte ihm dort nicht nur große Wirkungsfreiheiten, sondern auch ein damals sagenhaftes Gehalt von einer Million US-Dollar im Jahr.

Drittgrößter amerikanischer Autobauer

1921 betrachtete er seine Arbeit als erledigt und wandte sich dem nächsten Sanierungsfall zu, der Maxwell Motor Company, deren Präsident er ein Jahr später wurde. Zu seinem Sanierungskonzept zählte die Einstellung von Ingenieuren zur Entwicklung eines neuen Autos, das 1924 fertig gestellt war und die Bezeichnung seines Initiators erhielt – „Chrysler Six“. Es ging als Legende in die Automobilgeschichte ein. Aus 3,3 Litern Hubraum entwickelten sich 68 PS, die den Wagen auf eine Höchstgeschwindigkeit von 110 Stundenkilometer brachten. Hydraulische Bremsen an allen Rädern und Stossdämpfer gehörten gleichfalls zur Ausstattung. Allein 32.000 Stück wurden davon im ersten Produktionsjahr verkauft. 1925 wurde die Firma zur Chrysler Corporation.

Chrysler-Building. Quelle: https://nypost.com/2019/03/07/inside-the-chrysler-buildings-storied-past-and-uncertain-future/

Ein Jahr später wurde die Maxwell Motor Company von der Chrysler Corporation übernommen, das Händlernetz in den USA stieg auf rund 3.800. Mit technischen Neuheiten und Modellvariationen erlebte Chrysler eine hohe Wachstumsdynamik und landete 1926 auf Platz fünf der US-Hersteller. 1928 wurde das Modell „Plymouth“ für die untere Preisklasse gebaut. Der Typ „DeSoto“ sorgte im mittleren Preissektor für Furore und verkaufte sich nach gut einem Jahr 100.000 Mal. Im gleichen Jahr übernahm Chrysler die große Autofirma Dodge Brothers, Inc. Damit zählte der Autokonzern zusammen mit Henry Ford und General Motors zu den drei größten amerikanischen Autobauern.

Walter Chrysler war auch der Bauherr des Chrysler Building in New York, das mit 77 Etagen bei 319 Metern Höhe für 11 Monate das höchste Gebäude der Welt war, bis ihm das Empire State Building den Rang ablief, und das mit seiner Art-Deco-Fassade bis heute als einer der schönsten Wolkenkratzer der Welt gilt. Zu Chrysler gehörten in dieser Zeit Chrysler, Dodge, Imperial, DeSoto und Plymouth. 1932 und 1933 führte der Autokonzern technische Neuerungen bei der Triebwerksaufhängung und der Bremskraftverstärkung sowie das Sicherheitsglas ein. In Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise konnte der Autobauer seine Verkaufszahlen halten.

1936 Chrysler Imperial Airflow. Quelle: https://www.pinterest.jp/pin/680395456178635314/

1934 wurden erstmals die stromlinienförmigen Modelle Chrysler Airflow, DeSoto Airflow und Imperial Airflow hergestellt. Das Modell „Imperial“ ist das erste amerikanische Auto mit gewölbter Frontscheibe. 1935 zog sich Walter Chrysler aus dem Geschäftsleben zurück und war noch für fünf Jahre Privatier. Er gilt als letzter Automobilpionier, der aus eigener Kraft einen Automobilkonzern aufbaute und am Leben erhielt. Dass sein Unternehmen zweimal mit Milliardenbürgschaften amerikanischer Präsidenten – erst Carter 1979, dann Bush 2008 – vor dem Konkurs gerettet werden musste und seit 2014 namenloser Teil des Fiat-Konzerns ist, hätte ihn kaum erfreut.

„Für die einen ist es ein kasuistischer Zufall: am selben Tag, da Tilo Sarrazin endgültig aus der SPD ausgeschlossen wurde, löschte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG eine Audio-Botschaft des Kabarettisten Dieter Nuhr aus dem Netz. Für die anderen indizieren beide Tilgungen dagegen eine Methode, die sich eine fürchterliche Zukunft zu bauen anschickt: Macht und Moral ersetzen inzwischen nicht nur die Diskussion, sondern die Erkenntnis als solche.“

Mein neuer Tumult-Text, der sich dem Zusammenhang von gesinnungsethischen Anti-Wissenschaftlern mit den Erkenntnis-Ersatzwährungen Macht und Geld widmet.

Als BILD nach der Wahl Benedikts XVI. am 20. April 2005 titelte: „Wir sind Papst!“, stellte der Publizist Robert Leicht fest, dass das Blatt damit, sicher unbewusst, aus einer Schrift Luthers zitierte, verfasst in frühneuhochdeutscher Sprache. Darin brach er eindeutig mit der römisch-katholischen Kirche und bezeichnete den Papst – Leo X. aus dem Hause Medici – als Antichrist, der die Kirche in eine erbärmliche Gefangenschaft geführt hat. Die Missstände, die unter seiner Herrschaft eingerissen sind, hätten das gesamte Kirchenwesen verdorben. Stattdessen formulierte er den Grundsatz des Priestertums aller Getauften: „denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof oder Papst geweihet sei…“ Damit wurde die Zweiteilung der Christenheit in Klerus und Laien faktisch aufgegeben.

Die Schrift war nur eine von vieren Luthers aus dem Jahr 1520, die große Bedeutung erlangten. Doch „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ war die erste, in der er seine theologischen Erkenntnisse in praktische Reformvorschläge umsetzte. Der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann bezeichnet die „Adelsschrift“ als „Manifest der Reformation“: nicht schon mit dem Thesenanschlag von 1517, sondern erst hier sei von Luther ein Entwurf zur Neugestaltung von Kirche und Gesellschaft vorgelegt worden.

Der provokante Ton schockierte; der Mitreformator Johannes Lang nannte das Buch eine „Kriegstrompete“. Luther gab zu, dass er die Schrift in prophetischer Radikalität verfasst habe, ohne Rücksichten zu nehmen. Dabei bietet sie in ihrer Offenheit und Unbestimmtheit Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Reformationstypen, wie Kaufmann feststellt: „städtische oder bäuerliche Gemeindereformationen; Ratsreformationen; ritterschaftliche Reformationen; territorialfürstliche und Königsreformationen“. Der Grundsatz vom Priestertum aller Getauften hat im Spektrum der evangelischen Kirchen immer wieder Neuaufbrüche angeregt, ist er doch vieldeutig: besitzen Priester einen allgemeinen Anspruch oder partizipiert die Allgemeinheit in Form aller Menschen oder fließen beide Varianten zusammen?

