Sein bekanntestes Bauwerk ist das Looshaus am Wiener Michaelerplatz für
das Bekleidungsunternehmen Goldman & Salatsch, das 1910 zu einer auch im
Ausland viel beachteten öffentlichen Auseinandersetzung über die ornamentlose
Fassade führte. Es steht gegenüber der Hofburg und wird aufgrund seiner fehlenden
Fenstergesimse auch „Haus ohne Augenbrauen“ genannt. „Das Haus hat allen zu
gefallen. Zum Unterschiede zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. … Das
Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der
Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus
konservativ.“ heißt es dazu etwa in seinem 1910 veröffentlichten Essay „Architektur“.
Kaiser Franz Joseph gefiel es schon mal nicht – angeblich weigerte er sich den
Rest seines Lebens, von der Hofburg zum Michaelerplatz zu sehen, und ließ alle Fenster seines Palastes in diese Richtung zunageln.
Sein bekanntester Text ist das Manifest „Ornament und Verbrechen“ (1908), in dem er in durchgängiger Kleinschreibung argumentiert, dass Funktionalität ein Zeichen hoher Kulturentwicklung sei und der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit: „gewiss, die kultivierten erzeugnisse unserer zeit haben mit kunst keinen zusammenhang. die barbarischen zeiten, in denen kunstwerke mit gebrauchsgegenständen verquickt wurden, sind endgültig vorbei … ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit … heute bedeutet es auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital … der moderne mensch, der mensch mit den modernen nerven, braucht das ornament nicht, er verabscheut es.“
Loos ca. 1911. Quelle: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/images/7/76/Adolfloos.jpg
Aus diesem Grund hasst er auch Tätowierungen: „der moderne mensch, der
sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. es gibt gefängnisse,
in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. die
tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte
aristokraten. wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige
jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.“ Sein Rationalismus war
manchmal schneidend einseitig: „Alles, was einem Zweck dient, ist aus dem
Reiche der Kunst auszuschließen!“ Der solche starken Worte nutzte, hatte
niemals Spiel-, Trink- oder Wettschulden, wohl aber Schulden beim Schneider:
Adolf Loos. Der Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist wurde am 10.
Dezember 1870 in Brünn geboren.
Kritiker
der angewandten Kunst
Von seinem Vater, einem Bildhauer, erbte er nicht nur seine künstlerische
Begabung, sondern auch seine Schwerhörigkeit. Nach seinem frühen Tod führte die
Mutter den Steinmetz-Betrieb in der Friedhofgasse in Brünn weiter. Ab 1880
wechselte Adolf Loos mit schlechten Sittennoten von Gymnasium zu Gymnasium. Am
Stiftsgymnasium Melk etwa blieb er nur ein Jahr – aufgrund schlechtester Noten
in Zeichnen und Betragen weigerte man sich dort, ihn erneut aufzunehmen. 1889 schloss
er die k.k. deutsche Staatsgewerbeschule in Brünn mit der Matura ab und
studierte nach einem Intermezzo an der Akademie für angewandte Kunst Wien, vom
Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger unterbrochen, bis 1893 an der
Hochbauabteilung der Technischen Hochschule in Dresden. Während seines Studiums
wurde er 1891 Mitglied der Burschenschaft Cheruscia Dresden, aus der er 1892
jedoch wieder austrat.
Nur mit einem Schiffsbillet und 50 Dollar in der Tasche reiste Loos 1893 in die USA, wo ein Bruder seines Vaters lebte. Bis 1896 schlug er sich mit verschiedenen, vorwiegend handwerklichen Berufen durch, als Hilfsarbeiter, Tellerwäscher, Musikkritiker und erst im letzten Jahr als Möbelzeichner und Architekt. Die „organische Architektur“ von Frank Lloyd Wright inspirierte ihn. Nach seiner Rückkehr ließ er sich endgültig in Wien nieder und begann als Journalist und Architekt zu arbeiten. Seit 1898 publizierte der laut Le Corbusier „wohl größte Literat unter den modernen Architekten“ seine Auffassungen in diversen Zeitungen und Verlagen und gibt später sein eigenes Periodikum „Das Andere“ heraus, dessen Untertitel lautet: „Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich“.
Cafe Museum vor 2010 nach Originalplänen von Loos saniert. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Museum#/media/Datei:Cafe_Museum_innen.jpg
Parallel dazu machte er sich als Innenarchitekt einen Namen, etwa beim Café
Museum am Karlsplatz (1899), das dann wegen der Kargheit der Einrichtung von
Zeitgenossen „Café Nihilismus“ genannt wurde, oder bei der auch überregional
bekannten „American Bar“ in einer Seitengasse der Kärntner Straße, die auch als
Loos-Bar bezeichnet wird und bis heute existiert. 1902 heiratete er die
Schriftstellerin und Schauspielerin Lina Obertimpfler, von der er sich 1905
schon wieder trennte. Um sich leichter von ihr scheiden zu lassen, bemühte er
sich vergeblich, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach seiner Scheidung
verband ihn eine langjährige Beziehung mit der englischen Tänzerin Bessie
Bruce. Noch zwei Ehen werden folgen.
Loos galt von Anbeginn als energischer Gegner des Jugendstils und
scharfer Kritiker der angewandten Kunst und aller zeitgenössischen Ideen, die
Kunst in Gestalt des Kunstgewerbes mit dem Alltag zu versöhnen, also
Gebrauchsgegenstände in besonderer Weise künstlerisch zu gestalten. Er grenzte
sich damit insbesondere von den Künstlern der Wiener Werkstätte ab, die seit
1903 eine Verbindung von Alltag und Kunst umzusetzen versuchten. 1904 besuchte
er erstmals die Insel Skyros und wurde mit der kubischen Architektur der
griechischen Inselwelt konfrontiert. Als Architekt privater Villen, erstmals
bei der Villa Karma in Clarens bei Montreux, entwickelt er prompt das Konzept
des „Raumplans“, der Größe und Anordnung von der Funktion der Räume abhängig
machte, sie dazu mehrgeschossig mit unterschiedlichen Zimmerhöhen teilweise
ineinander schachtelt und äußerlich zunehmend der Kubusform annähert.
„Los von
Loos“
Ab 1909 entwirft er auch Geschäftslokale wie den Herrenmodesalon Kniže & Comp. Am Graben in Wien, der seit den 1920er Jahren als erste Herrenmodemarke der Welt galt und auch die erste Herrenduftserie „Knize Ten“ kreierte. 1910 kamen dann Wohnbauten hinzu, darunter die Wiener Siedlungen Hirschstetten und Friedensstadt, aber auch zwei Einfamilien-Doppelhäuser für die Werkbundsiedlung. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 wurde er tschechoslowakischer Staatsbürger, 1921 Chefarchitekt des Wiener Siedlungsamtes. 1922 entstand sein bekannter Wettbewerbsentwurf für das Redaktionsgebäude der Chicago Tribune: Eine „überdimensionierte dorische Säule, die in ihrer selbstreferentiellen Überhöhung die gesamte Postmoderne vorwegzunehmen scheint“, schrieb Robert Kaltenbrunner auf telepolis. 1924 trat er von seiner Stelle im Siedlungsamt zurück, lässt sich für vier Jahre in Paris nieder und pflegte dort zahlreiche Kontakte zur Künstleravantgarde. Er baute unter anderem ein Haus für Tristan Tzara, dem Mitbegründer des Dadaismus, und entwarf auch eine Villa für die Tänzerin Josephine Baker mit einer ganz in horizontalen schwarzen und weißen Streifen gehaltenen Fassade. Der Wegzug nach Frankreich hatte auch das Ende seiner privaten Bauschule mit ca. acht Schülern bedeutet, darunter Paul Engelmann, der für den Cousin Stefan Zweigs, Max, in Israel ein Haus baute.
Das „Haus ohne Augenbrauen“. Quelle: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Datei:Looshaus.jpg
Von 1918 bis 1926 war er mit der Tänzerin Elsie Altmann, von 1929 bis
1931 mit der Fotografin Claire Beck verheiratet. Der Charismatiker war, was man
heute „Salonlöwe“ nennen sollte, gehörte zur Wiener Boheme, war eng mit
Künstlern wie Arnold Schönberg und Oskar Kokoschka befreundet, aber auch mit Karl
Kraus und Peter Altenberg, für die er sogar als Taufpate fungierte. Daneben spielte
er begeistert Schach. Ende der 20er Jahre begann er sich mit dem Werkstoff Glas
auseinanderzusetzen. Ein 12-teiliges Barset mit Karaffe für die Wiener Firma J.
& L. Lobmeyr wurde 2010 noch hergestellt und verkauft. Ein Becherservice
für die American Bar in Wien, ebenfalls von J. & L. Lobmeyr geschaffen, wurde
sogar noch 2017 produziert und vertrieben. Auch diverse Beleuchtungskörper,
Kleiderständer sowie eine Kaminuhr werden von der Wiener Firma WOKA heute noch
in Handarbeit hergestellt und verkauft.
Im Spätsommer 1928 zeichnete er an fünf Tagen privat drei acht- bis zehnjährige Mädchen nackt. Aufgrund der Anzeige einer bis heute anonym gebliebenen Frau wurden Ermittlungen gegen ihn eingeleitet und in seiner Wohnung eine Sammlung von über 300 pornografischen Fotografien gefunden, deren Besitz damals allerdings nicht strafbar war. Verurteilt wurde er schon im Dezember „des Verbrechens der Verführung zur Unzucht“, begangen dadurch, dass er „die ihm zur Aufsicht anvertrauten Mädchen zur Begehung und Duldung unzüchtiger Handlungen verleitete, indem er sie veranlasste, als Modelle unzüchtige Stellungen einzunehmen und sich in diesen zeichnen zu lassen“. Die Strafe belief sich auf vier Monate Arrest, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Strafakte dazu wurde später gestohlen und tauchte erst Jahrzehnte später in Privatbesitz wieder auf. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv hat sie 2015 zurückerhalten und im Wiener Archivinformationssystem komplett veröffentlicht.
Prag-Smichov, Villa Winternitz. Quelle: https://image.kurier.at/images/cfs_932w/4282094/46-163529103.jpg
Der Skandal hielt sich in Grenzen, zumal Loos inzwischen vollständig
ertaubt war und kurz danach die Vorbereitungen zu seinem 60. Geburtstag
begannen – der vor allem in Prag gefeiert werden sollte. Hier kam es zu einer
einmaligen Allianz zwischen James Joyce, Karl Kraus, Valéry Larbaud, Heinrich
Mann und Arnold Schönberg, die einen Aufruf zur Gründung einer „Adolf-Loos-Schule“
in Wien veröffentlichten: „Adolf Loos, den einmal kommende Geschlechter den großen
Wohltäter der Menschheit seiner Zeit nennen werden, da er diese von der
Sklaverei überflüssiger Arbeit befreite, wird im Dezember 60 Jahre alt. Die
Ornamentiker, deren Überflüssigkeit und Schädlichkeit Loos sein ganzes Leben
hindurch nachgewiesen hat, wollten sich dieses unbequemen Mannes durch
Totschweigen entledigen … Ihm, dem geborenen Lehrer, wurde kein Lehramt zuteil
… Wir wissen, dass wir ihm die größte Freude bereiten würden, wieder seine
Lehre verkünden zu können.“ Angefragt waren auch Albert Einstein und Thomas
Mann, die winkten ab.
Ornamentlosigkeit
als „Schandtat“
Aus dem Unternehmen wurde nichts mehr. Der extrovertierte Gesellschaftsmensch vereinsamte, als ihn ein Nervenleiden in den Rollstuhl zwang. Loos starb am 23. August 1933 umnachtet im Sanatorium Kalksburg bei Wien. Er ruht auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Grab, dessen schlichten Grabstein er selbst entworfen hat; er steht noch heute da. Friedensreich Hundertwasser veröffentlichte 1968 eine polemische Generalabrechnung unter dem Titel „Los von Loos“, in der er ihm vorwirft, die Ornamentlosigkeit als „Schandtat in die Welt gesetzt“ zu haben. „Sicher hat er es gut gemeint. Auch Hitler hat es gut gemeint. Aber Adolf Loos war unfähig, fünfzig Jahre vorauszudenken. Der Teufel, den er rief, den wird die Welt nun nicht mehr los.“
Villa Duschnitz, 1915-1916, Blick aus dem Musikzimmer ins Speisezimmer mit Wintergarten. Quelle: https://image.architonic.com/imgTre/10_09/adolf_loos_duschnitz.jpg
„Man darf nur dann etwas Neues machen, wenn man etwas besser machen kann“, lautete ein Lebensmotto des Meisters. Die Wirkung vieler seiner Bauten ergäbe sich aus „dem Spannungsfeld zwischen der oft provozierenden Kargheit der Fassade und dem taktil-sensualistischen Reichtum des Interieurs“, befand Kaltenbrunner. Neben Straßen wurde auch ein Asteroid nach ihm benannt. Seit 1992 wird von einer Jury der von der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien gestiftete Adolf-Loos-Architekturpreis vergeben. In Tschechien gibt es mehr als 30 Gebäude und Wohnungen, an deren Gestaltung er beteiligt war. Zu seinen bekanntesten Werken gehört eine Prager Villa, die er 1930 für den Bauunternehmer František Müller bauen ließ und in der aus Anlass seines Jubiläums im Januar 2020 ein tschechisches Adolf-Loos-Jahr eröffnet wurde, an dem sich auch Museen in Pilsen und Brünn beteiligten.
Mit der „Thingbewegung“
startete das noch junge Dritte Reich ein kulturelles Großvorhaben. Der Name
knüpfte an die historische Bezeichnung nordisch-germanischer Versammlungsplätze
an, hatte damit allerdings wenig zu tun. Vielmehr ging es um ein umfassendes
Theatererlebnis in freier Natur, das unter Bezug auf ein imaginäres Germanentum
den Geist einer deutschen Volks- und Schicksalsgemeinschaft beschwor.
Aufführungsorte waren eigens dafür angelegte Theater; Bergketten, Täler und der
deutsche Wald gaben das natürliche Bühnenbild ab. Die Thing-Euphorie entfachte
eine gigantische Masseninitiative: Errichtet aus Natursteinen, entstanden in
ausgewählter Lage sogenannte Thingstätten – weltweit die größte Anzahl neu
geschaffener Freilichtbühnen seit der Antike.
400 waren vom Propagandaministerium
geplant, mit exakten Vorgaben: Ausgerichtet nach Norden und eingebettet in die
Landschaft sollten die Zuschauerränge im Halbkreis ansteigen, durchzogen von
breiten Treppen sowie Quergängen für Auf- und Abmärsche. Häufig gab es noch
einen vorgelagerten Aufmarschplatz sowie ein Ehrenmal für die Gefallenen des
Ersten Weltkriegs. Neben dem offiziellen Bauprogramm sprühten
NS-Funktionäre auf Gemeindeebene vor Eigeninitiative. Ca. 60 existieren so oder so heute noch – die Bad Segeberger
Karl-May-Bühne ist sicher die bedeutendste, die Berliner „Waldbühne“ wohl die bekannteste.
Die Geschichte der Thingbewegung beschreibt der Historiker Gerwin Strobl als Coup von vier Theaterenthusiasten, die mit den Nationalsozialisten ursprünglich nichts am Hut hatten, sondern lediglich die Gunst der Stunde nutzten, um gemeinsam einer Idee zum Durchbruch zu verhelfen, die schon aus Weimarer Tagen stammte: Alle vier wollten das Freilichtspiel als „Volkstheater“ wiederbeleben. Neben dem Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard und dem Schriftsteller Hans Brandenburg muss Wilhelm Karl Gerst als zeitgeschichtlich sicher namhaftester unter den vieren gelten. Der Architekt, Theatermacher und Begründer des Katholischen Bühnenvolksbundes war nach Kriegsende Mitbegründer der „Frankfurter Rundschau“.
Und da war noch Carl Niessen – der Theaterwissenschaftler ist Schöpfer
des Ausdrucks „Thingspiel“, das Festspiel und Kundgebung in einem sein sollte: Thingspiele
sollten hauptsächlich ein emotionales und ethisches Aufgehen des Einzelnen in
Heimat und Volksgemeinschaft erleben lassen. Die Bezeichnung „Thing“ wurde von
der Jugendbewegung übernommen; einige Jugendbünde (Pfadfinder, Quickborn und
andere) hatten Versammlungen so bezeichnet. Der Begriff wurde, obwohl nur von
1933 bis 1936 mit Leben erfüllt, später als der bedeutendste Beitrag
bezeichnet, den das 3. Reich zur Kunstform des Theaters und der Literatur
leistete und der im Vergleich der Konfigurationen zum Arbeitermassenspiel zu
einer Körpergeschichte sozialer Bewegungen einerseits, ja einem „propagandistischen
Architekturtheater“ andererseits führte.