Titelblatt. Quelle: Von Martin Luther – Hanns Lilje: Martin Luther. En bildmonografi. Stockholm 1966., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48793665

Auch der Titel gibt zahlreiche Fragen auf: Wie sieht die Besserung des christlichen Standes aus? Um welche Art von Besserung geht es, welche Schritte sind dafür notwendig, wer soll diese Schritte vollziehen (tatsächlich der Adelsstand?) und warum? Dessen ungeachtet war die innerhalb weniger Wochen verfasste und am 5. August 1520 in der relativ hohen Auflage von 4000 Exemplaren erschiene Schrift nach drei Tagen vergriffen. In kurzer Folge schlossen sich 14 Nachdrucke an, die Gesamtauflage soll bei 68.000 Exemplaren gelegen haben – der erste Bestseller vor der Lutherbibel.

„wie er sich kirchlichen Neubau vorstellt“

Luthers Beweggründe, diese Schrift im Jahr 1520 zu verfassen, verortet Karlheinz Blaschke schlüssig in drei Bereichen: Erstens war Luthers innerer Reifeprozess, der ihn zu neuen Erkenntnissen über den christlichen Glauben und einer kritischen Haltung gegenüber der römischen Kirche brachte, weit vorangeschritten. Zweitens erfuhr Luther von Reichsrittern und Humanisten, mit denen er sich in der Reflexion von weltlichen und national-patriotischen Problemstellungen verbunden fühlen durfte, Zustimmung und Ermutigung zur offenen Stellungnahme. Drittens dürften die damals aktuellen Bestrebungen, den Prozess gegen Luther als Ketzer weiter voranzutreiben, eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ein konkreter Schreibanlass kann allerdings bis heute nicht eindeutig benannt werden, im Gegensatz zur Zueignung: Er widmete das Werk einem Kollegen an der Wittenberger Universität, Nikolaus von Amsdorf, der 22 Jahre später als Bischof von Naumburg der erste lutherische Bischof im deutschsprachigen Raum war.

Luthers Adelsschrift gliedert sich in drei größere Sinnabschnitte: Am Bild von drei Mauern, die das Papsttum (die Romanisten) errichtet habe, erläutert Luther zunächst das Ausbleiben von notwendigen Reformen: die erste Mauer bildet der Anspruch des Papstes auf die Oberherrschaft über die weltlichen Obrigkeiten, dem Luther energisch widerspricht. Das Monopol normativer Schriftauslegung und die Überordnung des Papstes über ein allgemeines Konzil bilden Mauer zwei und drei. Theologischer Kern der Schrift ist die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften. Dass Päpste irren können, lässt Luther ihre Schlüsselgewalt bestreiten.

Luther. Quelle: https://www.br.de/themen/kultur/inhalt/religion/luther/martin-luther-online-144~_v-img__16__9__xl_-d31c35f8186ebeb80b0cd843a7c267a0e0c81647.jpg?version=ef93d

Daran schließt sich eine Darstellung dreier Bereiche an, die im Rahmen eines Konzils behandelt werden müssten: die Selbstherrlichkeit des Papstes, die große Zahl der Kardinäle und der enorme Umfang des päpstlichen Hofes, dem Luther dann noch einen Exkurs über den römischen Rechtsmissbrauch folgen lässt. Beide Teile fügen sich zu einem zweiten Sinnabschnitt der Schrift zusammen. Im dritten Abschnitt bringt Luther vor, „was wol geschehen mocht und solt von weltlicher gewalt odder gemeinen Concilio.“ Er führt dabei 26 Verbesserungsvorschläge an, von denen sich zwölf auf genuin römische Missstände beziehen und die folgenden die Christenheit im Allgemeinen betreffen. Der 27. Punkt kritisiert zahlreiche weltliche Übel. In seinen Forderungen und seiner Kritik am Luxus wird er sehr konkret: Er fordert die Einschränkung des ausuferndes Klosterwesens, die Abschaffung des Zölibats, eine Neuordnung des kirchlichen Sozialwesens und eine stärkere Schriftorientierung im Theologiestudium. „Der erste volkssprachliche Text Luthers, der zu erkennen gibt, wie er sich kirchlichen Neubau und den Aufbau einer deutschen Nationalkirche vorstellt“, befand Thomas Kaufmann in der FAZ.

„notwendiger Quell der Verunsicherung“

Luthers Adelsschrift und sein Verständnis vom Allgemeinen Priestertum berührten, ja symbolisierten zentrale Fragen und Probleme der damaligen Zeit. Sie bewegten sich im Spannungsfeld von Freiheit und Begrenztheit, Recht und Pflicht, Macht, oder besser Vollmacht, und Ohnmacht, weltlichem und geistlichem Handeln, Ordnung und Anarchie, Mittel- und Unmittelbarkeit – und nicht zuletzt von Hierarchie und Egalität, Gleichheit und Ungleichheit. So formulieren der Memminger Kürschnergeselle Sebastian Lotzer und der Prädikant Christoph Schappeler 1525 das zentrale Dokument des Bauernkrieges, die „12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben“. War es in den meisten regionalen Vorläufern noch allein das „alte Recht“, auf das man Bezug nahm, so bemühen die 12 Artikel nun das „göttliche Recht“.

Titelblatt der 12 Artikel. Quelle: Von Autor unbekannt – eingescannt aus: Otto Henne am Rhyn: Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Zweiter Band, Berlin 1897, S.21, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3926052

Damit knüpfen sie ausdrücklich an das reformatorische Verständnis an: Göttliches Recht ist biblisches Recht, also das Recht des Evangeliums. Explizit benennt der erste Artikel des Memminger Programms das protestantische Gemeindeprinzip und fordert die Wiederherstellung des Rechts der freien Pfarrerwahl durch die Gemeinde. Der selbst gewählte Pfarrer soll das Wort der Bibel „lauter und klar predigen, ohne allen menschlichen Zusatz“. Aber auch die ausschließlich den wirtschaftlichen und sozialen Problemen gewidmeten Artikel zeigen die Präsenz des reformatorischen Gemeindegedankens in seiner ganzen politischen Dynamik. So soll die Verwaltung des Kirchenzehnten der Gemeinde übergeben werden, ebenso wie die Allmenderechte sowie die Nutzungsrechte am Fischfang, an der Jagd und am Wald, die künftig „der ganzen Gemeinde anheimfallen“ sollen, wie es Artikel 12 sagt.