Am 7. Dezember vor 130 Jahren kam Niessen in Köln als Sohn eines
Hotelbesitzers zur Welt.
Mitbegründer der „Rheinischen
Landesbühne“
Über seine Kindheit
und Jugend ist wenig bekannt außer dass er, wie viele begüterte Einzelkinder
jener Zeit, eher ästhetisch denn körperlich aktiv aufwuchs und in Köln das Realgymnasium
besuchte. Er studierte dann Kunst- und
Kulturgeschichte in Heidelberg, Bonn, München, Berlin und schließlich Rostock,
wo er 1913 promovierte. Im Mai 1914 gründete er eine Bühne in Oberhausen und
bespielt mit seinem Ensemble außerdem eine von ihm ins Leben gerufene
Freilichtbühne. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 endet dieses erste
Engagement, er leistet als Freiwilliger Kriegsdienst, zuletzt als Leutnant der
Reserve.
1919 erfolgte seine Habilitation für deutsche Literatur und Theatergeschichte an der Universität Köln, wo er bis 1929 als Privatdozent, bis 1938 als apl. Professor lehrte. An theaterwissenschaftlichen und -praktischen Aufgaben gleichermaßen interessiert, wirkte er in verschiedenen kulturpolitischen Gremien und zeitweise in der Theaterpraxis selbst. Während des Studiums und in den ersten Jahren seiner Privatdozententätigkeit war er an Bühnen in Köln, Wuppertal, Beuthen, Koblenz, Siegburg und Antwerpen als Schauspieler und Regisseur engagiert. Regen Anteil nahm er nach dem 1. Weltkrieg an der Schaffung von staatlich geförderten Volksbildungseinrichtungen wie Wanderbühnen: Die Gründung der „Rheinischen Landesbühne“ 1920 mit Sitz in Düren ist wesentlich auf seine Initiative zurückzuführen.
Niessen vor rheinischen Puppen in den 1920er Jahren. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Niessen#/media/Datei:NL_Niessen_300dpi_003.jpg
Mit Nachdruck setzte sich Niessen für die Erhaltung bzw.
Wiederbelebung des rheinischen Puppenspiels ein, insbesondere für die Rettung
des Kölner „Hänneschen-Theaters“. Auf zahlreichen
Auslandsreisen erwarb er wesentliche Teile seiner Bibliothek und einer Sammlung
von Bilddokumenten, Modellen, Masken, Porzellanen u. a. zur Geschichte des
Theaters, die rasch als eine der größten Privatsammlungen dieser Art galt und
internationalen Ruf erlangte. Vereinigt mit universitätseigenen Beständen,
wurde die Sammlung schon 1927 auf der „Deutschen Theaterausstellung“ in
Magdeburg gezeigt, 1932 fand eine erste Ausstellung mit Zeugnissen zur
Weltgeschichte des Theaters in eigenen Museumsräumen in Köln statt.
Seine Bekanntschaft mit Gerst, der 1931 den „Reichsausschuss
für deutsche Volksschauspiele“ organisierte und viele Theaterautoren wie Ödön
von Horvath oder Carl Zuckmayer zur Mitarbeit gewann, führte ihn dann
kurzzeitig ins Zentrum der Macht. Gerst hatte nach der Wirtschaftskrise, die auch viele Theaterleute in Existenznöte
brachte, ein neues Medienformat gesucht, bei dem sie gemeinsam mit Laien
dramatisches Geschehen öffentlich gestalten sollten. Nach dem Vorbild von
Schillers „Schaubühne als moralische Anstalt“ sollte das gemeinsam gestaltete
und erlebte dramatische Geschehen alle Teilnehmer (auf der Bühne, dahinter und
davor) emotional, moralisch und politisch einen, ihre Gesinnung festigen, ja sogar
umstimmen.
Am 22. Dezember 1932 gründeten die vier Enthusiasten den
„Reichsbund zur Förderung der Freilichtspiele“, der als Verein sieben Tage vor
der Machtergreifung ins Vereinsregister eingetragen wurde. Nach der
Machtergreifung sorgte der Schauspieler und NS-Funktionär Otto Laubinger, späterer
Präsident der Reichstheaterkammer, dafür, dass der Reichsminister für
Volksaufklärung und Propaganda die junge Vereinigung anerkannte. Damit war der
Reichsbund einerseits unter den Schutz von Goebbels gestellt, andererseits aber
dessen Einfluss ausgesetzt.
sozialistische
Vorwärtsbewegung
Niessens Schrift Thingplätze als Spielplätze der Nation (1934) bildete die Grundlage des „Thingspiels“, dessen Idee sich aus vielerlei Quellen speiste. In den zwanziger Jahren inszenierte die sozialistische Bewegung Arbeitermassenspiele von neuartiger Qualität. Hunderte oder Tausende von Akteuren traten mit Zehntausenden von Zuschauern über Sprechchöre und Bewegungschöre in Interaktion. Sie wurden als „Massenspiele“, „Festspiele“ oder auch – mit quasi-religiösen Untertönen – als „Weihespiele“ bezeichnet, waren häufig mit der Freidenkerbewegung verbunden und thematisierten im Schnittfeld zwischen Massengymnastik, Agitpropgruppen und „proletarischer Feierkultur“ die Richtung der sozialistischen „Vorwärtsbewegung“ über den Sturz der kapitalistischen Verhältnisse hin zum Sieg allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Waldbühne – Aufführung von „Das Frankenburger Würfelspiel“ von Eberhard Wolfgang Möller am 29. Juli 1936 vor der NS-Kulturgemeinde. Quelle: https://www.akg-images.co.uk/Docs/AKG/Media/TR3_WATERMARKED/1/2/d/0/AKG61156.jpg
Anregungen kamen vom jugendbewegten Laienspiel, teils von den
Massenspielen des sowjetischen Proletkults und vom expressionistischen
Revolutionstheater. Thematisch inszenierten sie etwa den Spartakus-Aufstand im
alten Rom, den deutschen Bauernkrieg und die Französische Revolution, später
mehr symbolisch-abstrakte Kämpfe um Krieg und Frieden. Im Massenspiel
„Flammende Zeit“, das 1929 in Magdeburg mit tausend Statisten auf einer
Naturbühne vor Zehntausenden von Zuschauern stattfand, hieß es etwa
„Wer den wuchtigen Hammer schwingt
Wer im Felde mäht die Ähren
Wer ins Mark der Erde dringt
Weib und Kinder zu ernähren (…)
Jedem Ehre – jedem Preis
Ehre jeder Hand voll Schwielen
Ehre jedem Tropfen Schweiß
Der in Hütten fiel und Mühlen (…)
Der französische Publizist Stefan Priarcel kennzeichnete in Les Nouvelles Littéraires die gewissermaßen
„energetische“ Ausstrahlung solcher Spiele: „Glaube … Rhythmus … Disziplin
… all dies löst einen Kraftstrom aus, dem gegenüber niemand unempfindlich
bleiben kann“. Die Stimmung des Massenspiels war eine Energie oder
Ausstrahlung, die allein über räumliche und zeitliche Kategorien nicht erfasst
werden kann, meint der dänische Soziologe Henning Eichberg, weswegen sie
analytisch schwerer greifbar sei und unterschiedlich erlebt und interpretiert
werden könne. „Oft wurde sie als rauschhaft und als Begeisterung beschrieben.
Die Atmosphäre des Festspiels kam im Gemeinschaftsgesang zum Ausdruck, in
Musik, Sprechchor und Sprechbewegungschor. Durch das Massenspiel geschah
Gefühlsbildung. Diese Gefühle waren typisch von ‚religiöser‘ Ernsthaftigkeit.
Das Massenspiel war kein Ort des Lachens.“
Unter dem Begriff „Thingspiel“ fasste Niessen nun alle Initiativen zusammen, die Festspiele in Stadien und den neu eingerichteten Freilichtbühnen arrangierten, um die „nationale Revolution“ zu feiern. Federführend war innerhalb der nazistischen Kulturpolitik die eher dem Expressionismus zuneigende Gruppe um Joseph Goebbels, während die mehr völkische Gruppe um Alfred Rosenberg sich kritisch bis abweisend verhielt. Sie bemühte sich um die Etablierung konkurrierender, mehr archaisierender „Thingstätten“. Ein dritter Akteur in dieser Konkurrenz wurde die Organisation „Kraft durch Freude“ unter dem DAF-Führer Robert Ley, die sogenannte „Werkspiele“ veranstaltete und für jedwedes Ereignis Zuschauer und Beteiligte in Bataillonsstärke garantieren konnte.
Neben und zwischen diesen Fraktionen gab es ferner die Laienspiele und „Spielscharen“,
die sich um HJ, SA und im „Reichsbund Volkstum und Heimat“ unter dem
Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß sammelten; dieser Reichsbund wurde später als „Amt
Volkstum und Heimat“ der KdF untergeordnet. Die Dimension der Spiele lag zum
Teil bei 3000 Akteuren und 60.000 Zuschauern. Sogar einige Verfasser
sozialistischer Festspiele begaben sich auf dieses neue Feld und steuerten
Texte mit Untertönen sozialer Erweckung bei. Als Thema kristallisierte sich nun
die jüngere deutsche Geschichte heraus, besonders die „Schmachgeschichte“ seit 1918.
chorische Massentheaterstücke
Gezeigt wurde, wie
„das Volk“ (vorgestellt wie der Chor im altgriechischen Theater) politisch
„handelte“. Nur wenige Spieler hatten Einzelrollen, darunter die Chorführer –
man kann, im Gegensatz zu dem von den Nationalsozialisten verfemten
linksliberalen Elitentheater, von chorisch-patriotischen Massentheaterstücken
sprechen: Mythos, Heroismus und ein völkisches Gemeinschaftserlebnis unter
freiem Himmel. „Thingspiele waren eine Mischung aus Tanz, Gesang,
Dichtung und Laienspiel, stilistisch zwischen expressionistischer Bühnenkunst,
mittelalterlichem Mysterienspiel und Nürnberger Parteitag“, erkannte Solveig
Grothe im Spiegel. Selbst die Anreise war durchdacht, Straßen
und neue Bahnhöfe wurden entsprechend geplant, weiß sie: „Der gemeinsame Weg
hinauf zur Thingstätte als Teil der Inszenierung sollte das Gefühl der
gemeinsamen Herkunft und Zusammengehörigkeit vermitteln.“
Bei der örtlichen Bevölkerung und auch innerhalb der NSADP konnte sich der beabsichtigte Thing-Kult jedoch nicht durchsetzen. Zum einen stockten viele Bauvorhaben, zum anderen kamen die gezeigten Stücke nicht an. Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Röhm-Putschs die politische Entwicklung der NSDAP und damit des Reichs in eine neue Phase eingetreten war: Die sozialistische Komponente wurde schwächer, die nationalistische nahm zu.
Standorte der ersten 66 vom Reichspropagandaministerium geplanten Thingplätze. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/cea876b4-05ee-44ab-a079-92839a0d704b_w1528_r1.5227272727272727_fpx29.56_fpy49.jpg
Propagandaminister Goebbels sah in Film und Radio wesentlich bessere
Möglichkeiten der Massenbeeinflussung als in den ideologisch plakativ
überladenen Thingspielen und setzte von nun an wieder auf die herkömmlichen
Muster der faschistischen Parade und der Reichsparteitage einerseits – und auf
den „unpolitischen“ Unterhaltungsfilm andererseits: „Diese Formen erforderten
nicht mehr Spontaneität und Mitwirkung von unten, sondern entweder
quasimilitärische Organisation von oben oder Konsumverhalten“, meint Eichberg.
Goebbels erkannte auch, dass Veranstaltungen der „Bewegung“ eher
schadeten, wenn sie als Kult durchschaut wurden. Die in Heidelberg als
Thingstätte geplante Anlage wurde nach Fertigstellung nur noch als Feierstätte
bezeichnet, was auf ein Verbot des Begriffes Thing durch Goebbels 1935
zurückzuführen ist. Von da an hießen sie auch Weihestätte oder Freilichtbühne. Ohne
die Förderung durch die Partei führten Thingspiele von da an nur noch ein
Schattendasein bei der Hitlerjugend und in eher sektiererischen Splittergruppen
innerhalb der NSDAP wie den Artamanen. Das bekannteste und meistgespielte
Thingspiel war das Frankenburger
Würfelspiel von Eberhard Wolfgang Möller, es wurde auch bei den Olympischen
Sommerspielen 1936 in Berlin aufgeführt.
Seit 1933 Truppführer der SA, wurde Niessen mit der Abspaltung des Fachs in eine selbständige, von der Literaturwissenschaft unabhängige Disziplin 1938 zum nichtbeamteten, außerordentlichen Professor für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln berufen – als erster in Deutschland. Er trat nachdrücklich für eine praxisorientierte wissenschaftliche Ausbildung ein und zählt hierzulande neben Max Herrmann und Artur Kutscher zu den Begründern der Disziplin. Warum er seine volkstheatralischen Ideen nicht weiterverfolgte, ist bis dato offen.
Die Freilichtbühne „Stedingsehre“ in Bookholzberg, heute Gemeinde Ganderkesee im Oldenburger Land, wurde am 27. Mai 1934 eröffnet. Den Namen erhielt die bis zu 20.000 Menschen fassende Thingstätte in Anlehnung an das Theaterstück „De Stedinge“, zu dessen Aufführung sie eigens gebaut worden war. Der Oldenburger Autor August Hinrichs hatte das „Volksschauspiel“ zum 700. Jahrestag der Schlacht von Altenesch verfasst. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-freilichttheater-und-thingbewegung-das-thing-ging-schief-a-34e879ae-ad60-4a1d-97cd-2002d50a79ed#fotostrecke-9c30bb5d-c353-4529-b6b0-5ff51bdf360c
Wenngleich nicht Mitglied der NSDAP und deshalb gelegentlich
der „politischen Unzuverlässigkeit“ geziehen, war er von der Reichstheaterkammer
als „Dekan auf Lebenszeit“ einer Theaterakademie vorgesehen, die allerdings nie
verwirklicht wurde. Er war neben seiner Tätigkeit als Institutsleiter Autor
zahlreicher theaterwissenschaftlicher Fachbücher, darunter Die Schaubühne (1928) und An
der Wiege des Hänneschen (1937) und schrieb für die Zeitschrift Musik im Kriege. Deutlich
nationalistische Töne klingen in Publikationen wie Der Film, eine unabhängige deutsche Erfindung (1934) oder Theater im Kriege (1940) an.
Von der Euphorie zum
Vergessen
Nach dem Zweiten
Weltkrieg setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit nahtlos fort. Im
Laufe der Zeit verbreiterte er die methodische Basis seiner Forschung durch die
Integration von vergleichender Völkerkunde, Religions- und Kulturwissenschaft
mit dem Ziel, eine allgemeine „Theorie des Mimus“ zu erstellen, wie er sie in
seinem unvollendeten Hauptwerk, dem Handbuch
der Theaterwissenschaft (3 Bde., 1949
– 1958) zu skizzieren versuchte.
Bis zu seiner Emeritierung 1959 veranstaltete er auch weitere Theaterausstellungen. 1955 erwarb die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die „Sammlung Niessen“, die heute einen Bestandteil des Theatermuseums der Universität in Porz-Wahn bildet. Den Erlös verwandte Niessen für eine Studienstiftung, die die Publikation wissenschaftlicher Arbeiten zu Theater, Film, Funk und Fernsehen unterstützt. Erst 1962 feierte er mit einer 24 Jahre jüngeren Schauspielerin Hochzeit und starb am 6. März 1969 in Troisdorf.
Das Ensemble des alten Kölner Hänneschen-Theaters im Jahr 1925: Niessen vorne links. Quelle: https://www.ksta.de/image/22845934/2×1/940/470/d9cb78c145645c6f8e8dd11dde2e8175/qN/71-88275591–das-ensemble-d–24-08-2015-14-06-18-500-.jpg
Niessen ist, ebenso
wie die meisten Thingspiele und Thingstätten, heute vergessen, die Gründe sind
trotz der einst regelrechten Thingeuphorie unklar. Akten, die Aufschluss
darüber geben könnten, existieren nicht mehr. Im erwähnten Geheimerlass
Goebbels‘ vom 23. Oktober 1935 wurde der Begriff „Thing“ mit einem Tabu belegt.
Die Presse erhielt Anweisung, das Wort notfalls auch aus den Reden angesehener
Persönlichkeiten zu tilgen. 1936 wurde den Thingspielen dann die „Reichswichtigkeit“
aberkannt. Öffentlich thematisiert wurde diese Kehrtwende in der Kulturpolitik aber
nie.
Auch in der Sowjetunion trat an die Stelle der frühen
Massenspiele inzwischen die stalinistische Parade. Die späteren sowjetischen
Rituale zum 1. Mai, zu Weltjugendfestspielen und Spartakiaden hatten als von
oben her inszenierte Massengeometrie und Aufmärsche einen anderen Charakter als
die Erweckungsspiele des frühen Proletkults. In der Frühzeit der DDR gab es
zunächst einzelne Versuche, das Fest- und Massenspiel wiederzubeleben, aber sie
bestätigten eher, dass dessen Zeit abgelaufen war. 1959 wurde die dramatische
Ballade Klaus Störtebeker von Kurt
Barthel im Rahmen der Rügenfestspiele in Ralswiek aufgeführt, laut Eichberg der
„bisher gelungenste Versuch einer Massenspielinszenierung“. Es gibt sie bis
heute.
Die germanistischen Darstellungen zu diesem Kapitel der deutschen Literaturgeschichte seien „ziemlich knapp“, befand der Bochumer Emeritus Uwe-K. Ketelsen schon 2004 in der Kritischen Ausgabe: „Solche Selbstbeschränkung dürfte vor allem der Ratlosigkeit gegenüber diesen Texten und den zu ihnen gehörenden theatralen Praktiken entspringen. So bleibt es meist bei konsensfähigen Geschmacksurteilen und politisch korrekten, manipulationstheoretisch fundierten Einschätzungen.“ Er verwies darauf, dass sich die einschlägigen Texte als belletristische Aufarbeitungen von Hitler-, Goebbels-, Rosenberg-, etc.-Zitaten lesen und damit in den Horizont des III .Reichs einschränken ließen.
Störtebecker-Festspiele in Ralswiek. https://www.auf-nach-mv.de/images/njyvtjsvdim-/naturbuehne-ralswiek-in-action.jpeg
„Aber ließe sich die Blickrichtung nicht auch umkehren und konstatieren,
dass Hitler, Goebbels, Rosenberg etc. mit den Verfassern dieser Texte an einem gemeinsamen
Pool von Vorstellungen, Bildern und Argumenten partizipieren, der aus älteren historischen
Beständen stammt?“, fragt er ketzerisch. Eine solche Umkehrung verletze ein
Tabu, „indem sie den Panzer sprengt, der beruhigend um das III. Reich gelegt
worden ist; sie macht es zu einem integralen Bestandteil unserer Geschichte“.
Zuletzt versuchte die Bielefelder Kunstprofessorin Katharina Bosse aus eher linker Perspektive, diesen Panzer interdisziplinär zu sprengen, und veröffentlichte neben dem Bildband „Thingstätten“ (Bielefeld:Kerber 2020) auch eine zugehörige Internetseite www.thingstaetten.info, die ein umfangreiches Archiv werden, Regionalforschungen vernetzen und Dokumentationen zusammenführen soll. Interessierte können das Portal mit Material und Erkenntnissen ergänzen.
Sobald Hitler einen Narren an einem Film, Schauspieler oder Regisseur
gefressen hatte, war der erste Antisemit im Staate ideologisch erstaunlich
flexibel: Obwohl Halbjude, trug er dem Meisterregisseur 1933 via Goebbels die
Leitung des deutschen Filmwesens an, ließ sich von „Metropolis“ zu
Begeisterungsstürmen hinreißen und soll nach Angaben seines Leibfotografs
Heinrich Hoffmann den „Siegfried“-Film mindestens 20-mal gesehen haben. Das
laut Branchenportal Filmdienst „monumentale
Rührstück von unerfüllter Liebe und grenzenloser Rache, von schwülstiger Poesie
und destruktiver Megalomanie, von selbstverleugnender Aufopferung und
schließlich der berühmten Nibelungentreue, die aus Kriemhild ein gewissenloses
Monster macht, das die Burgunder und die Hunnen mit sich in den Abgrund reißt“,
sei exakt nach seinem Geschmack gewesen. Der Macher dieses „Rührstücks“, Friedrich
Christian Anton „Fritz“ Lang, wurde am 5. Dezember 1890 in Wien geboren.
Der Sohn des Architekten und Stadtbaumeisters Anton Lang und dessen jüdischer Frau Pauline begann nach dem Abschluss der Realschule 1907 auf Wunsch seines Vaters ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien, wechselte jedoch ein Jahr später an die Wiener Akademie der bildenden Künste, um dort Malerei zu studieren. Außerdem war er an der Staatlichen Gewerbeschule in München eingeschrieben und trat während des Studiums nebenbei als Kabarettist auf. Von 1910 an unternahm er wie ein unsteter Bohème Reisen in die Mittelmeerländer und nach Afrika, ging 1911 erneut nach München, um diesmal an der Kunstgewerbeschule zu studieren, und begann wieder zu reisen. 1913/14 setzte er seine Ausbildung in Paris beim Maler Maurice Denis fort und entdeckte dort für sich den Film.
Fritz Lang. Collage von Agata Marszałek. Quelle: https://d2ycltig8jwwee.cloudfront.net/features/222/fullwidth.3b62e943.jpg
Er meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger und wohnte 1915 während der
Einjährig-Freiwilligen-Schule in der Steiermark im Hause des intellektuellen Anwalts
Karl Grossmann, der selbst künstlerisch arbeitete. Angeregt durch örtliche,
traditionelle Töpfereien, stellte er zwei (Selbstporträt?-)Büsten und zwei
Gartenvasen aus Terrakotta her, die von Grossmanns Familie bewahrt werden – wahrscheinlich
Langs einzige erhaltene Werke der bildenden Kunst. Nach zwei Verwundungen für
kriegsuntauglich erklärt, war der Artillerie-Offizier im Rahmen der
Truppenbetreuung bei einer Theatergruppe des „feldgrauen Spiels“ zum ersten Mal
als Regisseur tätig und knüpfte Kontakte zu Filmleuten wie Joe May (Julius Otto
Mandl), für den er ab 1917 als Drehbuchschreiber zu arbeiten begann, so für „Die
Hochzeit in Exzentricclub“ und „Hilde Warren und der Tod“. Dabei lernte er die
Autorin Thea von Harbou kennen und bald auch lieben, mit der er später
gemeinsam die Drehbücher für Mays „Die Herrin der Welt“ und „Das indische
Grabmal“ schreiben wird.
„Dem
deutschen Volke zu eigen“
1919
realisierte er für die Decla seine ersten eigenen Streifen, darunter die
fernöstlichen Romanze „Harakiri“ mit der jungen Lil Dagover und „Halbblut“, für
die er auch das Drehbuch schrieb. Er lebt inzwischen in Berlin und heiratet die
Schauspielerin Elisabeth Rosenthal. Schon im folgenden Jahr, am 25. September
1920 fand sie den Tod durch einen Schuss aus Langs Browning-Pistole. Es wird heute
davon ausgegangen, dass sie sich spontan das Leben nahm, nachdem sie Zeugin der
Affäre ihres Mannes mit Thea von Harbou geworden war. Die genauen Umstände
bleiben jedoch zeitlebens im Dunkeln, als Todesursache wurde „Unglücksfall“
statt „Selbsttötung“ angegeben. Lang hielt diese erste Ehe sein weiteres Leben
lang geheim, doch hat deren Ende mutmaßlich seine künftigen Filmthemen von
Schuld, Verstrickung, Tod und Suizid stark beeinflusst.
Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Lang und von Harbou – beide heirateten im August 1922 und galten als Glamourpaar –, nahm mit dem Melodram „Das wandernde Bild“ (1920) ihren Anfang und sollte bis 1933 währen. Sie brachte eine ganze Reihe von Filmen hervor, die heute als Klassiker des deutschen Stummfilms gelten. In „Der müde Tod“ (1921) wird eine dreifach variierte Geschichte über Liebe und Tod erzählt. Der Zweiteiler „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922) nach einem Kolportage-Roman führte die Hauptfigur als vom „Caligarismus“ geprägtes Verbrechergenie vor, das seine Opfer durch Hypnose beherrscht und am Ende dem Wahnsinn verfällt.
Lang und Harbou. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Fritz_Lang_und_Thea_von_Harbou,_1923_od._1924.jpg
Bei den
Dreharbeiten verlor er sein linkes Auge und kaschierte das durch ein Monokel. Die
Streifen bescherten ihm schließlich auch auf internationaler Ebene den
künstlerischen und kommerziellen Durchbruch. Zwei Jahre später feierte er mit
dem Nibelungen-Epos einen weiteren großen Publikumserfolg. Die Widmung „Dem
deutschen Volke zu eigen“ sollte einige nationalistische Spekulationen
auslösen. Das Ornamentale, etwa in Bildaufbau und Massenregie – Siegfried
Kracauer sah die „Massenornamente“ der Nürnberger Reichsparteitage vorgebildet
– wurde in diesem Film für Lang zum Kompositionsprinzip.
Ein Prinzip, das er in seinem nächsten Film, dem monumentalen „Metropolis“ (1926), noch perfektionieren sollte. Die visuell eindrucksvolle, ideologisch jedoch oft als fragwürdig kritisierte Technikutopie, die er im Anschluss an eine Kreativpause drehte, die ihn zwischen Oktober und Dezember 1924 nach New York, wo ihn die Wolkenkratzer gewiss inspirierten, und Hollywood geführt hatte, sprengte vom Aufwand her jedes Maß, fiel aber bei Kritikern durch und hatte auch beim Publikum keinen Erfolg. Im August 1927 lief eine auf knapp zwei Stunden verkürzte Version in Deutschland neu an; etwa ein Viertel des Originals wurde vernichtet. Seit 1961 wurden mehrfach Versuche unternommen, die Originalfassung wiederherzustellen. In der Rekonstruktion von 2001 wurde der Film als erster überhaupt ins Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Die restaurierte Fassung der Murnau-Stiftung, die mit einer 2008 in Buenos Aires gefundenen Kopie hergestellt wurde, feierte 2010 Premiere bei der Berlinale.
Maschinenmensch aus „Metropolis“. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/94da4ddd-0001-0004-0000-000001091924_w1528_r1.42781875658588_fpx46.92_fpy54.98.jpg
Sie führte aber
zum Bruch zwischen der Direktion der finanziell angeschlagenen Ufa und Lang,
der sich mit der Fritz Lang-Film GmbH selbständig machte ließ seine Filme von
der Ufa künftig nur noch verleihen ließ. Nach einer Rückkehr ins Milieu der
Superverbrecher mit „Spione“ (1927) nahm er die Technikaffinität seiner Zeit
zum Anlass, um mit „Frau im Mond“ (1929) einen filmischen Flug zum Mond zu
inszenieren. Kolportiert wird, dass der eine wahre Raketenbegeisterung in
Deutschland auslöste, zu der auch Langs technische Berater, die Raketenpioniere
Hermann Oberth und Willy Ley, beitrugen. „Frau im Mond“ markierte zugleich das
Ende von Langs Stummfilmzeit und seine Hinwendung zum Tonfilm.
Zwischen Tonfilm und Exil
„M“ (1931),
Langs erster Tonfilm, nutzte geschickt die Möglichkeiten der neuen Technik:
Geräusche und ein von Lang persönlich gepfiffenes Grieg-Motiv („In der Halle
des Bergkönigs“) untermalen die Geschichte eines psychopathischen Kindermörders
(Peter Lorre), der eine Stadt in Angst und Schrecken versetzt, woraufhin sich
die Unterwelt seiner annimmt. Der Film, der damalige Zuschauer an die reale
Hysterie um den Massenmörder Peter Kürten erinnerte, wurde von der
linksliberalen Presse als Plädoyer für die Todesstrafe missverstanden, während
Lang in Wirklichkeit die verminderte Schuldfähigkeit eines Zwanghaften
hervorzuheben versuchte.
Mit dem Kriminalfilm „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933) kehrte er zu seiner Figur des manipulierenden Machtmenschen zurück und schuf eine kunstvolle Parabel auf Machtmissbrauch und Herrschaftswahn: Die Titelfigur schreibt, während sie in einer Zelle in der Psychiatrie einsitzt, ein Handbuch für Verbrecher. Kracauer sah darin eine deutliche Anspielung auf Hitlers „Mein Kampf“, was Lang später bestritt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten verhinderte die Uraufführung: Der Film wurde am 29. März 1933 von der Filmprüfstelle verboten. Beide Streifen gelten nicht zuletzt wegen ihrer kunstvollen Montage als handwerkliche Höhepunkte in Langs filmischem Schaffen.
Lang, der
den Nazis lange Zeit indifferent gegenüberstand und noch am 27. März 1933
zusammen mit Carl Boese, Victor Janson und Luis Trenker die Regie-Gruppe der
Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO) gegründet hatte, entschied
sich nach einem Treffen mit Goebbels Anfang April dafür, Deutschland zu
verlassen, und ging über Österreich und Belgien nach Paris ins Exil. Parallel
dazu war am 20. April 1933 seine Ehe mit Thea von Harbou geschieden worden – das
Paar lebte da allerdings nach einer Affäre Langs mit der Schauspielerin Gerda
Maurus schon eine Weile nicht mehr zusammen. Nach der sowohl in einer französisch-
als auch deutschsprachigen Version gedrehten Sozialschmonzette „Liliom“ kam Lang in London mit dem US-Filmproduzenten
David O. Selznik zusammen und unterzeichnete einen Vertrag über einen Film für
MGM. Er reiste in die USA, wobei ihn seine neue Lebensgefährtin Lily Latté an
Bord der Île de France begleitete, wurde 1939 US-amerikanischer Staatsbürger
und sollte erst 22 Jahre später wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen.
In der
Zwischenzeit drehte er nach anfänglichen Startschwierigkeiten in Hollywood
zahlreiche Filme. Sein Debüt war „Fury“ (1936), eine Variante von „M“ mit
Spencer Tracy in der Hauptrolle. Es folgten unter anderem „You and Me“ (1938),
zu dem Kurt Weill einige Songs verfasste, die Farbwestern „The Return of Frank
James“ (1940) mit Henry Fonda und „Western Union“ (1940) mit Robert Young und
Randolph Scott sowie die reißerische Agentengeschichte „Man Hunt“ (1941), in
der auch die gegenwärtige Lage in Nazi-Deutschland thematisiert wurde.
Während der
Arbeiten an „Hangmen Also Die“ über den Anschlag auf Heydrich zerstritt sich Lang
1942 mit Co-Drehbuchautor Bertolt Brecht. Doch die Bekanntschaft mit diesem und
Hanns Eisler sowie der auf einem Graham-Greene-Roman basierende Anti-Nazi-Film „The
Ministry of Fear“ (1944) brachte ihn später ins Visier des Komitees gegen
unamerikanische Aktivitäten. Für seine mit Partnern gegründete Firma „Diana
Productions“ dreht er dann düstere
Thriller wie „Secret Beyond the Door“ (1947) sowie films noirs wie „The Big
Heat“ (1953), die heute als späte Höhepunkte der „klassischen Ära“ gelten. Dazwischen
inszenierte er den Western „Rancho Notorious“ (1952) mit Marlene Dietrich.