Was bedeutet es für das Verständnis von Kirche, Gemeinde und Gemeinschaft der Gläubigen, wenn Luthers Verständnis vom Allgemeinen Priestertum konsequent, ja radikal zu Ende gedacht wird? Der Zugang von Frauen zur Priester- beziehungsweise Bischofsweihe, wie jüngst selbst die Synodalversammlung der katholischen Kirche diskutierte? Kardinal Walter Brandmüller kritisierte in Die Tagespost prompt den „synodalen Weg“ als offenkundigen Versuch, „der Kirche säkulare, demokratische Strukturen“ aufzuzwingen, der „sich im Grunde gegen das Wesen der Kirche“ richte. Es sei „ebenso bezeichnend wie befremdend zu sehen, wie wenig die Verfasser unseres Textes verstanden haben, dass die Kirche Jesu Christi weder Monarchie noch Demokratie oder etwas ähnliches ist. Sie ist ein mit menschlichen Kategorien nicht adäquat zu fassendes Mysterium des Glaubens, über das selbst die Heilige Schrift nur in Bildern zu sprechen vermag.“

Das recht unscharfe Bild der „neuen“ Kirche, das Luther in der Adelsschrift zeichnete, changiere zwischen Momenten einer zentralistischen landesherrlichen oder gar kaiserlichen, einer synodal verfassten und einer ganz an den Erfordernissen und Realitäten der Ortsgemeinde orientierten kongregationalistischen Verfassungsstruktur, weiß dagegen Kaufmann. In der Geschichte des Protestantismus habe das allgemeine Priestertum tiefgreifende Wirkungen hinterlassen. In den Gemeinden wachten Aufseher aus dem „Laienstand“ über die Verwendung der Gelder aus dem „gemeinen Kasten“ und wirkten als Organisatoren des Schulwesens und der Armenversorgung. An der Wahl der Pfarrer beziehungsweise der Amtseinsetzung waren „Laien“ kraft des allgemeinen Priestertums beteiligt. „Laien“ aus dem Fürsten-, Adels- oder Ratsherrenstand leiteten die Kirche. Auf den Kirchentagen noch unserer Tage melden sich, wenn irgendwo, evangelische Nichtkleriker zu Wort.

Gebäude der Kramerzunft in Memmingen. Quelle: Von –Martin Egg (talk) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4885110

Im Priestertum aller Gläubigen hat der Protestantismus das Prinzip seiner permanenten Selbstkritik bei sich – ein notwendiger Quell der Verunsicherung, erklärt Kaufmann. „Das Priestertum aller Gläubigen steht für eine egalitäre und partizipatorische Religion, die allen Menschen beiderlei Geschlechts gleiche Rechte eröffnet und den ‚Professionellen’ Grenzen steckt, den Popen, Pfaffen, Mullahs, Oberkirchenräten, den Theologieprofessoren und Berufsreligionsdeutern, den Klerikalfunktionären dieses Äons“. In Luthers „Adelsschrift“ bräche dies erstmals auf. Mit diesem Text begann ein Projekt der Umformung des bestehenden Kirchen- und Gesellschaftswesens, das nach und nach das Gesicht Europas verändern sollte.

Die Stiftung Lesen präsentiert eine Empfehlungsliste von „Büchern gegen Rassismus“. Das ist fürsorglicher Totalitarismus im Dienst linker Ideologie.

Meine neue „Tumult“-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Kann man einen Menschen mit einem Affen kreuzen? Allein die Frage jagt den meisten einen kalten Schauer über den Rücken. Wenige wissenschaftliche Themen wecken ähnlich schwere ethische Bedenken und entfachen hitzigere Diskussionen zwischen Darwinisten und Kreationisten. Doch auch dieses heikle Thema ist dem ehernen Gesetz der Wissenschaft unterworfen: Was erforscht werden kann, wird früher oder später erforscht. Stets taucht zu dem Thema derselbe Name als Erstes auf: Ilja Iwanowitsch Iwanow, Professor an der Universität Charkiw (Ukraine) und hochrangiger Wissenschaftler am Zoologischen Institut in Moskau. Am 20. Juli vor 150 Jahren wurde er in Schtschigry bei Kursk geboren.

Seine Familie sowie seine Kindheit und Jugend liegen, nicht zuletzt seinem Lebens- und Karriereende geschuldet, im Dunkeln. Verbürgt ist, dass er in Charkow studierte und bereits 1910 einen Vortrag auf dem Internationalen Zoologenkongress in Graz zur Kreuzung von Menschen und Affen hielt. Von 1917 bis 1921 und von 1924 bis 1930 war er am Staatlichen Institut für experimentelles Veterinärwesen tätig und arbeitete in den Jahren dazwischen in einer Forschungsstation, die sich mit der Züchtung und Fortpflanzung von Haustieren befasste. Seine ersten praktischen Erfolge erzielte er bei Pferden. Iwanow befruchtete edle Stuten mit dem Sperma von ebenso sorgfältig ausgewählten Hengsten, um ein Superpferd zu kreieren. Ein bedeutsames Unterfangen in einer Zeit, da die Streitkraft der Kavallerie noch nicht von Panzerdivisionen abgelöst worden war, und zugleich wegbereitend für die künstliche Befruchtung, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Die von ihm dazu entwickelten Methoden bei landwirtschaftlichen Nutztieren waren in der Sowjetunion weit verbreitet.

Ilja Iwanowitsch Iwanow. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/166c64f4-0001-0004-0000-000001342790_w909_r0.7575_fpx39_fpy35.jpg

Iwanow ging aber über die ursprüngliche Forschungsfrage hinaus und kreuzte unterschiedliche Tierarten miteinander. Die Ergebnisse blieben zwar hinter den Erwartungen zurück, allerdings erwiesen sich Iwanows Methoden der Befruchtung durchaus als erfolgreich und breit einsetzbar. Es gelang ihm, ein Zebra und einen Esel zu etwas zu kreuzen, das er „Zebroid“ nannte. Und einen Wisent und eine Kuh vermählte er zu einem „Zubron“. Nach und nach setzte Iwanow seine Arbeit mit anderen Tieren fort, die zoologisch gesehen etwas weiter auseinanderlagen. Er kreuzte Antilope und Kuh, Maus und Ratte, Maus und Meerschweinchen. Das Tor zum ultimativen Experiment stand nun weit offen.

„sehr unerfreuliche Folgen“

Das war gedacht als Test auf Darwins Hypothese, dass die Schimpansen die nächsten Verwandten des Menschen seien. Pläne, zum Experiment bereite Frauen mit Schimpansensperma zu befruchten, scheiterten mangels männlicher Schimpansen. Um diese zu beschaffen, nahm er 1926 Kontakt zu Rosalía Abreu auf, die seit mehr als 20 Jahren auf Kuba eine Gruppe von Schimpansen hielt. Sie war die Tochter eines wohlhabenden kubanischen Plantagenbesitzers und weltweit die erste Tierhalterin, der es gelang, Schimpansen über deren gesamte Lebenszeit in Gefangenschaft zu halten und zu züchten. Ihre Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die erfolgreiche Haltung von Großen Menschenaffen in den Zoologischen Gärten weltweit. Doch sie zog sich aus dem Vorhaben zurück nach einem an sie gerichteten Drohbrief des Ku-Klux-Klans, der die „Verunreinigung reinrassiger weißer Frauen“ fürchtete.