„definitiv die Idee aufgegeben“
1956 kehrte Lang nach Deutschland zurück, dem er vier Jahre später enttäuscht und entnervt endgültig den Rücken kehrte. Zunächst musste er erleben, wie einige seiner Projekte, etwa über die Ereignisse des 20. Juli oder den Seeräuber Störtebeker, nicht zur Herstellungsreife gelangten: „Die Leute, mit denen man da arbeiten muss, sind wirklich unerträglich. Nicht nur, dass sie keine Versprechen halten, schriftlich oder nicht, es ist auch noch so, dass die Filmindustrie, wenn es überhaupt noch möglich ist, den kümmerlichen Rest dessen, was das Land einmal in seiner Filmproduktion weltberühmt gemacht hat, so zu nennen, heute geleitet wird von ehemaligen Rechtsanwälten, SS-Männern oder Exporteuren von Gott weiß was. Ihre Hauptarbeit besteht darin, Koproduktionen unter solchen Bedingungen zustande zu bringen, dass ihre Kassenbücher bereits Überschüsse aufweisen, bevor man den Film überhaupt angefangen hat.“
Für den
Produzenten Artur Brauner dreht er dann doch zwei Filme, seine letzten. Dem
Zweiteiler „Der Tiger von Eschnapur / Das indische Grabmal“ (1959), der auf
einem stark abgewandelten Lang-Drehbuch von 1921 basierte, folgte mit „Die 1000
Augen des Dr. Mabuse“ (1960) ein weiterer Mabuse-Film. Darin zeichnete Lang ein
Sittenbild der frühen Bundesrepublik: Große, scheinbar tote, vergessene
Verbrecher, die im Hintergrund weiter wirken; ein Hotel als Beobachtungsapparat
und Metapher für Totalitarismus; willige Handlanger und Vollstrecker; ein
scheinbarer Frieden, der nur mühsam schwelende Konflikte verdeckt; eine
Atmosphäre der Künstlichkeit und großspurig gespielten Lockerheit. Alle drei
erwiesen sich vor allem als kommerzielle, jedoch nicht als künstlerische
Erfolge. „Ich habe diese Filme nicht gemacht, weil ich sie für wichtig hielt,
sondern weil ich hoffte, dass ich, wenn ich jemandem einen großen finanziellen
Erfolg machen würde, wieder die Chance haben würde, so wie bei ‚M‘, ohne
irgendwelche Einschränkungen zu arbeiten. Ein Fehler. Nach 14monatiger Arbeit
dort habe ich schließlich definitiv die Idee aufgegeben, noch einmal einen Film
in Deutschland zu machen.“
Seine Gesundheit verschlechtert sich, zuletzt ist er fast blind. 1963 trat er in Jean-Luc Godards „Le Mépris“ als alternder Filmregisseur, der sich wegen einer Verfilmung von Homers „Odyssee“ mit seinem Produzenten überwirft, noch einmal selbst vor die Kamera. Daneben reiste er, gab Interviews und besuchte Filmfestivals. 1971 heiratete er in Amerika seine langjährige Lebensgefährtin Lily Latté, starb am 2. August 1976 in Beverly Hills und wurde auf dem Forest-Lawn-Friedhof in Hollywood beigesetzt. Im September 2010 gehörte Lang zu den ersten vierzig Großen des deutschen Bewegtbilds, die in Berlin mit einem Stern auf dem unweit des Potsdamer Platzes neu installierten „Boulevard der Stars“ geehrt wurden, einem wachsenden Denkmal nach dem Vorbild des „Walk of Fame“ in Los Angeles.
Langs Stern auf dem Berliner Boulevard der Stars. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Lang#/media/Datei:Fritz_Lang_-_Boulevard_der_Stars.jpg
Er hat in 40 Jahren 40 Filme gedreht, von denen viele als Meilensteine der Filmgeschichte gelten, ja die zu „Sensationsfilmen“ wurden, wenn sie den Aufstand des Individuums gegen die Macht der Organisationen, den Terror des Staats, die blinde Wut der Masse darstellten. In den 20er Jahren war Regie führen „Erfinden, Ausprobieren, Zaubern; der Regisseur ein Ingenieur des Sehens, Maler, Erzähler und Architekt zugleich“, meinte Michael Althen in der Zeit. Dem selbstverständlichen Bilderfluss, oberstes Gebot in Hollywood, setzte Lang die statische Kamera und den spürbaren Schnitt entgegen: Geometrisch konturierte Szenen, in denen die Helden nur „Sklaven des Bildrahmens“ sind, wie Claude Chabrol einst kritisierte. „Träume von der Welt, die sich durch minimale Erweiterung des Blicks zu Alpträumen wandeln: Darin liegt Langs eigentliche Kunst“, befindet Althen und trifft damit ins Schwarze.
„Die
neuzeitliche Gepflogenheit, dass wir Deutsche immer einen größten Dichter haben
müssen – gewissermaßen einen Langen Kerl der Literatur – ist eine üble
Gedankenlosigkeit, die nicht wenig Schuld daran trägt, dass seine Bedeutung
nicht erkannt worden ist. Weiß Gott, woher sie stammt! Sie kann ebenso gut vom
Goethekult kommen wie vom Exerzieren“, schimpft durchaus unfein Robert Musil am
16. Januar 1927 im Renaissance-Theater Berlin, wo die „Gruppe der 25“, übrigens
gegen den erklärten Willen Bertolt Brechts, eine Gedenkfeier ihm zu Ehren
veranstaltete: Rainer Maria Rilke. Als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria
Rilke wurde er am 4. Dezember 1875 in Prag geboren.
Vater Josef
gelang die angestrebte militärische Karriere nicht, er war Eisenbahninspektor
geworden. Seine Mutter „Phia“ (Sophie), die einer wohlhabenden Prager
Fabrikantenfamilie entstammte und ihre Hoffnungen auf ein vornehmes Leben in
der Ehe nicht erfüllt sah, galt als ambitionierte und dominierende Frau, deren
Ehrgeiz auf den Wohlstand der Familie gerichtet war – den sie nun nicht erreichen
konnte, was zu einer angespannten Familiensituation führte. Zudem hatte sie bei
seiner Geburt den Tod ihrer älteren Tochter noch nicht verkraftet, die 1874 im
Alter von einer Woche gestorben war. Rilkes Mutter übertrug nicht nur ihre
unerfüllten Ambitionen auf den einzigen Sohn, sondern drängte ihn auch in die
Rolle der verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er als
Mädchen erzogen, frühe Fotografien zeigen René – französisch für „der
Wiedergeborene“ – mit langem Haar im Kleidchen. Er wuchs ohne nennenswerte
Kontakte zu Gleichaltrigen auf.
Das Verhältnis zwischen dem Überbehüteten und der Mutter, die ihren Sohn noch um fünf Jahre überleben sollte, überschattete sein Leben. Mit sechs Jahren besuchte Rilke eine katholische Volksschule im vornehmsten Viertel von Prag und brachte trotz kränklicher Konstitution gute Leistungen. 1884 zerbrach die Ehe der Eltern, die fortan ohne Scheidung getrennt lebten. Eine kurze Zeit wurde René von seiner Mutter allein erzogen, bevor seine Eltern ihn in die Kadettenanstalt St. Pölten zur Vorbereitung auf eine Offizierslaufbahn gaben. Die Zumutungen militärischen Drills und die Erfahrungen einer reinen Männergesellschaft traumatisierten den zarten Knaben zusätzlich, nach sechs Jahren brach er die Ausbildung, die er dichtend und zeichnend zu bewältigen versuchte, krankheitshalber ab.
1891 besuchte
er die Handelsakademie von Linz, wo allerdings eine Affäre mit einem
Kindermädchen, das mehrere Jahre älter war, einen weiteren Akademiebesuch
verhinderte. Der militärischen als auch der kaufmännischen Karriere gleichermaßen
beraubt, bereitete er sich mittels Privatunterricht auf das Abitur vor und
bestand es 1895. Kurz darauf schrieb er sich in Prag zum Studium für
Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie ein, wechselte 1896 an die
juristische Fakultät in Prag und bereits im September desselben Jahres an die
Universität von München. Nach halbherzigen Studienambitionen entschloss er sich,
nachdem bereits 1894 sein erster Gedichtband „Leben und Lieder“ erschienen war,
kurzerhand dazu, sein Studium abzubrechen und fortan als freier Dichter zu
arbeiten.
„sachliches Sagen“
Mit dieser
Entscheidung begann für ihn ein unkonventionelles, unstetes Reiseleben:
Nirgends hielt es ihn länger, ständig zog es ihn weiter. Er wohnte in dubiosen Mietswohnungen
ebenso wie bei Freunden und Gönnern auf Schlössern. Sein lyrisches Frühwerk („Larenopfer“,
1895; „Advent“, 1898) wird der Neuromantik zugerechnet und ist durch Formtreue
und subjektive Einfühlsamkeit gekennzeichnet. Ornamentale und sentimentale Züge
sowie das dialoghafte Ansprechen eines geliebten Gegenübers finden sich dort
ebenso wie das Einssein des Dichters mit der Natur. Im März 1897 führten ihn
seine Wege erstmals nach Venedig und zwei Monate darauf, wie der zurück in
München, zu Lou Andreas-Salomé. Die um einiges ältere Schriftstellerin und spätere
Psychoanalytikerin wurde nicht nur für drei Jahre zu seiner erotischen Freundin,
sondern auch zeitlebens zur emanzipierten und geistigen Lebenspartnerin.
Kurze Zeit nach der Begegnung änderte er seinen ursprünglichen Namen René in Rainer: Lou empfand den Namen als männlicher und passender für einen Dichter. Sigmund Freud berichtet 1937, „dass sie dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen war“. Im Herbst 1897 zog Rilke um nach Berlin in direkte Nachbarschaft von Lou. 1899 und 1900 war er mit ihr zweimal in Russland unterwegs, betrieb Studien für eine geplante, aber nie geschriebene Monografie über russische Maler, traf Tolstoi und Pasternak, der daraus die autobiografische Geschichte „Der Schutzbrief“ machte. Als Rilke von Lous Trennungsabsichten erfuhr, hielt er sich gerade in der Künstlerkolonie Worpswede bei Heinrich Vogeler auf, der ihn zu einem längeren Aufenthalt eingeladen hatte. Im Haus von Vogeler verkehrte unter anderen auch die Bildhauerin Clara Westhoff, die im Frühjahr 1901 Rilkes Frau wurde.
Rilke mit Clara. Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Rainer_Maria_Rilke_und_Clara_Rilke-Westhoff_1901.jpg
Im Dezember
desselben Jahres kam seine Tochter Ruth zur Welt. Doch Rilke entzog sich allen
seiner zahlreichen Liebesbeziehungen, bevor sie zu seinem Schicksal werden
konnten. Sobald Zuneigung und Liebe für ihn zur Verpflichtung zu werden drohten,
verließ er seine Beziehungen. Trotzdem versuchte er bei Westhoff zu einem
familiären Leben zu gelangen – vergebens. Schon 1902 trennte er sich von ihr – Mittellosigkeit
zwingt ihn zur Auflösung des Hausstandes und zur Übernahme monographischer
Auftragsarbeiten – und ging nach Paris, blieb jedoch über alle weiteren
Lebensjahre mit ihr verbunden.
Der „Panther“,
das erste der „Neuen Gedichte“, entsteht; und seine Monografie über den
Bildhauer Auguste Rodin. Dessen Bekanntschaft sowie weitere Reisen nach Paris,
Rom und Skandinavien verändern Rilkes poetische Produktionsweise zugunsten
eines „sachlichen Sagens“, man spricht später von „Dinglyrik“. 1905 erscheint das
„Stunden-Buch“; Rilke nimmt sein Philosophiestudium in Berlin bei Georg Simmel
wieder auf. Im Jahr darauf ist er für kurze Zeit Privatsekretär bei Rodin, mit
dem er sich überwirft, und veröffentlicht die zur Zeit der Jahrhundertwende
entstandene und durch den Jugendstil beeinflusste „Weise von Liebe und Tod des
Cornets Christoph Rilke“. In einer Nacht herunter geschrieben, wurde sie später
Nummer 1 der Insel-Bücherei und sofort – wie auch viele andere Werke dieser
Reihe – zum Bestseller: Allein zu Lebzeiten Rilkes wurden 200.000 Stück
verkauft. Für den Leipziger Insel Verlag, dessen Leitung Anton Kippenberg 1905
übernommen hatte, wurde Rilke zum wichtigsten zeitgenössischen Autor:
Kippenberg erwarb für den Verlag bis 1913 die Rechte an allen bis dahin
verfassten Werken Rilkes.
Die
lyrisch-impressionistische Prosa vermittelt Gefühle von Jugend und
Lebenshunger, Liebe und Tod. Besonderer Popularität erfreute sich das
romantisierte Soldatentum aus dem 17.
Jahrhundert in der Zeit der beiden Weltkriege. Das letztlich
zeitlos-universelle Schicksal des jungen Soldaten schwankt zwischen
Glorifizierung des Heldentodes und der Sinnlosigkeit (jungen) Sterbens, Gefühlen
von überzogener Ehre, Verlust und Traurigkeit. Dem Langemarck-Mythos zufolge
hatten die „jungen“ Regimenter das Deutschlandlied auf den Lippen und „Rilkes
Cornet im Tornister“. 1908 schreibt er zur Erinnerung an die verstorbene Paula Modersohn-Becker
das „Requiem für eine Freundin“, vollendet „Der neuen Gedichte anderer Teil“
(1908) sowie die beiden „Requiem“-Gedichte (1909) und veröffentlicht 1910
seinen Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an dem er seit
1904 gearbeitet hat.
„die Welt synthetisch generieren“
Dieser gehört fraglos zum Kanon der klassischen Moderne, befindet Rilkes Biograph Ralph M. Köhnen. Ausgehend von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen mit Großstadtimpressionen, entwickle er in avantgardistischer Weise den Versuch, „durch Vielfalt des Erzählens, Polyperspektive, Montagetechnik und Aufbau synthetischer Raum- und Zeitbegriffe der Erfahrung des heterogenen modernen Lebens und des akzelerierten Großstadttempos eine Langerzählung an die Seite zu stellen“. Fragment geblieben, zeigt der Roman auch formal die Krisis der Moderne, die er trotz Reizüberflutung, Gewalt, Krankheit, Armut, Angst und Tod bei aller Fremdheit aber nicht ablehnt. Rilkes Modernität erweise sich vielmehr darin, dass er den Weltzweifel als dichterische Chance wertet: „Wenn die innere und die äußere Welt mit Sprache nicht adäquat dargestellt werden können, so kann man aus sprachlichen Entwürfen diese Welten schöpfen bzw. aus sprachlichen Einzelteilen die Welt synthetisch generieren“, so Köhnen.
Seine
anschließende Schaffenskrise sucht er wiederum mit Reisen zu kompensieren. 1910/11
reiste er nach Nordafrika, was sich ebenso auf sein Spätwerk auswirkte wie der
Aufenthalt auf Schloß Duino bei Triest bis Mai 1912, zu dem ihn seine
bedeutendste Förderin, Fürstin Marie von Thurn und Taxis, eingeladen hatte und
wo er die „Duineser Elegien“ begann. Anschließend reiste er nach Spanien, hielt
sich erneut in Paris auf, um 1914 nach München überzusiedeln. Es sollten fünf
Jahre werden: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überraschte ihn. Nach Paris
konnte er nicht mehr zurückkehren; sein dort zurückgelassener Besitz wurde
beschlagnahmt und versteigert. Zu Beginn schreibt er fünf „Kriegsgesänge“, doch
seine anfängliche Kriegsbegeisterung weicht der Erschütterung.
So beginnt er Übersetzungen zu verfertigen, und überträgt Werke von Michelangelo, Petrarca, Paul Valery, Paul Verlaine, Stephane Mallarme und André Gide ins Deutsche. Auf der Suche nach neuer Inspiration setzte er sich erstmals auch intensiver mit dem Werk Goethes und Shakespeares auseinander. Von 1914 bis 1916 hatte er eine stürmische Affäre mit der Malerin Lou Albert-Lasard. Anfang 1916 wurde Rilke eingezogen und musste in Wien eine militärische Grundausbildung absolvieren, wo er in der Breitenseer Kaserne im Westen der Stadt stationiert war. Auf Fürsprache einflussreicher Freunde wurde er zur Arbeit ins Kriegsarchiv und ins k.u.k. Kriegspressequartier überstellt und am 9. Juni 1916 aus dem Militärdienst entlassen. Das traumatische Erlebnis des Militärdienstes, empfunden auch als eine Wiederholung in der Militärschulzeit erfahrener Schrecken, sowie weitere für ihn enttäuschende Liebschaften ließen Rilke als Dichter danach nahezu völlig verstummen. Allerdings erkannte er diese scheinbar verlorenen Jahre später selbst als Inkubationszeit und Bedingung für weiteres Reifen.
Rilke vor der Kulisse des Kreml. Ölgemälde Leonid Pasternaks. Quelle: https://cdn1.stuttgarter-zeitung.de/media.media.2f330667-c252-4fa0-b2fc-4244faebf38e.original1024.jpg
Er macht die
Bekanntschaft von Hanns Eisler und Ernst Toller und verlässt München 1919, um an
wechselnden Orten in der Schweiz zu wohnen, zuletzt im Chateau de Muzot im
Kanton Wallis, das ihm sein Schweizer Mäzen Werner Reinhart mietfrei zur
Verfügung stellte. Hier vollendete er auf dem Höhepunkt seines Schaffens
1922/23 die „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“. Er versuche, seine
Existenzverzweiflung dichterisch aufzulösen, indem er in der Kunstsprache
Innen- und Außenwelt zum „Weltinnenraum“ verwebt, in dem die festen Zeitstufen
und Raumkategorien aufgelöst sind, meint Köhnen. Diese „neue Mythologie“
spiegele sich in den Gedichtfiguren: Engelsfiguren treten auf, Liebende,
Verzweifelnde und Hoffende, jung Verstorbene, die im dichterischen Eingedenken
lebendig werden, schließlich Orpheus, der mythische Liebende und Sänger, der
zugleich Selbstbild des Dichters wird.