Dann lud das renommierte französische Institut Pasteur Iwanow nach Westafrika ein und stellte ihm frisch gefangene Affen zur Verfügung: Das Institut unterhielt im damaligen Französisch-Guinea eine Forschungseinrichtung, die sich auf Menschenaffen spezialisiert hatte. Iwanow erhielt die Erlaubnis, seine Forschung dort durchzuführen, und warb die finanziellen Mittel für die Reise im eigenen Land ein. Auch das menschliche Sperma organisierte Iwanow selbst. „Es wurde von einem Mann gewonnen, dessen Alter nicht genau bekannt ist. Auf jeden Fall nicht älter als 30“, schrieb er in sein Notizbuch, aus dem sich der Ablauf des Experiments rekonstruieren lässt. Spermien in die Vagina eines Schimpansenweibchens zu bekommen, erwies sich als schwierig: Schimpansen sind kräftiger als Menschen und schlagen um sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Am 28. Februar 1927 im botanischen Garten von Conakry, einer Stadt im westafrikanischen Guinea, wollte er es mit der Unterstützung der russischen Akademie der Wissenschaften, des US-amerikanischen Vereins für den Fortschritt des Atheismus und des Instituts Pasteur dennoch wissen.

Kreuzungsskizze 1927. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/8f65354e-0001-0004-0000-000001342793_w920_r1.6597510373443984_fpx39.67_fpy49.94.jpg

Wenn die örtliche Bevölkerung vom Experiment erfahre, könne das „sehr unerfreuliche Folgen“ haben, notierte er. Nur sein 22-jähriger Sohn stand ihm zur Seite, er hieß ebenfalls Ilja. Einmal sollte ihn ein Schimpanse so heftig prügeln, dass er ins Krankenhaus musste. Irgendwie schafften die Iwanows es offenbar, die Katheter mit den Spermien einzuführen. Nun mussten sie warten. Vermutlich war ihnen die politische Sprengkraft ihres Experiments bewusst. Ein Affenmenschenbaby würde die Lehre der Bibel widerlegen, dass dem Menschen eine Sonderstellung in der göttlichen Schöpfung zustehe. So hoffte ein Sowjetfunktionär, das Experiment könne Argumente im Kampf gegen die christliche Schöpfungslehre liefern, ja die Arbeiterklasse von der „Macht der Kirche befreien“ – knapp zehn Jahre nach der Oktoberrevolution waren in der Sowjetunion viele Arbeiter und Bauern religiös. Außerdem wäre das Affenmenschenbaby nicht nur der letzte Beweis für Charles Darwins Evolutionstheorie, sondern zugleich ein Prestigeerfolg für die Wissenschaft der Sowjetunion in Konkurrenz zu den Kollegen im Westen.

Das Experiment schlug fehl: Nach wenigen Wochen musste Iwanow einsehen, dass die Schimpansenweibchen nicht trächtig waren – er weiß noch nicht, dass diese Kreuzung durch die unterschiedliche Chromosomenanzahl von Menschen und Affen genetisch unmöglich ist. Er gab jedoch nicht auf und versuchte, das Experiment erneut zu spiegeln: mit menschlichen Frauen und Affensperma. Er fragte den Gouverneur von Guinea – damals Teil einer französischen Kolonie -, ob er in den örtlichen Krankenhäusern heimlich Versuche an Einwohnerinnen durchführen dürfe. Der Franzose lehnte ab. Iwanow nahm einige Affen mit zurück in die Sowjetunion, vielleicht mit dem Plan, seine Experimente mit fortschrittsbejahenden Sowjetbürgerinnen fortzusetzen. Die meisten Primaten starben jedoch bei der Überfahrt. So scheiterte ein renommierter Biologe mit einem ethisch fragwürdigen Experiment.

Wissenschaftler ohne Gewissen?

An dieser Stelle könnte die Geschichte von Iwanow und seinen Affenmenschen schon enden. Denn 1930 fiel Iwanow einer Säuberungswelle zum Opfer und wurde wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ nach Kasachstan verbannt. Mit seinen Experimenten hatte das wohl nichts zu tun: Unter Stalins Herrschaft verhaftete die Geheimpolizei den Großteil der Eliten – oft völlig grundlos. Zwei Jahre später, am 20. März 1932, starb er in Alma-Ata. Er galt als Wissenschaftler ohne Gewissen, seine Arbeit als Verirrung – zwar zu Unrecht, wie Spezialisten auf dem Gebiet der Fruchtbarkeitsforschung wissen. Doch interpretiert wird er als Monster.

Forschungszentrum Sochumi 1959. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/25913db5-0001-0004-0000-000001342806_w920_r0.66650390625_fpx49.97_fpy33.31.jpg

Denn das Experiment sollte der Ausgangspunkt für eine wilde Verschwörungstheorie werden: Im Auftrag von Sowjetdiktator Stalin habe er Affenmenschen als Arbeiter oder Krieger gezüchtet und dazu ein geheimes Labor an der Schwarzmeerküste betrieben: Iwanow, der „Rote Frankenstein“. Stalin hatte viel davon gesprochen, die Gesellschaft und jeden einzelnen Einwohner umzubauen, umzugraben, umzukrempeln. Waren Iwanows Kreuzungen Teil von Stalins Plan zur Schaffung des „neuen Menschen“? Tatsache ist, dass Iwanow den Segen von Nikolai Petrowitsch Gorbunow hatte, damals Ranghöchster an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Tatsache ist auch, dass er am grundsätzlichen Gelingen des Experiments festhielt. Ob er aber seine Forschung in die sowjetische Stadt Sochumi am Schwarzen Meer verlagerte, wird bis heute bestritten.

Als gesichert gilt, dass Iwanow eine Gruppe Affen nach Sochumi brachte, Weibchen und Männchen. Danach verschwimmt sein Treiben wieder im Nebel der Geschichte. Ließ er tatsächlich menschliche Eierstöcke in ein Weibchen transplantieren? Und stimmt es, dass er vergeblich versuchte, es künstlich zu befruchten? Bis heute sind die Antworten unklar. Dies gilt auch für den nächsten Schritt: die künstliche Befruchtung von Frauen mit Affensperma. Historische Dokumente belegen anscheinend, dass Iwanow öffentlich nach Freiwilligen suchte. Laut historischen Aufzeichnungen meldeten sich daraufhin tatsächlich fünf Frauen, und von diesen „Heldinnen des Vaterlandes“ wurden sogar Fotos verbreitet.

In Sochumi lernten die Wissenschaftler bald, die Affen im Schwarzmeerklima und in Gefangenschaft am Leben zu halten. Sie testeten an den Primaten Antibiotika sowie Impfstoffe gegen Tetanus und Diphtherie. Gemeinsam mit ihren Kollegen vom Raumfahrtprogramm erforschten sie, wie Primaten Schwerelosigkeit verkraften. Iwanow arbeitete dort allerdings nie. Bei seinem einzigen Besuch im Sommer 1928 waren nicht einmal Primaten vor Ort. Ein weiteres Fragezeichen. Doch noch immer tuschelten die Einwohner der Sowjetunion über Stalins Geheimlabor.

J. Parnov. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/25913db5-0001-0004-0000-000001342806_w920_r0.66650390625_fpx49.97_fpy33.31.jpg

Als 1989 die Sowjetunion zusammenbrach und sich ehemals geheime Archive öffneten, wühlte sich der Science-Fiction-Autor Jeremei Parnow durch die Akten und fand angeblich belastendes Material. „Ein Blick in die geheimen Dokumente würde selbst die Herzen der härtesten Kerle in Angst versetzen“, schrieb er in einem Text, der in einer russischen Zeitschrift namens Medizinische Mysterien erschien. Er galt rasch als Experte für das Sochumi-Institut und raunte in Fernsehsendungen über das geheime Forschungsprogramm, dessen Ziel darin bestehe, „dumme, gehorsame Sklaven hervorzubringen, die schwere Arbeit verrichten.“ Die angeblich erstrebte Kreatur nannte er „Yahoo Sovieticus“, in Anspielung auf Jonathan Swifts Romanklassiker „Gullivers Reisen“, in dem „Yahoos“, menschenähnliche Wesen, die Sklaven von pferdeähnlichen Wesen sind.

Vermutlich setzte Parnow auch das Gerücht in die Welt, dass Stalin höchstpersönlich in einem Brief ans Politbüro Affenmenschenkrieger bestellt habe. Das russische Staatsfernsehen drehte die Dokumentation „Roter Frankenstein“, die auf einem gleichnamigen Buch des Journalisten Oleg Schischkin basiert. Die Doku kam zu dem Schluss, dass Iwanow keine Affenmenschen gezüchtet hatte. Und doch machte sie die Verschwörungstheorie eher bekannt, als sie einzudämmen. Die meisten Biologen bezweifelten zwar, dass Affen und Menschen überhaupt überlebensfähige Nachkommen zeugen können – über Versuche nach Iwanows Experiment in Afrika ist nichts bekannt. Aber den Boulevardblättern aus den USA, Großbritannien, Italien und Deutschland war das egal. Aus Iwanows Notizen, den Briefen der freiwilligen Probandinnen und Parnows Science-Fiction schufen sie steile Schlagzeilen. Bild etwa titelte: „Irrer Geheimplan enthüllt: Stalin züchtete Affen-Menschen für den Krieg“. So wurde Ilja Iwanow Jahrzehnte nach seinem Tod noch einmal weltberühmt. Nicht wegen seiner zweifellos vorhandenen Verdienste für die Biologie, sondern als Stalins „roter Frankenstein“.

Doch inzwischen ist klar, dass sich derartige Experimente meist nicht nur einem dubiosen Wissenschaftler, einem zweifelhaften Regime zuschreiben und in der fernen Vergangenheit verorten lassen. Bereits 1717 riet Jean Zimmermann in Paris zur Produktion einer Arbeiterschaft ein „leichtes Mädchen“ von einem Orang-Utan bzw. ein Menschenaffenweibchen von Männern schwängern zu lassen. 1889 schlug der Rassismustheoretiker Georges Vacher de Lapouge in Montpellier vor, durch solche Kreuzungen „gelehrige Arbeiter – Halbmenschen – herzustellen“. Er hielt dies für möglich, denn „der Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen ist geringer als z. B. der zwischen Makaken und Langschwanzaffen. Und diese Affen aus unterschiedlichen Familien haben schon mehrfach erfolgreiche Kreuzungen hervorgebracht.“

Lapouge. Quelle: https://atlantisforschung.de/images/Vacher-de-lapouge.jpg

Der niederländische Autor und Historiker Piet de Rooy schildert 2015 in seinem Buch „De Nederlandse Darwin“ die Geschichte von Herman Marie Bernelot Moens (1875 – 1938). Der Anthropologe und Biologielehrer hatte in Deutschland studiert und war den Theorien von Ernst Haeckel zugetan, einem renommierten deutschen Zoologen, der zu Zeiten Bismarcks für den Darwinismus und gegen den Kreationismus der Kirche kämpfte. Laut dem „Biografisch Woordenboek van Nederland“ wollte Moens Anfang des 20. Jahrhunderts einen gemeinsamen Nachkommen von Mensch und Affe schaffen, und Haeckel hielt einen Erfolg angeblich für möglich. Moens wollte damit der Evolutionstheorie handfeste Argumente liefern und warb öffentlich für sein Anliegen, erntete aber viel Empörung. In dieser Phase blieb sein Vorhaben 1908 anscheinend stecken.

„halb Mensch, halb Schimpanse“

Einen anderen Weg in dieselbe Richtung nahm ab 1930 Wladimir Petrowitsch Demichow. Der geniale russische Chirurg und Pionier der Transplantationschirurgie führte unter anderem die erste Herztransplantation bei einem Warmblüter, die erste Lungentransplantation und die erste Herz-Lungen-Transplantation in der Geschichte der Chirurgie durch. In der Öffentlichkeit wurde er vor allem durch Operationen bekannt, bei denen er Köpfe und Vorderkörper von und an Hunden verpflanzte. Seine Versuche wurden in der Sowjetunion als „Sputnik der Chirurgie“ bezeichnet. Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard, der 1967 die erste erfolgreiche Herztransplantation bei einem Menschen durchführte, hat 1960 und 1963 Demichows Labor besucht und betrachtete ihn als seinen Lehrer.

Demichow mit einer seiner Kreaturen. http://www.rebirths.de/439403133

Der Science-Fiction-Autor Gert Prokop kreierte in der DDR der 70er Jahre den Begriff „Demichont“: einem todgeweihten Senior, der damit den Erbschleichereien verhasster Angehöriger ein Schnippchen schlagen will, wird der Oberkörper eines gesunden jungen Mannes transplantiert. Überhaupt erfreuten sich Gedankenspiele zur menschlichen Optimierung in der Science Fiction des Ostblocks großer Beliebtheit. Als namhaftester Ahne in dieser literarischen Tradition muss Alexander Beljajew gelten, der zu Lebzeiten Iwanows „Der Kopf des Prof. Dowell“ (1925) und „Der Amphibienmensch“ (1928) schrieb. In letzterem implantiert ein Chirurg seinem Sohn Kiemen, da der an einer unheilbaren Lungenkrankheit litt. So kann er nun an Land und im Ozean leben.

Unklar ist bis heute die Rolle von Erich Traub (1906 – 1985), einem deutschen Veterinärmediziner, der ab 1942 Laborchef in einem NS-Geheimlabor auf der Ostseeinsel Riems war und dessen Forschungen für die biologische Kriegsführung von Bedeutung waren. Er arbeitete von 1949 bis 1955 in Fort Detrick, wo die US-Army ihr Hauptquartier für biologische Kriegsführung hatte, sowie auf Plum Island, wo er mit mehr als 40 tödlichen Keimen arbeitete. Unter anderem wird seinen Aktivitäten auf Plum Island die Verbreitung der Lyme-Borreliose angelastet, er soll aber auch an der Züchtung von Mensch-Schwein-Hybriden im geheimen Labor der Insel beteiligt gewesen sein.