„Differenz zur Alltagssprache“
1924
erkrankte Rilke an einer seltenen Form der Leukämie, was häufige
Sanatoriumsaufenthalte zur Folge hatte. Der lange Paris-Aufenthalt von Januar
bis August 1925 war ein Versuch, der Krankheit durch Ortswechsel und Änderung
der Lebensumstände zu entkommen. Indes entstanden in den letzten Jahren zwischen
1923 und 1926 noch zahlreiche wichtige Einzelgedichte (etwa „Gong“ und „Mausoleum“)
sowie ein umfangreiches lyrisches Werk in französischer Sprache, das an die
Lyrik des französischen Spätsymbolisten Paul Valéry anknüpfte.
Im Januar
und Februar 1926 schrieb Rilke der Mussolini-Gegnerin Aurelia Gallarati Scotti
drei Briefe nach Mailand, in denen er die Herrschaft Mussolinis lobte, den
Faschismus als „Heilmittel“ pries und staatliche „Gewalt“ billigte: Er war
bereit, eine gewisse, vorübergehende Gewaltanwendung und Freiheitsberaubung zu
akzeptieren, um über Ungerechtigkeiten hinweg zur Aktion zu schreiten. Italien
sah er als das einzige Land, dem es gut gehe und das im Aufstieg begriffen sei.
Mussolini sei zum Architekten des italienischen Willens geworden, zum Schmied
eines neuen Bewusstseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzünde.
„Glückliches Italien!“ rief Rilke aus, während er den Ideen der Freiheit, der
Humanität und der Internationale eine scharfe Absage erteilte. Sie seien nichts
als Abstraktionen, an denen Europa beinahe zusammengebrochen wäre.
Er starb am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont sur Territet bei Montreux und wurde am 2. Januar 1927 – seinem Wunsch entsprechend – in der Nähe seines letzten Wohnorts auf dem Bergfriedhof von Raron beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht der von Rilke selbst verfasste Spruch:
Grab mit Grabspruch. Quelle: http://www.fondation-rilke.ch/wp-content/uploads/2015/01/Tombe-Rilke.jpg
Postum erschienen sein Buch „Dichtungen des Michelangelo“ und
sein umfangreiches Briefwerk. Rilke verstand sich nicht als Schulengründer und
ist so auch kaum rezipiert worden, sieht man von der Naturlyrik der 1920er bis
1950er Jahre und von einzelnen Autoren wie Peter Handke ab. Populär wurde
insbesondere sein von neuromantischer Schwärmerei und Dichteremphase getragenes
Frühwerk. Die Rubrizierung seines Œuvres unter eine Epoche oder eine bestimmte
Richtung ist kaum möglich; akzeptiert ist allenfalls die Zurechnung zum
Symbolismus. Eine Perspektive, die sich bis heute durchgesetzt hat, zielt über
die Motive hinaus „auf jene Besonderheiten der Dichtungssprache bei Rilke,
deren Differenz zur Alltagssprache nach wie vor Entdeckungen zulässt“, so
Köhnen. Seine kühne Metaphorik rings um Abstrakta wie Gott, Stille, Existenz,
Trauer oder Zeit gilt bis heute als unerreicht.
Seine Werke sind häufig vertont oder musikalisch bearbeitet worden: In der langen und illustren Reihe seiner Adepten finden sich etwa Alban Berg, Arnold Schönberg, Leonard Bernstein, Dmitri Schostakowitsch und selbst Udo Lindenberg. Populär geworden ist vor allem die musikalische Annäherung an Rilkes lyrisches Werk durch das „Rilke Projekt“, das im Jahr 2001 begonnen wurde. In bisher vier CD-Veröffentlichungen interpretieren bekannte zeitgenössische Schauspieler und Musiker Texte von Rilke. Die ersten drei CDs erreichten Goldstatus. Zu den bekanntesten Mitwirkenden gehören Ben Becker, Mario Adorf, Iris Berben, Nina Hagen und Xavier Naidoo. „Generationen deutscher Leser galt und gilt er als Verkörperung des Dichterischen, sein klangvoll-rhythmischer Name wurde zum Inbegriff des Poetischen“, befand 2007 Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki. Damit hat er 13 Jahre später immer noch Recht.
Die UFA will divers sein, disney+ „rassistische Kinderfilme“ entschärfen, der MDR „kritisches Weißsein“ fördern. Unsere Medien entfremden sich den Bürgern weiter.
Meine neue TUMULT-Kolumne, die gern verbreitet werden darf.
Seine Existenz
zeichnete eine mehr als nur gewisse Zerrissenheit aus. Privat changierte sein
Leben zwischen Bürgertum und Provokation: Er heiratete und wurde Vater zweier
Kinder, nachts durchstreifte er hingegen die einschlägigen Homosexuellen-Bars
in Tokio. Künstlerisch machte der weltweit anerkannte, dreimal für den
Literaturnobelpreis vorgeschlagene Schriftsteller Seitensprünge, indem er auch
Rollen in billig produzierten Trashfilmen spielte – teilweise nach eigenen
Drehbüchern. Auch sein Verhältnis zum Westen, insbesondere zu den USA, blieb
zeitlebens ein gespaltenes. Am deutlichsten drückte sein Haus diese Ambivalenz
aus: Es bestand aus einem westlich und einem traditionell japanisch möblierten
Trakt.
Darin gefiel er sich in vielen mondänen Posen; so als Gastgeber von – damals in Japan unüblicher – europäischer Eleganz, als wolle er das lateinische persona („Maske“) in Leben und Werk raffiniert variieren, ja Maske sein. Zu diesem Vexierspiel gehörte nicht nur die mondäne Attitüde, mit der er die Chefredakteure von Time oder New York Times wie ein Kulturminister empfing, sondern auch eine Art literarischer Spagat – er sah sich als Bewahrer und Erneuerer japanischer Tradition und band doch unendliche Einflüsse des europäischen Geisteslebens in seine Texte, die er mit eiserner Disziplin täglich fünf Stunden am Schreibtisch im westlichen Trakt erfand. Und darin trug er auch nachts Sonnenbrillen oder ließ sich in Marlon-Brando-Pose fotografieren.
Er sei nicht
sicher, ob „Faschist“ die richtige Kategorie für seine „ekstatische
Rückgewandtheit“ wäre, meinte Fritz J. Raddatz vor 20 Jahren in der Zeit und führte aus: „Faschismus, gar
Nationalsozialismus hatten ja praktische Gegenangebote; beide lebten wesentlich
von dem Ideologiegebräu aus Krieg und Rassismus. Beider Rhythmus war der
Marschtritt der Masse – keineswegs das Todesfanal des heroischen Einzelnen. Sie
hatten konkrete politische Führer und präzise sozioökonomische
Gesellschaftsmodelle. Nichts davon bei Yukio Mishima – er ist ein
todessüchtiger Träumer jenseits der Wirklichkeit; für eine bessere hat er keine
Entwürfe, weil Wirklichkeit ihn überhaupt nicht interessiert.“ Und diese
Todessucht ließ Mishima am 25. November 1970 traditionellen Seppuku begehen: publikumswirksam
assistierten Suizid.
„Das werde ich“
Der am 14.
Januar 1925 als Kimitake Hiraoka in Tokio geborene Sohn eines
Ministerialbeamten litt unter der dominanten Großmutter, bei der er seine
Kindheit und Schulzeit an einer Eliteschule verbrachte: Sie verbat dem schmächtigen,
blassen und zurückhaltenden Jungen den Umgang mit gleichaltrigen
Geschlechtsgenossen; er durfte nur mit Mädchen spielen. Männerkörper – vor
allem Samuraikrieger und europäische Ritter, die er aus Bilderbüchern kannte –
übten daher bereits im Kindesalter einen besonderen Reiz auf ihn aus. Als er
mit 12 Jahren zurück in seine Familie kam, drillte ihn mit militärischer
Disziplin nun sein Vater und verspottete seine Hingabe für Literatur als
„weibisch“. Unter anderem soll er sein Zimmer regelmäßig auf Manuskripte
kontrolliert haben, die der kränkliche Knabe zu schreiben begann – auch
französischer, deutscher und englischer Sprache, die er sich autodidaktisch
beigebracht hatte.
Europäische
Literatur, insbesondere Raymond Radiguet, dessen Roman „Der Teufel im Leib“ (1923) vielfach verfilmt wurde, Oscar Wilde
und Rainer Maria Rilke, prägte ihn besonders. Später wird er Thomas Mann als
den Schriftsteller benennen, den er am meisten schätzt. Mit dreizehn Jahren schreib
er seine erste Kurzgeschichte „Der Wald in voller Blüte“, in der ein Junge das
Gefühl hat, dass seine Vorfahren in seinem Körper weiterleben, und dies für
seine inneren Unruhen verantwortlich macht. Die renommierte
Literaturzeitschrift Bungei-Bunka
druckte sie. Erst spät sollte der Vater mit dem Satz „Wenn du schon Romancier
werden willst, dann bitte der allererste Japans“ aufgeben; die Antwort des
Sohnes „Das werde ich“, ist überliefert.
Um Mobbing durch seine Schulkameraden zu vermeiden, wurde die Geschichte unter dem Pseudonym Yukio Mishima publiziert, das er fortan für alle seine literarischen Werke verwendete. Er selbst wählte Mishima nach den „drei Inseln“, von denen man den schneebedeckten Fudschijama sehen kann, sein Japanischlehrer rät zu dem Vornamen Yukio, abgeleitete von Yuki = Schnee. In der Pubertät entwickelte er sadomasochistische Fantasien, in denen Schönheit, Begehren und Tod zu einem ästhetischen Ideal verschmolzen. Da er bei der Musterung eine Tuberkulose vortäuschte, musste er im Zweiten Weltkrieg keinen Militärdienst leisten. Der Tuberkulosetod seiner siebzehnjährigen jüngeren Schwester nahm ihn sehr mit.
Mishima in seinem Arbeitszimmer. Quelle: https://im-wald-des-tapio.blogspot.com/2010/11/hagakure-nyumon-zu-einer-ethik-der-tat.html
Er ekelte
sich vor körperlicher Schwäche und dem mit dem Alter unausweichlich verbundenen
Verfall und begann, um dem Eindruck der Verletzlichkeit entgegenzuwirken,
seinen von Natur aus eher zierlichen Körper als Material zu betrachten, aus dem
es mithilfe von Bodybuilding und Schwertkampfübungen eine erotische Skulptur
herauszumeißeln galt. Dank einer gnadenlosen Selbstdisziplin hatte er bald den
muskelgestählten Körper, den er sich wünschte. So wurde er sein eigenes Ideal –
der Held, den er als Kind so bewundert hatte. Er verließ die Universität Tokio
1947 mit einem Abschluss in Jura und arbeitete zunächst im Finanzministerium,
kündigte aber innerhalb eines Jahres, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben.
„Sehnsucht und Sucht zugleich“
1949 gelingt
ihm mit „Geständnis einer Maske“ sein erster Erfolg. Das streckenweise
autobiographische Werk ist das Porträt eines sensiblen, von Selbstzweifeln
bedrängten Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein: „Mein Selbstbetrug war der
einzige zuverlässige Halt in meinem Leben“, erklärt der Ich-Erzähler, der die „Leser
zu Zeugen einer Selbstzerfleischung“ macht, befindet Jonas Lages im Tagesspiegel. Bereits hier treten
zahlreiche Themen auf, die sich wie rote Fäden durch Mishimas Werk ziehen: die
Todessehnsucht, die erotische Zuneigung zu Knaben, die auffallende Betonung von
Brust- und vor allem Achselhaar an männlichen Körpern – eine „Tonfolge
Schönheit-Liebe-Tod“ erkennt Raddatz: „Das Buch ist eine schwarze Messe,
Zeremonie von Lust aus Qual und Quälen, ein Gesang in der Tradition Walt
Whitmans von der Schönheit zum Tode hin, Sehnsucht und Sucht zugleich. Was dann
Basso continuo seines gesamten Werks werden sollte; seines Lebens, dessen
schwarze Räusche und blutrünstige Fantasien er gleichsam aufschrieb in Romanen,
Gedichten, No-Spielen: Das ist, einem Notenschlüssel gleich, alles bereits in
dem furiosen Erstling angelegt.“
Ein hier eingeführtes, wiederkehrendes Motiv ist die Figur des Heiligen Sebastian, des römischen Soldaten, der zum christlichen Märtyrer wurde. 1966 ließ sich Mishima für eine Übersetzung von Gabriele d’Annunzios Bühnenwerk „Märtyrertum des heiligen Sebastian“ in der Pose fotografieren, die Guido Reni für sein Sebastian-Gemälde ausgewählt hatte: mit nacktem, von mehreren Pfeilen durchbohrtem Oberkörper – wobei ein Pfeil markant aus seiner linken, schwarz behaarten Achselhöhle herausragt. Rasch avancierte er zu einem auch international erfolgreichen und gefeierten Schriftsteller, der auf dem quantitativen Höhepunkt seines Schaffens bis zu drei Romane und ein Dutzend Kurzgeschichten im Jahr schrieb.
Werkauswahl. Quelle: eigene Collage
Aus der
breiten Masse der in den 50er Jahren entstandenen Werke stechen „Die Brandung“
(1954), eine zeitgenössische japanische Interpretation der antiken
Liebesgeschichte um Daphnis und Chloe, und „Der goldene Pavillon“ (1956)
hervor. Hierin erzählt Mishima von dem authentischen Fall des Priesteranwärters
Mizoguchi, der im Nachkriegsjapan einen der schönsten buddhistischen Tempel,
der den Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat, anzündet:
„Die außergewöhnliche Klarheit des Frühlingshimmels erschien mir manchmal wie
der Glanz der kühlen Klinge einer Axt, groß genug für die ganze Erde. Ich
wartete nur, dass sie herniedersausen würde“, heißt es in dem Ideenroman.
Wenngleich
er sich nicht im Psychogramm eines Brandstifters erschöpft, den der
Schriftsteller eigens im Gefängnis besuchte, sind die menschlichen Schwächen
des Helden nicht ohne Bedeutung: Mizoguchi stottert und findet sich hässlich.
Er erfährt Ablehnung bei seinen Kameraden. Er ist in ein Mädchen verliebt,
Uiko, die ihn verschmäht und vor seinen Augen von ihrem Liebhaber erschossen
wird. Schließlich findet Mizoguchi zwei Freunde: den freundlichen,
wohlwollenden Tsurukawa und den zynischen Kashiwagi, einen ebenfalls gehandicapten
Mitschüler, von dem er mit düsteren Obsessionen manipuliert wird.
Es sind
dies, wenn man so will, die Zutaten eines klassischen Bildungsromans,
allerdings vor einem radikal-pessimistischen Hintergrund. Frauen beispielsweise
treten hier vornehmlich in Gestalt von Prostituierten auf. Der Abt des Tempels,
Roshi, vergnügt sich gern mit ihnen, was ihm die Verachtung des Erzählers
einträgt. „In den Irrungen des Zöglings kondensieren Verblendung, politischer
Wahn, Suche nach dem Absoluten, Selbstüberschätzung und
Minderwertigkeitsgefühle“, erkennt Dirk Fuhrig im DLFKultur. Das Buch zeige,
wie sich ein junger Mensch in eine fixe Idee verrennt und aus seiner einsamen
Welt nicht mehr herauskommt.
„der Himmel voll mit schönen, jungen
Menschen“
Durch seine steigende Popularität war Mishima häufig auf Reisen und lernte fremde Kulturen kennen, die er in seine Arbeit einfließen ließ. So wohnte er 1952 einige Zeit in Griechenland und 1957 in den USA. Verbittert und unvermittelt brach er seinen Aufenthalt am Silvestertag ab: Ihn hätten Selbstsucht und die Fixierung auf Materielles angeödet, wie sein englischer Übersetzer Donald Keene mit Blick auf das nicht ins Deutsche übersetzte „Reisebilderbuch“ Mishimas feststellt. Nach kurzer Verlobung mit der Anglistin Michiko Shōda, die danach Kaiser Akihito heiraten sollte, nahm Mishima 1958 Yoko Sugiyama zur Frau, mit der er zwei Kinder hatte. Die Unklarheit über Mishimas sexuelle Orientierung war ein laufender Konflikt zwischen ihm und seiner Ehefrau, die bis nach seinem Tod verneinte, dass Mishima jemals Interesse am eigenen Geschlecht gehabt habe. Im Jahre 1998 veröffentlichte der japanische Autor Jiro Fukushima einen Brief, in dem er eine sexuelle Affäre mit Mishima beschreibt. Dessen Kinder verklagten Fukushima daraufhin erfolgreich auf Unterlassung.