Filmcover „Amphibienmensch“. Quelle: https://www.videobuster.de/dvd-bluray-verleih/131341/der-amphibienmensch#bilder-offen&bilder

2018 offenbarte der Evolutionspsychologe Gordon Gallup von der New York State University, er wisse von einem „Affenmenschen“, der in den 1920er Jahren im Primatenforschungszentrum Orange Park in Florida geboren wurde: „Sie befruchteten ein Schimpansenweibchen mit menschlichem Sperma und behaupteten, die vollendete Schwangerschaft habe zu einer Geburt geführt“, wird der Forscher zitiert. Nach ein paar Tagen oder Wochen, so heißt es weiter, hätten sie das Neugeborene wegen moralischer und ethischer Bedenken getötet. Auch für den Evolutionsbiologen David P. Barash, Professor für Psychologie an der University of Washington, soll der Mensch der Zukunft halb Mensch, halb Schimpanse sein: „Die Schaffung eines Affenmenschen mittels Genmanipulation ist nicht nur denkbar, sondern könnte eine hervorragende Idee sein. Der Mensch wäre so gezwungen zu erkennen, dass er sich im Grunde nicht von Tieren unterscheidet. Das könnte helfen, dem grotesken Missbrauch von anderen Lebewesen auf der Erde ein Ende zu setzen.“ Mit anderen Worten: Zu einem der umstrittensten wissenschaftlichen Szenarien ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.

Die Skulptur, die Gottfried Schadow von ihr und ihrer Schwester Friederike anlässlich ihrer preußischen Doppelhochzeit am Weihnachtsabend 1793 schuf, habe so viel Erotik ausgestrahlt, dass sie ihr Mann lange vor der Öffentlichkeit versteckte. In Filmen wurde sie von Hansi Arnstädt, Henny Porten oder Ruth Leuwerik gespielt. Wie viele Straßen, Plätze, Parks, Schiffe und Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Apotheken oder Bäder ihren Namen tragen, ist fast unüberschaubar und daher strittig. Allein bis zum 1. Weltkrieg erschienen 391 Texte der Trivialliteratur, die ihr Leben würdigten, selbst heute noch existieren Webseiten zu ihrem Gedenken – Königin Luise von Preußen, die am 19. Juli vor 210 Jahren starb.

„Sie wär’ in Hütten Königin der Herzen / Sie ist der Anmut Göttin auf dem Thron“ dichtet August Wilhelm Schlegel und beweist damit, dass lange vor Lady Diana das geflügelte Wort verbreitet war – für die nach Friedrich dem Großen meistpopuläre Persönlichkeit Preußens. Ihr früher Tod sorgte dafür, dass sie in der Vorstellung auch nachfolgender Generationen als jung und schön in Erinnerung blieb, doch schon zu Lebzeiten erfuhr sie eine fast kultische Verehrung: als bürgerliche Frau, liebevolle Mutter und preußische Patriotin, die sich dem Vaterland geopfert hat, als sie dem legendären Treffen mit Napoleon zustimmte.

Geboren am 10. März 1776 in Hannover als vorletztes Kind von Herzog Karl zu Mecklenburg und Prinzessin Friederike von Hessen-Darmstadt, verlor sie bereits als Sechsjährige ihre Mutter und wurde mit zwei Schwestern 1786 ihrer Großmutter in Darmstadt zur weiteren Erziehung anvertraut. Mit Kosenamen wie „Jungfer Husch“ bedacht, war sie lange kindlich unbefangen, verspielt und bestach durch eine unbekümmerte Frische: Sie sagte, was sie dachte, war unpünktlich und naschte gern und viel – heute würde man sie sicher eine „wilde Hummel“ nennen. Im Unterricht galt sie als lebhaft, vorlaut und aufsässig, zeigte wenig Motivation und, bis auf den Religionsunterricht, eher mangelhafte Leistungen.

Königin Luise. Quelle: Von Josef Mathias Grassi – Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64422861

Zeit ihres Lebens konnte sie weder auf Deutsch noch Französisch fehlerfrei schreiben. Ihr Interesse an geistiger Bildung erwachte erst später, sie beeindruckte durch natürliche Intelligenz. In einem Brief an Heinrich von Kleists Cousine Marie schrieb sie: „Möge Gott mich davor bewahren, meinen Geist zu pflegen und mein Herz zu vernachlässigen“; sie würde eher „alle Bücher in die Havel werfen“, als den Verstand über das Gefühl zu stellen. Sie reiste viel und nächtigte 1792, anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten für Franz II., den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, bei Goethes Mutter. Den Festball in der Botschaft Österreichs eröffnete Luise gemeinsam mit dem jungen Klemens von Metternich – zugleich ihre Einführung in die Gesellschaft.

„Ikone einer neuen Bürgerlichkeit“

Monate später wurde sie mit ihrer jüngeren Schwester dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. vorgestellt, der prompt schrieb: „Ich wünschte sehr, dass meine Söhne sie sehen möchten und sich in sie verlieben“. Der Wunsch wurde wahr. Zum ersten Mal traf Luise den 22-jährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm am 14. März 1793, schon am 19. März machte er seinen persönlichen Heiratsantrag. Es war Liebe auf den ersten Blick. Luises Schwester Friederike verlobte sich unterdessen mit Prinz Louis, der nach unglücklicher Ehe bereits drei Jahre später an Diphterie starb.

Ganz anders Luise: noch in der Hochzeitsnacht bot sie ihrem Gemahl das „Du“ an, beide galten als immer verliebtes Traumpaar. Das war für den Hof in Preußen derart ungewöhnlich, dass es als Zeichen einer neuen Zeit gedeutet wird. Und nicht nur das: Luise mischt das nüchterne Berlin auf. „Sie bringt aus Darmstadt süddeutsches Temperament mit; setzt durch, dass zu ihrer Hochzeit der bei Hofe verpönte Walzer getanzt wird, umarmt als Braut ein Bürgermädchen am Wegesrand und treibt die Oberhofmeisterin Sophie Marie Gräfin von Voß, die ihr beibringen soll, wie man sich als preußische Prinzessin zu verhalten hat, zuverlässig an den Rand der Verzweiflung“, ergötzt sich Judith Scholter in der Zeit.

Das Königspaar im Berliner Schloßgarten. Quelle: https://img.zeit.de/reisen/2010-03/wilhelm-luise/wilhelm-luise-540×304.jpg/imagegroup/wide__820x461__desktop

1797, da Kronprinz Friedrich Wilhelm nach dem Tod seines Vaters zu König Friedrich Wilhelm III. wurde, begleitet sie ihren Gatten auf seiner Antrittsreise zu den preußischen Ständen, „um ohne Zwang die Liebe der Untertanen durch […] zuvorkommendes Wesen […] zu gewinnen und zu verdienen, und so, glaube ich, werde ich mit Nutzen reisen“. Ein Sekretär der britischen Gesandtschaft schrieb seinen Schwestern: „In der Berliner Gesellschaft, besonders unter den jüngeren Leuten, herrscht ein Gefühl ritterlicher Ergebenheit gegen die Königin […] Wenige Frauen sind mit so viel Lieblichkeit begabt als sie.“ Spaziergänge ohne Gefolge Unter den Linden oder Besuche von Volksbelustigungen wie dem Berliner Weihnachtsmarkt und dem Stralauer Fischzug wurden von der Bevölkerung beifällig zur Kenntnis genommen.

Dabei hatten es die Eheleute schwer, übernahmen sie doch einen heruntergewirtschafteten Staat. Friedrich Wilhelm III. möchte im Stile Friedrichs des Großen regieren und setzte sich zum Ziel, den Schuldenberg abzutragen. Aus lauter Sparsamkeit blieb er mit seiner Familie im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin wohnen. Luise erhielt nicht den sonst üblichen eigenen Wohnsitz und musste mit einem Etat von 1000 Talern monatlich auskommen. Modisch ehrgeizig, machte sie bald Schulden. Im kleinen Dorf Paretz wurde ein ländliches Schlösschen gebaut, das von Freunden „Schloss Still-im-Land“ genannt wurde, eine ländliche Einsiedelei, in der sich die königliche Familie gern aufhielt, ein bürgerliches Leben führte und sich erholte. Dabei galt der Thronfolger als schüchtern in der Öffentlichkeit, sprachlich wenig ausdrucksfähig und nicht als Freund schneller Entscheidungen. Er soll äußerst unschlüssig gewesen sein und galt zudem als kaum vorbereitet, ein problembeladenes Königreich in schwierigen Zeiten zu regieren. Luise ist 21 Jahre alt, als sie Königin wird.

Luise mit Gemahl auf einem Berliner Weihnachtsmarkt. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098329/7041624497-ci23x11-w1136/luise-markt-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

„Luise war die Ikone einer neuen Bürgerlichkeit. Damals war es etwas Revolutionäres, heute ist es der Versuch, in einem Haufen Asche noch einen Krümel Glut zu finden“, befand Eckard Fuhr in der Welt. Der König, der die mündliche Konversation gern auf militärische Formeln verknappte, schrieb seiner Frau poetisch-zärtliche Briefe; beide waren sich treu. Aus dem Hof verschwanden die Schwärme der Mätressen, neue Empfindsamkeit hielt Einzug. Das befriedigende Eheleben führte zu fast ständigen Schwangerschaften und insgesamt zehn Kindern, von denen sieben erwachsen wurden. Prinz Friedrich Wilhelm IV., der älteste, folgte seinem Vater als preußischer König nach. Prinz Wilhelm I., der Zweitgeborene, wurde 1861 preußischer König und ab 1871 der erste Kaiser des Deutschen Kaiserreiches. Die älteste Tochter, Prinzessin Charlotte von Preußen, bestieg als Alexandra Fjodorowna den russischen Zarenthron.

„über unsere Mittel getäuscht“

Für die Dichter, Maler und Bildhauer ist die Familie ein Fest: „Alle Herzen flogen ihr entgegen, und ihre Anmut und Herzensgüte ließen keinen unbeglückt“, schrieb Friedrich de la Motte Fouquè über Königin Luise. Besonders tat sich Novalis hervor mit seinem programmatischen Aufsatz „Glaube und Liebe oder Der König und die Königin“ vom Sommer 1798, dem er eine Reihe überschwänglicher Gedichte an das Königspaar vorangestellt hatte. Friedrich Wilhelm III. lehnte den Text ab, eine Monarchie auf parlamentarischer Grundlage entsprach nicht seinen Vorstellungen. Dennoch blieben Luise und er Hoffnungsträger für die Wunschvorstellungen der Bürger Preußens nach einem Volkskönigtum, in dem die Ideale der Französischen Revolution nach der Überwindung von Standesschranken ohne Terror und Blut Wirklichkeit würden. Zwischen 1798 und 1805 unternahm das Paar mehrere sogenannte Huldigungsreisen zwischen Pommern und Franken und bestieg 1800 die Schneekoppe in Schlesien.

Luise bei Napoleon. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098447/7731626587-ci23x11-w1136/luise-1807-napoleon-1-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

1795 hatte der alte König noch den Friedensschluss von Basel ausgehandelt, der für ein Ende der Allianz Preußens mit den anderen Staaten im Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich bedeutete. Die linksrheinischen Landesteile gingen verloren, das nördliche Deutschland wurde für neutral erklärt. Preußen kann sich so einige Jahre aus dem Krieg heraushalten. 1802 und 1805 kommt es zu Treffen zwischen Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise mit Zar Alexander I. von Russland, den Luise sehr sympathisch findet. Nach der Dreikaiserschlacht 1805 bei Austerlitz, da Napoleon gegen die Russen und Österreicher gewinnt, sind Preußens stille Jahre Geschichte. Die Neutralität endete spätestens, als im Juli 1806 in Paris der Vertrag über den Rheinbund geschlossen wird und Napoleon seinen Einflussbereich im deutschen Gebiet erhöht. Da Friedrich Wilhelm III. wieder zögert, dauert es, bis Preußen Frankreich am 9. Oktober den Krieg erklärt – wohl auch auf Druck von Königin Luise hin: „Ich habe Könige geboren, ich muss königlich denken: die Ehre der Nation fordert Krieg.“

Nur fünf Tage später erlitten die schlecht geführten, getrennt kämpfenden preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt vernichtende Niederlagen, die Reservearmee wurde bei Halle geschlagen, fast alle befestigten Städte ergaben sich kampflos. Keine 20 Tage später zog Napoleon als Sieger in Berlin ein und schmähte Luise noch in seinen Bulletins. Die traurige, tiefverletzte Königin muss mit ihren Kindern in mehreren Wochen unter abenteuerlichen Umständen bei widrigem Winterwetter über Küstrin und Königsberg bis ins abgelegene Memel fliehen und übersteht dabei einen Typhus. Die nächste Demütigung bereitet ihr der geschätzte Zar, der nach der verlorenen Schlacht bei Friedland einen Separatfrieden mit Napoleon aushandelte. Da Preußen drohte, völlig untergebuttert zu werden, schlug Graf Kalckreuth dem König vor, „dass es von guter Wirkung sein würde, wenn Ihre Majestät die Königin hier sein könnten, und zwar je eher, je lieber“. Der König übermittelte den Wunsch, sie sagt zu, „wie eine Bittstellerin vor den Gebieter der Welt [zu] treten, ohne von ihm eingeladen worden zu sein“, meint Gertrude Aretz.