Mishima bei der Linken-Debatte. Quelle: https://philipbrasordotcom.files.wordpress.com/2020/03/184260_1.jpg?w=640
Literarisch
näherte sich Mishima erstmals 1960 politischen Themen an. Der Roman „Nach dem
Bankett“ erzählt von den Verstrickungen eines Diplomaten in politische
Machtstrukturen, zweifelhafte Geldgeschäfte und private Liebschaften. Die
Geschichte beruht auf einem authentischen Fall – die Romanfigur ist an einen
ehemaligen liberalen Außenminister Japans angelehnt. In der im selben Jahr
erschienenen, wiederum auf realen Ereignissen basierenden Kurzgeschichte „Patriotismus“
erkannte Daniel Napiorkowski vor zehn Jahren in der Sezession „eine deutliche Verbeugung vor dem Ethos des japanischen
Soldatentums“. Beschrieben wird der letzte Abend eines jungen, frisch
verheirateten Leutnants, der gemeinsam mit seiner Frau den Freitod wählt, um
nicht gegen seine Kameraden – aufständische Offiziere – vorgehen zu müssen. In
der fünf Jahre später unter seiner Regie entstandenen Verfilmung spielte
Mishima die Rolle des jungen Offiziers selbst. Inwieweit er hier sein Schicksal
vorwegnahm, ist umstritten.
In einem
Artikel von 1962 schrieb er: „In der Bronzezeit betrug die durchschnittliche
Lebenserwartung der Menschen achtzehn Jahre; zur Römerzeit waren es
zweiundzwanzig. Damals muss der Himmel voll gewesen sein mit schönen, jungen
Menschen. In letzter Zeit muss es dort oben erbärmlich aussehen.“ 1968, als
nicht er, sondern Yasunari Kawabata den Literaturnobelpreis erhielt, gründete
er eine paramilitärische Vereinigung, die sogenannte „Schildgesellschaft“
(Tatenokai), die sich ausschließlich aus jungen Studenten rekrutierte und die
für die Rückkehr der klassischen Kaiserherrschaft eintrat. Es war sein Versuch,
eine an ästhetischen Idealen und traditionellen japanischen Vorstellungen orientierte
Elite aufzubauen. Mishima machte die jungen Männer mit den Tugenden des bushido
vertraut, dem Verhaltenskodex der Samurai, unterrichtete sie in Karate sowie in
Schwertkampf, ließ eigene Uniformen schneidern, ein Wappen entwerfen und
kreierte sogar eine eigene Hymne.
Aufgrund der
strengen Aufnahmevoraussetzungen hatte die Schildgesellschaft niemals mehr als
hundert Mitglieder, was Mishima nur recht war; er sprach von der „kleinsten
Armee der Welt und der größten an Geist“. Die japanischen Medien beachteten
Mishimas private Miliz kaum, und wenn, dann nahmen sie sie als den Spleen eines
exzentrischen Schriftstellers wahr, der eine „Spielzeugarmee“ unterhielt. 1969
nahm Mishima die Einladung radikaler linker Studenten zu einer
Podiumsdiskussion an der Universität von Tokio an, deren verschollener
Mitschnitt im April 2020 wieder auftauchte. Es entwickelte sich ein teilweise
recht aggressives Streitgespräch, während dem Mishima seine politischen
Standpunkte, insbesondere seine Verehrung des Kaisers bekräftigte, aber auch
Berührungspunkte zu den linken Studenten betonte. Er schloss seine Rede mit dem
Versprechen: „Eines Tages werde ich aufstehen gegen das System, so wie ihr
Studenten aufgestanden seid – aber anders.“
„Lang lebe der Kaiser!“
Was er darunter verstand, wurde dann am 25. November 1970 sichtbar. Gemeinsam mit vier Mitgliedern seiner Privatarmee verschaffte er sich Zugang zum Hauptquartier der Streitkräfte Ost in Tokio, nahm den kommandierenden Offizier, General Kanetoshi Mashita fest und machte zur Bedingungen seiner Freilassung, auf dem Balkon vor dessen Büro eine Rede zu halten. Es sei ihre Aufgabe, appellierte er an Hunderte im Hof der Kaserne versammelte Soldaten und Zivilangestellte, das durch die Herrschaft des Tenno repräsentierte traditionelle Japan vor dem Zugriff des Westens zu schützen, und rief die Armee zur Besetzung des Parlaments und zur Wiedereinsetzung des Kaisers auf. Zu verstehen war von seinen Worten am Ende kaum etwas: Zu laut waren die herbeigeeilten Helikopter. „Steht auf und sterbt!“ war allerdings deutlich vernehmbar. Mit der dreimal ausgestoßenen Formel „Lang lebe der Kaiser!“ beendete der Schriftsteller seinen Aufruf.
Mishima bei seiner Ansprache. Quelle: https://im-wald-des-tapio.blogspot.com/2010/11/hagakure-nyumon-zu-einer-ethik-der-tat.html
Was wie ein
heroischer Akt des Patriotismus wirken sollte, endete als Farce. „Sie haben mir
nicht einmal zugehört“, sagte er anschließend seinen im Büro des gefesselten
Mashita wartenden Gefolgsleuten. Beirren ließen sich die Verschwörer davon
nicht, im Gegenteil. Nun begann der finale und ausgesprochen blutige Teil des
von langer Hand geplanten Spektakels: die rituelle Selbsttötung Mishimas, auch
Seppuku genannt. Er schlitzte sich mit einem Dolch den Bauch auf und ließ sich
von seinem Gefährten Masakatsu Morita mit dem Schwert den Kopf abschlagen.
Unmittelbar nach der blutigen Tat folgte Morita dem geliebten Meister auf
dieselbe, ausgesprochen schmerzhafte Weise in den Tod. „Zeitlebens hat er in
der Niederlage Japans und im erzwungenen Verzicht auf eine offensiv
ausgerichtete Streitmacht eine tiefe Demütigung gesehen. Auch sein 1970
vollzogener ritueller und grausamer Suizid lässt sich als symbolischer Protest
gegen die Unterwerfung seines Volkes lesen“, bringt Martin Krumbholz im WDR das verbreitetste Deutungsmuster auf
den Punkt.
1968 hatte
Mishima in einem Interview geäußert, dass, anders als das westliche Bild des
Selbstmords, der meist als Niederlage betrachtet werde, „Harakiri einen
manchmal siegen lässt“. In seinem Abschiedsbrief an Keene schrieb er: „Es war
schon seit langem mein Wunsch, nicht als Literat, sondern als Soldat zu sterben“.
Laut der Biografie von Henry Scott Stokes hatte Mishima seinen Suizid bereits
seit einigen Jahren geplant und seinen Todestag ein Jahr im Voraus festgelegt.
Sein Glaube an eine Erfolgsaussicht bezüglich der Restauration des
Kaiserreiches erscheint daher fraglich. Literarisch war er auf dem Höhepunkt
seines Schaffens. Mit „Die Todesmale des Engels“ – das Manuskript hierzu
korrigierte er noch am Vorabend seines Todes und adressierte es an seinen
Verleger – beendete er sein monumentales, vierbändiges Epos „Das Meer der
Fruchtbarkeit“, an dem er die letzten sechs Jahre gearbeitet hatte – Namensgeber
ist eine Geröllwüste auf dem Mond. Insgesamt schuf er mehr als 50 Stücke und 30
Romane.
Er entfremdete sich zunehmend von einer Gesellschaft, die für Begriffe wie Ehre und Tradition immer weniger empfänglich war, meint Napiorkowski: „Alles Kommende hätte dem Gesamtkunstwerk Yukio Mishima an Glorie genommen. Das Todesfanal aber vollendete es auf eine morbide Weise.“ Das Bild mit Mishimas abgetrenntem Kopf ging um die Welt. Sein Verhältnis zu anderen politisch rechtsstehenden Organisationen blieb von Desinteresse geprägt. Erst posthum entdeckten einige Gruppierungen aus dem Umfeld der japanischen „Neuen Rechten“ die politische Strahlkraft Mishimas, allen voran die nationalistische Issuikai, die seit 1972 ein Heldengedenken mit anschließendem Besuch an Mishimas Grab veranstaltet. Sein Leben sowie seine Hauptwerke wurden nicht nur verfilmt, sondern auch musikalisiert, so in „Das verratene Meer“ durch Hans Werner Henze.
Wie es um seine Rezeption – und den Zeitgeist – steht, machten 2019/20 Leserdiskussionen deutlich, die sich unter Rezensionen deutscher Neuübersetzungen seiner Hauptwerke „Geständnis einer Maske“ und „Der goldene Pavillon“ entsponnen. Die Neuauflage spräche für einen Zeitgeist, „in dem rechtsnationales Gedankengut wieder popularisiert wird“, hieß es etwa im Tagesspiegel. „Es bleibt zu hoffen, dass uns eine Wiederauflage der Blut-und-Boden-Schundliteratur mit ihren lächerlichen Heroisierungen des ‚männlichen Kriegers‘ und des sogenannten Heldentods fürs Vaterland erspart bleibt“, kommentiert ein weiterer. Und ein dritter befindet: „Obwohl Faschist, ist er sicherlich keine Identifikationsfigur für simpel gestrickte hiesige rechtsradikale Dumpfbacken, dazu dürfte seine Welt denen zu fern sein. Ich staune nur, mit welcher Unbedarftheit das hiesige unverdächtige literarische Establishment (Kritik, Verlagswesen) diesem Autor gegenübertritt.“ Das lässt tief blicken und ist ein Armutszeugnis sowohl für das Niveau kulturellen Welt- und Selbstverständnisses hierzulande als auch für den Zustand linkspolitischer Arroganz, die sich in alleinigem Wahrheitsbesitz wähnt.
In die politische Geschichte des Landes ging er ein als
wirkmächtigster Literat. Während es der vor wenigen Monaten verstorbene Rolf
Hochhuth zu Lebzeiten mit Hans Filbinger „nur“ zum Sturz eines
Ministerpräsidenten gebracht hatte, fällte er posthum einen
Bundestagspräsidenten: Am 10. November 1988 trägt Ida Ehre, die große alte Dame
des deutschen Theaters, zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 seine Todesfuge im Bonner Bundestag vor. „…Der
Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit
bleierner Kugel er trifft dich genau…“ Sie hat die Worte ins Parlament „hineingebrüllt“,
erinnerte sich der damalige Hausherr Philipp Jenninger. „Alle, die dort saßen,
ich inbegriffen, waren erschüttert von diesem Schrei.“ Jenninger, rhetorisch
nicht ansatzweise zum Kontern begabt, drückt sich auch noch
erinnerungspolitisch missverständlich aus, so dass viele Abgeordnete, nicht nur
der Grünen, schließlich den Saal verlassen. Am Tag darauf tritt Jenninger
zurück.
Diese Todesfuge, 1944/45 als erstes veröffentlichtes Gedicht des Autors entstanden, wurde zum Inbegriff von Holocaust-Lyrik und relativierte auch wegen ihres musikalisierten Duktus‘ Adornos Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Der erschütternde Text, befindet John Felstiner, erweist sich im Sinne ästhetischer Vergangenheitsbewältigung als das „‚Guernica‘ der Nachkriegsliteratur“ – und musste sich trotzdem vorwerfen lassen, dass die „Schönheit“ der lyrischen Umsetzung der Thematik der Judenvernichtung nicht gerecht werde. Wolfgang Emmerich spricht von einem „Jahrhundertgedicht“, Winfried Freund vom „berühmtesten Gedicht der klassischen Moderne“, Harald Hartung gar vom „wichtigsten und folgenreichsten Gedicht der Epoche“. Laut Claus-Michael Ort wurde kein anderes deutschsprachiges Gedicht aus der Nachkriegszeit in vergleichbarem Umfang „Teil einer öffentlichen Kanonisierung, die es als Ganzes sowie einzelne Bildformeln zum sprachlichen Ausdruck des Holocausts erhob“: Die Metapher „Da habt ihr ein Grab in den Wolken, da liegt man nicht eng“ verstört bis heute.
Paul Celan. Quelle: https://ais.badische-zeitung.de/piece/0a/df/ca/a1/182438561-h-720.jpg
Dabei hat sich sein Autor gar drei Mal mit Martin Heidegger
in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg getroffen. 1954 nannte
er ihn in einem nie abgeschickten, fast devoten Brief seinen „Denk-Herrn“: Ihn habe
fasziniert, „dass Heidegger der Dichtung eine Mission und ein Wesen
zugesprochen hat, das sie ganz in der Nähe des ‚Seins‘ platzierte“, so Emmerich.
Nach den Griechen, die diesem „Sein“ näher waren, sehe Heidegger nur noch die
Verfallsgeschichte der Menschheit, manifestiert in ihrer technologischen
Entwicklung. Innerhalb dieser Verfallsgeschichte gebe es nur ein Medium, das
dieses „Sein“ berühren kann – das ist die Sprache und ganz speziell die
dichterische Sprache. Ob Heidegger wirklich auf „eine vertrackte Weise gerührt
war über sich und diesen jüdischen Dichter“, der von ihm „ein klärendes Wort
verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum“, wie Hans-Peter Kunisch
vermutet, ist unklar. Angeblich, schreibt Kunisch, habe der Lyriker, nachdem
der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg („mit einer Hoffnung auf
ein kommendes Wort im Herzen“) nur phrasenhaft reagiert habe, von diesem „gar
nichts mehr erwartet“. Dieser Lyriker wurde am 23. November vor 100 Jahren als
Paul Antschel geboren: Paul Celan.
ohne Lebensvertrauen
Seine Heimatstadt Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, war
bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch, und
galt mit ihren Künstlern, Philosophen, Musikern und Schriftstellern als
vielsprachiges Zentrum deutsch-jüdischer Kreativität. Diese Pluralität prägte
auch Paul, der als Einzelkind in einer deutsch sprechenden, orthodox-jüdischen
Familie aufwächst. Sein strenger Vater Leo ist Vertreter einer Holzfirma. Mit
der Mutter Fritzi teilt der Junge die frühe Begeisterung für deutsche Dichtung.
Zunächst besucht Paul die deutsche, dann die hebräische Volksschule, von 1930
an ein rumänisches, später ein ukrainisches Staatsgymnasium. Mit vierzehn
Jahren feiert er die Bar-Mizwa, vergleichbar mit der protestantischen Konfirmation
im christlichen Kulturraum. Danach wird er nie wieder einen jüdischen
Gottesdienst besuchen.
Nach dem Abitur beginnt er im französischen Tours das Studium der Medizin. Als sein Schnellzug auf dem Weg nach Frankreich Berlin erreicht, hatte die Stadt gerade die Reichspogromnacht hinter sich. Wegen des beginnenden Krieges kehrt er nach Czernowitz zurück und studiert dort Romanistik. 1940 besetzen gemäß der Annexionsbestimmungen des Hitler-Stalin- Pakts sowjetische Truppen die Stadt. Ein Jahr später trifft die SS-Einsatztruppe D in Czernowitz ein. Das Judenviertel wird zum Ghetto erklärt, ab Oktober 1941 werden 55.000 Juden in die Vernichtungslager Transnistriens deportiert. Nur 5.000 Menschen überleben.
Gedenktafel an seinem Geburtshaus. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/5/53/Celan-Tafel_%28Czernowitz%29.jpg/1280px-Celan-Tafel_%28Czernowitz%29.jpg
Der 21jährige wird vierhundert Kilometer südlich von Czernowitz
als Straßenbauer eingesetzt – in einem von den Rumänen eingerichteten
Arbeitslager. Dadurch entgeht er der Deportation. Als er im Juni 1942 seine
Eltern in Czernowitz besuchen will, findet er die Wohnung leer vor – sie waren nach Transnistrien geschafft
worden. Sein Vater stirbt dort kurz darauf an Cholera, seine Mutter wird im
folgenden Winter mit einem Genickschuss umgebracht. Die Deportation seiner
Eltern und ihr Tod hinterließen tiefe Spuren in Paul. Er litt für den Rest
seines Lebens unter dem Gefühl, seine Eltern im Stich gelassen zu haben. In
seinen Gedichten sind zahlreiche Verweise auf dieses Trauma der „Überlebensschuld“
zu finden: „Sprachvertrauen ist nichts ohne Lebensvertrauen und das war ihm
zerstört worden“, meint der Theologe Karl-Josef Kuschel im DLF.
„Der liest ja wie
Goebbels“
Nach der Einnahme durch die Rote Armee kehrte Paul im
Dezember 1944 nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium wieder auf. 1945
übersiedelte er nach Bukarest und studierte dort weiter, war später als Übersetzer
und Lektor tätig und nennt sich nun Celan – ein Anagramm des rumänisierten
Ancel. 1947 floh er über Ungarn nach Wien und siedelte 1948 nach Paris über, wo
er bis zum seinem Tod als Lyriker, Übersetzer, Sprachlehrer und Dozent der
Ecole Normale Superieure arbeitete – das Sprachgenie übersetzt Texte von über
vierzig Autoren in sieben Sprachen, darunter der Creme de la Creme der
Weltliteratur: Apollinaire, Baudelaire, Éluard, Jewtuschenko, Mallarmé, Pessoa
oder Shakespeare. Noch im selben Jahr erschien in Wien mit Der Sand aus den Urnen sein erster Gedichtband mit der Todesfuge, dessen gesamte Auflage er
jedoch wegen zahlreicher Satzfehler einstampfen ließ.
Hier begegnet er Ingeborg Bachmann, die zur Liebe seines Lebens wurde – der Briefwechsel Herzzeit (Frankfurt 2008) kündet davon. Inhalt und Form seiner Gedichte ändern sich radikal. Der Tod, das Schicksal des jüdischen Volkes und der ferne Gott durchziehen seine Texte – selbst die Liebesgedichte. Der Reim verschwindet immer mehr aus seinem Werk. „Diese Dialektik von Muttersprache und Mördersprache ist einer der Schlüssel, um zu verstehen, wie er seine Gedichte schreibt“, befindet Kuschel.
Paul und Gisèle. Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/media/thumbs/4/40d6f45ef557efb5791afef63bf1582cv1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=c8dc22
Vier Jahre später veröffentlicht Celan seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die
25-jährige Tochter des Marquis de Lestrange, Gisèle, mit der er im
großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps logiert.
Im selben Jahr las er zum ersten und letzten Mal vor der Gruppe 47 – ein
Desaster, erinnerte sich Walter Jens: „…er las sehr pathetisch. Wir haben
darüber gelacht. ‚Der liest ja wie Goebbels‘, sagte einer. Das war eine völlig
andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit. … Hans Werner Richter war der
Ansicht gewesen, Celan habe ‚in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge‘“.
Celan entwickelte zwar Freundschaften mit deutschen
Schriftstellerkollegen, doch die endeten regelmäßig in Zerwürfnissen. Das
betraf vor allem das deutsch-französische Schriftstellerpaar Yvan und Claire
Goll. Nach dem Tode ihres Mannes erhebt Claire Goll 1960 öffentlich
Plagiatsvorwürfe, auch gegen die Todesfuge.
Der Dichter wird zwar später von den Anklägern vollständig rehabilitiert, aber
seine Psyche erleidet durch die „Plagiatsaffäre“ dauerhaften Schaden: „Celan
war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an
seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche ‚Hitlerei‘“, so Iris
Radisch in der Zeit.
Beeinflusst vom französischen Symbolismus und Surrealismus, gilt er dennoch als der bedeutendste Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind, die er in die geistigen Traditionen des Judentums der letzten dreitausend Jahre einzubetten versuchte, sie mit religiösen Motiven verband, vor allem aus dem Alten Testament. Seine Zweifel, sein Glauben-Wollen, aber nicht können, werden ihn bis zu seinem Tod begleiten.
Deutsche Gesamtausgabe. Quelle: https://images-eu.ssl-images-amazon.com/images/I/41gf3S7tqWL.AC_UL600_SR372,600.jpg
Sein erster Sohn stirbt bald nach der Geburt. 1955 wird
Claude Francois geboren, zugleich erhielt Celan die Staatsbürgerschaft der
Republik Frankreich. In den 1960er Jahren erscheinen Gedichtbände, die ihn,
inzwischen Büchner-Preisträger, weltberühmt machen, etwa Die Niemandsrose, Atemwende
oder Fadensonnen. Seine ungeheure
Sprachverdichtung gilt als Indiz für seine zunehmende psychische Implosion, die
zu mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken führt. So wollte er in
einem Wahnzustand einmal sich selbst umbringen, in einem anderen seine Ehefrau
mit einem Messer töten. Seit November 1967 lebten sie getrennt voneinander,
blieben aber in Verbindung.
„Man hat mich
zerheilt“
Im Oktober 1969 unternahm Celan seine einzige Reise nach
Jerusalem – ein weiteres Desaster. Er sieht sich nicht in der Lage, sich mit
einem Leben dort zu identifizieren, fühlt sich aber auch in seiner Pariser
Exilheimat zunehmend einsam. An seine Jugendliebe Ilana Schmueli schreibt er:
„Ich muss täglich in meine Abgründe hinab. Jeder Tag ist eine Last. Das, was Du
‚meine Gesundheit‘ nennst, kann es wohl nie geben. Die Zerstörungen reichen bis
an den Kern meiner Existenz. Man hat mich zerheilt.“
Im Februar 1970 tauchte plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der kurz darauf entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien. Eine weitere Plagiatsdiskussion wollte Celan womöglich nicht mehr erleben; sie blieb übrigens aus. Am 1. Mai 1970 findet ein Fischer seinen Leichnam in der Seine – zehn Kilometer abwärts von Paris. Wahrscheinlich hat er sich in der Nacht vom 19. auf den 20. April am Pont Mirabeau in der Nähe seiner Wohnung in den Fluss gestürzt. Einen Abschiedsbrief gibt es nicht. „Er hat sich“, schreibt Gisèle an Ingeborg Bachmann, „den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.“
Aus seinen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität
seiner Anfänge verschwunden: „Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie
Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde
des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen“, befindet Radisch. Seine
„weltliterarisch fast einzigartige Wirkung“ bestehe darin, dass er in einer
„durch die Gräuel des Massenmordes hindurch gegangenen Sprache schreibe“, ohne
„je der Illusion anzuhängen, ,über‘ Auschwitz und die Millionen von Opfern mit
den Mitteln des Abbildrealismus schreiben zu können“, fasst Emmerich sein
Wirken zusammen. Zu Ehren des nachdichtenden Übersetzers stiftete der Deutsche
Literaturfonds 1988 den Paul-Celan-Preis für ebenfalls herausragende
Übersetzerleistungen. Sein Nachlass liegt im Marbacher Literaturarchiv, auch
die Handschrift der Todesfuge.
„Ich habe nie eine Zeile gedichtet, die nichts mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte. Ich bin, Du siehst es, Realist auf meine Weise“, schreibt der Dichter anfangs der 60er Jahre an einen Freund. Spätestens seit dieser Zeit hat er die Todesfuge nicht mehr gelesen, er hielt sie für „lesebuchreif gedroschen“. Hans Mayer, selbst Jude, gebrauchte die Formulierung, Celan habe sie „zurückgenommen“. Celan entgegnete: „Ich nehme niemals ein Gedicht zurück, lieber Hans Mayer.“ Den Vers „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat übrigens Heiner Müller noch zu Zeiten der DDR adaptiert zu „Deutschland dein Meister ist der Tod“. Darüber kann man nun lange nachdenken.
Als 1938 eine amerikanische Filmzeitschrift zur Wahl des Königs von
Hollywood aufruft, stimmt eine überwältigende Mehrheit für ihn. Sein freches
Grinsen, sein spöttischer Blick unter hochgezogenen Augenbrauen und sein
raubeiniger Charme lassen viele Frauen in den Kinosesseln dahinschmelzen. Auch
manche Männer mögen ihn: Ein richtiger Mann, der zupacken und draufhauen kann. Er
verkörpert den amerikanischen Traum: Der Aufsteiger, der es aus eigener Kraft
nach oben geschafft hat und der bei aller lässigen Eleganz nie seine Herkunft
aus den Hinterhöfen verleugnet: Clark Gable. Am 16. November 1960 erlag er Los
Angeles einem Herzinfarkt, den Marilyn Monroe mitverschuldet haben soll.
Geboren wurde Gable am 1. Februar 1901 in Cadiz in Ohio, wobei William Clark in der Geburtsurkunde als weiblich erfasst wurde, was sich später sogar noch in Schulzeugnissen bemerkbar machte, bevor der Fehler dann ebenso korrigiert wurde wie später der Nachname: Das deutsche „Goebel“ passte nicht im Ersten Weltkrieg. Als seine Mutter früh starb, zeigte sich der Vater, ein deutschstämmiger Ölarbeiter, mit der Alleinerziehung völlig überfordert und gab das Kind zunächst in die Hände von Pflegeeltern. So verbrachte der Junge eine kurze Zeit auf der Farm seines Onkels Charles in Pennsylvania. Nach zwei Jahren fühlte sich sein Vater der Aufgabe gewachsen, heiratete eine neue Frau und holte seinen Sohn wieder zu sich. Das Leben wurde dadurch nicht einfacher. Bald geriet der Vater in finanzielle Schwierigkeiten und musste mehrfach den Job wechseln, darunter arbeitete er als Krawattenverkäufer. Mit sechzehn Jahren wurde Gable von der High School verwiesen und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Clark Gable. Quelle: https://prod-images.tcm.com/Master-Profile-Images/ClarkGable.jpg
Große Anziehungskraft übte das Theater auf ihn aus. Er spielte zunächst
kleinere Rollen und wurde Mitglied verschiedener Wandertheater. Fast zehn Jahre
tingelte er als Statist auf Tourneebühnen, bis er am Broadway landete und dank
seiner virilen, teilweise ungehobelten Ausstrahlung gute Kritiken bekam. In der
Zeit der Großen Depression 1929, die auf den Börsencrash folgte, wurde Hollywood
auf ihn aufmerksam, nachdem er bereits kleine Statistenrollen wie in „Die
lustige Witwe“ von Erich von Stroheim übernommen hatte. Zunächst wegen seiner
Segelohren als „Taxi mit offen stehenden Türen“ verspottet, erwies er sich als
der rechte Mann zur rechten Zeit: Das von der Wirtschaftskrise gebeutelte
Publikum war ganz wild nach dem Draufgänger mit dem schiefen Grinsen. Hinzu kommt die Bekanntschaft mit der
Theatermanagerin Josephine Dillon, die ihm auch Schauspielunterricht gab – 17
Jahre älter, aber mit den richtigen Verbindungen. Die 1930 schon wieder
beendete Ehe mit ihr öffnete ihm die Türen ins Filmgeschäft.
„moderner
Rudolfo Valentino“
Er ergatterte zunächst eine Nebenrolle im
Western „The Painted Desert“ und begann mit seiner Rolle eines gewalttätigen
Gangsters und Verführers im Drama „Der Mut zum Glück“ einen kometenhaften
Aufstieg. Schon 1931 spielte der Newcomer in neun Filmen und zählte zu den zehn
kassenträchtigsten Stars. Aber was für Unsympathen spielt Gable, was für Widerlinge,
Scheusale, Draufgänger und Gangster: In „Night Nurse“ schlägt er Barbara
Stanwyck ins Gesicht, in „Helgas Fall und Aufstieg“ warf er eine Prostituierte
die Treppe hinab, und Norma Shearer wird in „Der Mut zum Glück“ als
wohlerzogene Tochter der besseren Gesellschaft von Gable schlecht behandelt. Und
doch liegt ihm die Frauenwelt zu Füßen. Nach den Schlägen gegen Shearer wird
Metro-Goldwyn-Mayer mit Briefen bombardiert: Keine Proteste – die Fans wollen
sich freiwillig von Gable schlagen lassen.
1932 trat er als charmanter Flegel bereits das zweite Mal neben Jean Harlow auf, beide erweisen sich als profitables Gespann. Gable wird außerdem acht Mal neben Joan Crawford, sieben Mal an der Seite von Myrna Loy und dreimal an der Seite von Norma Shearer zu sehen sein. Obwohl ihn sein Image als Schurke und Gigolo bald anödete, musste er von seinem Filmstudio Metro-Goldwyn-Meyer quasi dazu gezwungen werden, 1934 als Reporter in Frank Capras Screwball-Spaß „Es geschah in einer Nacht“ aufzutreten. Für die gewagte, von der Zensur kritisch beäugte Liebeskomödie bekam Gable, der sich stets nur für einen Selbstdarsteller hielt, zu seiner Überraschung 1935 den Oscar. Der Film, der ihn mit nackter Brust unter dem offenen Hemd zeigte, machte ihn zum Sexsymbol – und stürzte angeblich Unterhemdfabrikanten in den Ruin, bis Marlon Brando und sein weißes T-Shirt in „Endstation Sehnsucht“ 1951 den Trend wieder umkehrten. Legendär sind seine vielen Affären, unter anderem mit Jean Harlow, Joan Crawford, Grace Kelly – und Loretta Young, die schwanger wurde. Sie musste nach Europa reisen, um die Schwangerschaft geheim zu halten, und brachte dort eine Tochter zur Welt. Gable gab die Vaterschaft niemals zu.
Gable und Charles Laughton in „Die Meuterei auf der Bounty“. Quelle: https://cdn.britannica.com/79/77079-050-A3B10897/Crew-members-Bligh-HMS-Bounty-Charles-Laughton-1935.jpg
Auf dem Gipfel seines Ruhmes war Gable, den Kritiker auch als „modernen
Rudolfo Valentino“ bezeichneten, der einzige MGM-Darsteller mit einem
lebenslangen Vertrag und kassierte ein jährliches Gehalt von 300 000 Dollar.
Neben diesen Glanzrollen aber drehte er meist anspruchslose Starvehikel wie „Meuterei
auf der Bounty“ – hier war er für seine Verkörperung des Seeoffiziers Fletcher
Christian erneut für den Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert, – „Der
Draufgänger“ und „Zu heiß zum Anfassen“, deren Titel verraten, um was es ging.
Nach dem Scheitern seiner zweiten Ehe mit der wiederum 17 Jahre älteren
texanischen Millionenerbin Maria Langham heiratet er 1939 in dritter Ehe seine
große Liebe, die Schauspielerin Carole Lombard. Davor hatte er den Film
abgedreht, dessen später legendäre Hauptrolle als Rhett Butler er nur zögerlich
angenommen hatte und der ihm doch auf ewig einen Platz in der Filmgeschichte
sichert: „Vom Winde verweht“.
„große
Leistung der Amerikaner“
Das Südstaatenepos um die Liebe in Zeiten des Bürgerkriegs nach dem
gleichnamigen Roman von Margaret Mitchell war mit fast vier Stunden Laufzeit
seinerzeit der Film mit der längsten Spieldauer, außerdem mit
Herstellungskosten von rund vier Millionen US-Dollar der teuerste Film
überhaupt. Vom American Film Institute wurde er auf Platz 4 der 100 größten
US-Filme aller Zeiten gewählt. Mit einem inflationsbereinigten Einspielergebnis
von rund 7,2 Milliarden US-Dollar (2019) gilt der für 13 Oscars nominierte
Streifen bis heute als kommerziell erfolgreichster der Filmgeschichte. In
Umfragen rangiert er noch vor „Star Wars“; in Großbritannien war er noch 2004 der
meiste gesehene Film überhaupt.
Die Premiere im Grand Theater in Atlanta war das Ereignis des Jahres. Dafür hatte der Gouverneur von Georgia den 15. Dezember 1939 zum Feiertag ausgerufen – vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte aus Anlass einer Kino-Premiere. Viele Schaulustige waren als Hommage an den Film in Kostümen aus der Bürgerkriegszeit erschienen. Gable, der ihn übrigens als „Film für Frauen“ geringschätzte, wird im DLF mit Sätzen wie diesem zitiert: „Als ich meine erste Liebesszene spielen musste, war ich zu Tode erschrocken. Der Regisseur meinte, ich sollte einen verlangenden Gesichtsausdruck mimen. Daraufhin dachte ich an ein riesiges, halb durchgebratenes Steak. Es klappte so gut, dass ich diesen Trick seither immer wieder verwende“.
Gable und Carole Lombard. Quelle: https://www.classichollywoodcentral.com/wp-content/uploads/2015/09/Clark-Gable-and-Carole-Lombard.jpg
Er habe in der Szene nicht weinen wollen, in der er von der Fehlgeburt
seiner Frau erfährt, erklärte Kollegin Olivia de Havilland 2004 im Spiegel. „Er dachte, es sei unmännlich.