Das denkwürdige, rund einstündige Treffen fand am 6. Juli 1807 in Tilsit statt. Karl August von Hardenberg hatte ihr geraten, liebenswürdig zu sein, vor allem als Ehefrau und Mutter zu sprechen und keinesfalls ein betont politisches Gespräch zu führen. Der Zar sprach ihr beruhigend zu und sagte: „Nehmen Sie es auf sich und retten Sie den Staat!“ Als Napoleon eintraf, schien er „zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben die Situation nicht zu beherrschen“, schreibt Aretz. Er selbst teilt seiner Josephine nach Paris brieflich mit: „Die Königin von Preußen ist wirklich bezaubernd, sie ist voller Koketterie zu mir. … Ich musste mich tüchtig wehren, da sie mich zwingen wollte, ihrem Mann noch einige Zugeständnisse zu machen. Aber ich war nur höflich und habe mich an meine Politik gehalten. Sie ist sehr reizvoll… Der König von Preussen ist zur rechten Zeit dazugekommen, denn eine Viertelstunde später hätte ich der Königin alles versprochen.“ Während der Unterredung gab sie auf Napoleons Frage, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, die oft zitierte Antwort: „Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.“

Luises Tod. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098515/6381626587-ci23x11-w1136/luise-sterbelager-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

In einem ebenso bedrückenden wie politisch wachen Brief an ihren Vater vertiefte sie 1808 diesen Gedanken: „Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns.“ Konkret erreicht sie nur, dass Napoleon seine Sticheleien gegen sie beendet, politisch erfolgreich war sie nicht. Zwar blieb Preußen als Staat erhalten, da sich wohl auch Zar Alexander dafür eingesetzt hatte, um eine Art Puffer zwischen sich und den Franzosen zu haben. Aber im Frieden von Tilsit vom 9. Juli 1807 verlor Preußen rund die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung – alle Gebiete westlich der Elbe und die polnischen Besitzungen. Hinzu kamen die Versorgung des französischen Besatzungsheeres und Zahlungsverpflichtungen von 400 Millionen Talern. „So arm war der König, dass er und Luise sich von manchem wertvollen Familienstück, von manchem Schmuckgegenstand trennen mussten. Das goldene Tafelservice Friedrichs des Grossen fiel in jenen Tagen der Entbehrung der Münze zum Opfer“, weiß Aretz.

„Meine Gesundheit ist völlig zerstört“

Die nächsten Jahre verbringt das Paar in Königsberg. Luise bildet sich, liest viel, versammelte Künstler und Gelehrte und hat immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen: „Das Klima Preußens ist … abscheulicher, als es sich ausdrücken lässt. … Meine Gesundheit ist völlig zerstört“, klagt sie in einem Brief an den Bruder. Einziger Lichtblick war eine Reise von acht Wochen im Winter 1808/09 an den Zarenhof nach Sankt Petersburg. Über ihre Einflussnahme auf die von Hardenberg und von Stein angestoßenen preußischen Reformen (Oktoberedikt 1807, Städteordnung 1808) sind die Historiker uneins: sie waltete wohl als wichtigste Beraterin ihres Mannes, obwohl der ihren Einfluss nicht wahrhaben wollte und ihn ständig herunterspielte, und setzte sich für den von ihr geschätzten Hardenberg ein, doch galt sie als politisch eher unbeteiligt.

Erst zum 23. Dezember 1809 erlaubt Napoleon ihre Rückkunft nach Berlin. Sie wird in der festlich illuminierten Stadt triumphal empfangen. Im Sommer war ein Treffen mit ihrem Vater und ihrer Großmutter geplant, das dann ab 25. Juni auf Schloss Hohenzieritz bei Neustrelitz stattfand. Bei der fiebrigen Luise wird eine Lungenentzündung diagnostiziert, von der sie sich nicht mehr erholte. Ihr Mann und die beiden ältesten Söhne waren im Tod bei ihr. Bei der Obduktion fand sich neben einem völlig zerstörten Lungenflügel auch eine Geschwulst im Herzen, „eine Folge zu großen und anhaltenden Kummers“ notiert Gräfin Voß die Aussage der Ärzte in ihrem Tagebuch. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der Leichnam nach Berlin überführt, drei Tage im Berliner Stadtschloss aufgebahrt, am 30. Juli im Berliner Dom beigesetzt und am 23. Dezember 1810 – genau 17 Jahre, nachdem die damals 17-jährige nach Berlin gekommen war – zu ihrer letzten Ruhestätte überführt: einem Mausoleum, das inzwischen von Heinrich Gentz unter Mitarbeit von Karl Friedrich Schinkel im Park des Schlosses Charlottenburg gebaut worden war und bald zu einem Wallfahrtsort werden sollte, der erst 1947 mit der Auflösung Preußens durch die Alliierten an Anziehungskraft verlor.

Luises Mausoleum. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098546/9561628677-ci23x11-w1136/luise-mausoleum-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

Nach ihrem frühen Tod wurde sie als Verkörperung weiblicher Tugenden und Vaterlandsliebe geradezu mystifiziert. „Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache / Luise sei das Losungswort zur Rache!“ dichtet Theodor Körner schon 1813. Der König, seit ihrem Tod ein untröstlicher, gebrochener Mann, stiftet im selben Jahr das Eiserne Kreuz als Tapferkeits-Auszeichnung und datiert diesen Akt auf den 10. März zurück, den Geburtstag seiner Frau. Wer immer nun für Preußen kämpft, tut dies im Namen Luises. „Luise, du bist gerächt“, soll Marschall Blücher auf dem Montmartre gesagt haben, als er 1814 in Paris einzieht. Preußens Kriegserklärung gegen Frankreich erfolgt am 19. Juli 1870, also genau am 60. Jahrestag ihres Todes. Als König kniete Wilhelm I., bevor er in den Krieg zog, am Sarkophag seiner Mutter nieder; als Kaiser suchte er bei seiner Rückkehr am 17. März 1871 wiederum ihr Grab auf. Nach diesen symbolbeladenen historischen Vorgängen gehörten Luises Leben und Wirken als „Preußische Madonna“ zu den unverzichtbaren und systematisch verbreiteten Gründungsmythen des Kaiserreichs, in der öffentlichen Darstellung führte eine direkte Linie von ihrem sogenannten Opfertod zum Sieg über Napoleon und zur Reichsgründung.

Auf Anordnung der Schulbehörde fiel an ihrem 100. Geburtstag an allen Mädchenschulen der Unterricht aus. Als Leitbild wurde sie in der Weimarer Republik von politischen Gruppierungen wie der Deutschnationalen Volkspartei in Anspruch genommen, später aber nochmal nicht mehr bei der Werbung für den staatlich angestrebten Kinderreichtum: Das tradierte Bild der passiv leidenden Frau passte nicht in das ideologische Konzept von männlicher Kraft und Härte. Nach 1945 verloren links und rechts der Elbe sowohl der „Erbfeind“-Bezug als auch das Frauenideal – die Personalunion von treusorgender Ehefrau, vielfacher Mutter und unerschütterlich dem Vaterland dienender Dulderin – an Aktualität und Anziehungskraft. Auf einer Königin-Luise-Route kann man seit 2010 zehn Stationen ihres Lebens zwischen Hohenzieritz im Norden und Paretz im Süden besichtigen. Eine vor allem emotional interessante Figur der deutschen Geschichte bleibt sie allemal.

« Neuere Artikel - Ältere Artikel »