So waren Männer damals konditioniert. Es war so schade, dass sie diese Gefühle
unterdrücken mussten“. Regisseur Fleming habe damals alles versucht und Gable
sogar bei seiner Berufsehre gepackt. „Am Ende gab es einen letzten Versuch“, so
de Havilland. „Ich sagte ‚Ich weiß, dass du es kannst und du wirst wunderbar
sein‘. Tja, und bevor die Kamera zu laufen begann, konnte man bereits die
Tränen in seinen Augen sehen.“ Bis heute schmachten Frauen unter seinem
spöttischen Blick. Und das, obwohl sein letzter Satz gegenüber der ihr Herz
ausschüttenden Scarlett ist: „Frankly, my dear, I don‘t give a damn“ („Ehrlich
gesagt ist mir das gleichgültig“). Der Satz wurde vom American Film Institute
zum bedeutendsten US-Filmzitat überhaupt gewählt.
Dass der Film erst mit 14-jähriger Verspätung in die deutschen Kinos kam,
war zunächst der NS-Filmpolitik geschuldet, die mit ihrem Anspruch auf den
ersten Platz in der Filmwelt Roman wie Film verbot. „Clark Gable ist nicht nur
ein kluger, sondern auch ein schöner Mann“, sagt Eva Braun in Philippe Moras
nachsynchronisiertem Kompilationsfilm „Swastika“ (1973), weshalb Hitler auf
Gable, den er tatsächlich geschätzt haben soll, eifersüchtig geworden sei. Joseph
Goebbels schrieb am 30. Juli 1940 in sein Tagebuch: „Großartig in der Farbe und
ergreifend in der Wirkung. Man wird ganz sentimental dabei. Die Leigh und Clark
Gable spielen wunderbar. Die Massenszenen sind hinreißend gekonnt. Eine große
Leistung der Amerikaner. Das muss man öfter sehen. Wir wollen uns daran ein
Beispiel nehmen. Und arbeiten.“
„an den
Rand eines Herzinfarkts gebracht“
Mit Carole Lombard lässt sich Gable auf einer Ranch in Encino nieder, auf der er bis zu seinem Tod leben wird. Gemeinsam gingen sie fischen, jagen, wurden sesshaft und gesellig. 1940 erlitt Carol eine Fehlgeburt. Ausgerechnet eine Kriegsanleihenverkaufstour kostete sie dann 1942 bei einem Flugzeugabsturz nahe Las Vegas das Leben. Das Unglück war ein schwerer Schlag für Gable, der sogar zur Unglücksstelle flog, seitdem nicht mehr als derselbe galt und dem Alkohol mehr zuzusprechen begann als ihm zuträglich war. Um der Leere zu entkommen, meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, den er bis 1945 als Bomberpilot absolvierte. Die gesamte Ausbildung in der US Army zum Kanonier wurde gefilmt, eine vierköpfige Filmcrew begleiteten Gable während der ganzen Zeit. Fünfmal flog Bordschütze Gable Angriffe in einer B-17 mit.
Gable in „Vom Winde verweht“. Quelle: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtagdezembervierzehn118~_v-gseapremiumxl.jpg
Nach dem Krieg – die Entlassungsurkunde von Major Gable hatte ein Offizier
namens Ronald Reagan unterschrieben – erlebte er nur ein verhaltenes Comeback: Bei
seinen Erfolgen wäre er heute ein Top-Star, in Hollywood dagegen war er eins
unter vielen Gesichtern. Er spielte den „Mann ohne Herz“ (1945), den „Mann am
Scheideweg“ (1947), blieb der charmante Herzensbrecher in der Komödie „Der
Windhund und die Lady“(1947), glänzte als draufgängerischer Abenteurer in
William A. Wellmans großem Western „Colorado“ (1951), in John Fords
Afrika-Drama „Mogambo“ (1953) mit Ava Gardner und Grace Kelly sowie in drei
großen Filmen von Raoul Walsh. Sehenswert sind auch die Abenteuerkomödie „Es
begann in Moskau“ (1953), das Kriegsdrama „U23 – Tödliche Tiefen“ (1958), die Doris-Day-Komödie
„Reporter der Liebe“ (1958) und die turbulent-romantische Komödie „Es begann in
Neapel“ (1960) mit Sophia Loren.
Ehefrau Nummer vier war 1949 das Model Sylvia Ashley geworden, 1952 ging
auch diese Beziehung in die Brüche. 1954 hatte er nach einem Direktorenwechsel
MGM verlassen und arbeitete seitdem freiberuflich. Mit der bereits dreimal
geschiedenen Schauspielerin Kathleen „Kay“ Spreckels fand Gable ein neues, wenn
auch kurzes spätes Glück, am 11. Juli 1955 fand die Hochzeit statt. 1960 kam dann
mit „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“, in dem Gable mit der Monroe spielte,
der für beide letzte und nach Auffassung vieler auch jeweils beste Film. Es ist
ein Psychodrama nach einer Vorlage von Monroes Ehemann Arthur Miller – und ein
Psychodrama war auch der Dreh.
Monroe war unzuverlässig, ihre ständige Verspätung reizte Gable bis aufs Blut. Alle waren auf den Erfolg oder auf Monroe eifersüchtig, zudem stand die Crew unter Erfolgsdruck. Freunde hatten ihn vor der nervenaufreibenden Arbeit mit Monroe gewarnt, doch die Gage von 750 000 Dollar – im Schnitt verdiente ein Amerikaner damals gute 5.000 Dollar im Jahr – lockte ihn. Es sei gut, dass die Dreharbeiten sich dem Ende näherten, sagte der 59-Jährige im Herbst, die Monroe habe ihn „an den Rand eines Herzinfarkts gebracht“. Kurz darauf starb er – an einem Herzinfarkt. Die Premiere von „Misfits“ erlebte er nicht mehr mit, ebenso die Geburt seines einzigen Sohnes John Clark Gable im März 1961.
Gable und die Monroe in „Misfits“. Quelle: https://i2.wp.com/www.horsetalk.co.nz/wp-content/uploads/2011/03/clark-gable-marilyn-monroe.jpg?resize=800%2C614
Die Monroe war‘s, sagen seine (weiblichen) Fans. Skeptiker sehen es etwas nüchterner: Jahrelang drei Schachteln Zigaretten am Tag und dazu noch Zigarren zum Whiskey fordern auch von einem Hollywoodstar ihren Tribut. Gable wurde im Großen Mausoleum im Forest Lawn Memorial Park neben seiner dritten Frau, Carole Lombard, beigesetzt. Heute erinnert ein Stern auf dem „Hollywood Walk of Fame“ an den legendären „King of Hollywood“, der vom kernigen, grobschlächtigen Farmer bis zum eleganten Gentleman wandlungsfähig war wie wenige. Bei einer Umfrage des American Film Institute wurde er noch 1999 auf Platz sieben der größten männlichen Filmstars gewählt.
Er galt damals wie heute als umstrittenster deutscher Kaiser.
Zeitgenossen beschrieben ihn als hinterhältig, berechnend und heimtückisch, ja
als Tyrannen; ein „Monster auf dem Thron“ erkennt Gerd Tellenbach. Für Stephan
Draf war er dagegen „der größte Pechvogel, der je auf dem deutschen Kaiserthron
gesessen hat“. Er sei mehrfach traumatisiert gewesen, sein Leben „eine perfekt
inszenierte Tragödie“, denn er habe „erschütternd begriffsstutzig, daran
geglaubt, dass etwas Gutes in den Menschen sei“. Bei aller menschlichen Sympathie, die einem sein
bewegtes und bewegendes Schicksal abzwinge, „kann man ihm doch nur sehr bedingt
historische Größe zusprechen … Schwere Missgriffe der Anfangsjahre stürzten ihn
in einen Konflikt, der den Weg zu einer gesunden Evolution versperrte und an
dem er für seine Person zugrunde ging“, befand auch Theodor Schieffer.
Mit seiner fast 50-jährigen Regierung gehöre er aufgrund seiner Territorialpolitik, der Begünstigung von Städtebürgertum, Reichsministerialität und Judentum („Wormser Privileg“) sowie seiner Landfriedenspolitik zu den bedeutendsten mittelalterlichen deutschen Herrscherpersönlichkeiten, lautete dagegen der Tenor marxistischer Geschichtsschreibung. Als 1900 sein Grab im Dom von Speyer geöffnet wird, ergab sich das Bild „eines großen, starken, untadelig gewachsenen Mannes … die Gestalt eines schlanken, aber kräftigen, beinahe athletischen Mannes, zu allen ritterlichen Übungen geschickt und in ihnen geübt.“ Das kontrastiert mit einem unterstellten „sensiblen Charakter“, mit dem manche seine scheinbare politische Schwäche begründeten.
Heinrich IV. Quelle: https://www.wasistwas.de/files/wiwtheme/wissenswelten/geschichte/Artikel/Gross/PD_HeinrichIV.jpg_b.jpg
Denn den meisten ist er heute präsent durch seinen Canossa-Gang, durch
den das deutsche Königtum „seine Todeswunde“ empfangen habe, wie es Hermann
Heimpel noch in den 50er Jahren formulierte. Das Papsttum mit seinem Streben
nach Vorrangstellung und die deutschen Fürsten mit ihren partikularen
Interessen galten als „Totengräber“ der Kaisermacht, die erst 1871 wieder
auferstehen durfte. Die Fixierung eines Geschichtsbildes auf eine starke
Zentralgewalt und einen mächtigen König musste also zu seiner Verteidigung
führen – Canossa kann als Sinnbild politischer Demütigung ebenso interpretiert
werden wie als politische Weitsicht. Alle seine Gegner habe er überlebt und sei
nur durch Verrat zuletzt doch noch besiegt worden: Die listvolle Entmachtung
des Vaters durch den Sohn galt Karl Hampe gar als „die teuflischste Tat der
ganzen deutschen Geschichte“: Heinrich IV. Am 11. November 1050 kam der Salier in
der Goslarer Kaiserpfalz zur Welt.
Kindheit
und Entführung
Er war nach vier Töchtern der lang ersehnte Thronfolger Kaiser Heinrichs
III. und seiner zweiten Frau Agnes von Poitou und erhielt zunächst den Namen
des Großvaters, Konrad. Schon zu Weihnachten ließ Heinrich III. die anwesenden
Fürsten schwören, dem Thronfolger treu ergeben zu sein. Wohl unter dem Einfluss
des Abts Hugo von Cluny wurde sein Name in Heinrich geändert. Damit der
angesehene Abt, um die Verbindung zur Kirche zu stärken, Taufpate des
Thronfolgers werden konnte, wurde die Taufe bis zum nächsten Osterfest
verzögert. Bereits im Alter von drei Jahren wird er zum Herzog von Bayern
ernannt. 1054 lässt Heinrich III. seinen Sohn vor einer größeren Versammlung
von Adligen zu seinem Nachfolger wählen – die Großen machen die Einschränkung, ihm
nur zu folgen, wenn er sich als gerechter Herrscher erweise. 1055 wird der Fünfjährige
mit der dreijährigen Bertha von Turin verlobt, damit es später eine
deutsch-italienische Machtkonstellation gibt.
Als Heinrich III. am 5. Oktober 1056 unerwartet stirbt, wird der Thronfolge des sechs Jahre alten Heinrich IV. nicht widersprochen. Die Kaiserwitwe Agnes, der ein Liebesverhältnis mit dem Bischof Heinrich von Augsburg, ihrem wichtigstem Berater, nachgesagt wurde, führte für ihren Sohn die Regierungsgeschäfte im Sinne ihres Mannes. Das wurde zum Problem, denn Heinrich hatte auf der Durchsetzung der königlichen Gewalt und Autorität beharrt, die ihn weit über die Fürsten heraushebe. Mit dieser Haltung wich er von der durch clementia, die herrscherliche Milde, geprägten Regierungsweise der Ottonen ab. Gegen die selbstherrliche Art und den autokratischen, allein der Verantwortung gegenüber Gott verpflichteten Regierungsstil rebellierten vor allem die Sachsen und die Bayern.
Anton von Werner: Heinrichs Entführung durch Anno. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Heinrich_IV_(Germany).jpg
Nach einer ersten misslungenen Verschwörung 1057 gelang unter der Führung
des Kölner Erzbischofs Anno 1062 die zweite als Entführung bei einer
Bootspartie in Kaiserswerth bei Düsseldorf. „Kaum hatte er das Boot betreten“,
berichtet der Mönch Lampert von Hersfeld, „da umringten ihn die vom Erzbischof
angestellten Helfershelfer, rasch stemmten sich die Ruderer mit aller Kraft in
die Riemen und trieben das Boot in die Mitte des Stroms.“ In Todesangst springt
der Junge in vollem Gewand in den Fluss und kann gerade noch gerettet werden. Seine
Mutter verzichtet darauf, ihn zurückzuholen. Anno regierte als Reichsverweser, muss
dieses Amt später mit dem Erzbischof von Hamburg-Bremen, Adalbert, teilen, was
zu einem ständigen Konflikt führt, und wird dem jungen König zeitlebens
verhasst bleiben: Als Heinrich am 29. März 1065 die Schwertleite erhält und
somit volljährig war, soll ihn seine Mutter Agnes gerade noch davon abgehalten
haben, das Schwert, das er eben umgürtet bekommen hatte, gegen den verhassten Erzbischof
zu erheben.
Sachsenkriege
und Investitursteit
Ein Jahr
später heiratet er Berta. Ein 1069 eingereichtes Scheidungsverlangen wurde von
Papst Alexander II. abgelehnt, was ihn dazu veranlasste, sich seinem Schicksal
zu fügen. 1070 bekam das Königspaar eine Tochter und bald darauf auch einen
möglichen Thronfolger. Der junge König begann seine Vorstellung eines
befehlsorientierten Königtums zu verwirklichen, was zwangsläufig zu Konflikten mit
dem Adel führen musste, die im „Sachsenkrieg“ 1073 – 1075 eskalierten. Als er
sich vor allem im Harzgebiet bemühte, Krongut aus dem sächsischen Kernland
zurückzufordern und es durch Burgen zu sichern, wobei er sich der Hilfe
schwäbischer Ministerialen versicherte, brachte diese Hausmachtpolitik den
sächsischen Adel gegen ihn auf. Bereits im ersten Jahr der Auseinandersetzungen
belagerten die Sachsen die Harzburg und zwangen Heinrich IV., der wiederum
Todesangst erfuhr, in der Nacht des 9./10. August 1073 zur Flucht.
In einem
Anfang 1074 vereinbarten Frieden musste Heinrich erklären, die Burgen wieder abzubauen.
Als das den Sachsen zu langsam ging, plünderten sie die Harzburg und schändeten
zahlreiche Gräber der Salier. Dieses Vorgehen spielte nun Heinrich in die
Hände, da viele Fürsten des Reichs bereit waren, ihn bei seinem Rachefeldzug zu
unterstützen. Am 9. Juni 1075 errang er in der Schlacht bei Homburg an der
Unstrut einen vollständigen Sieg. Die Führer des Aufstands, darunter Otto von
Northeim und der Sachsenherzog Magnus Billung, unterwarfen sich. Zu Weihnachten
gelang es ihm, die Großen eidlich zu verpflichten, seinen 1074 geborenen Sohn
Konrad zu seinem Nachfolger zu wählen.
Unterdessen tat sich eine andere politische Baustelle auf: mit dem Papstwahldekret „In nomine Domini“ war 1059 das Wahlrecht des Papstes an die Kardinalbischöfe übertragen worden, der Kaiser und dessen Nachfolger erhielten ein, eher allgemein formuliertes, Bestätigungsrecht („Königsparagraph“) zugesprochen. Damit sollte der Wahl von Gegenpäpsten und der Beeinflussung der Wahl durch stadtrömische Adelsgruppen entgegengesteuert werden. Im April 1073 wurde unter tumultartigen Umständen gegen den Willen Heinrichs in einer Inspirationswahl der römische Archidiakon Hildebrand als Gregor VII. zum Papst gewählt. Petrus Damiani, ein enger Mitstreiter, bezeichnete ihn als „heiligen Satan“, ja „Zuchtrute Gottes“, gegen den Widerstand zwecklos sei. 1075 verabschiedet Gregor die Bulle „Dictatus Papae“, die in Artikel drei festlegt, dass nur der Papst Bischöfe einsetzen kann, und in Artikel zwölf gar verfügt, dass er Kaiser und Könige absetzen kann. Damit wird das Gefüge des mittelalterlichen Systems aus den Angeln gehoben: ergänzten sich geistliche und weltliche Macht bisher, konkurrieren sie nun miteinander.
Als Heinrich
unter Missachtung des päpstlichen Willens im Erzbistum Mailand sowie den Diözesen
Fermo und Spoleto provokante Personalentscheidungen traf, also ungeliebte
Personen in ihr Amt investierte, forderte der Papst am Neujahrstag 1076
Gehorsam. Heinrich veröffentlichte die Drohungen des Papstes und berief die
Bischöfe des Reichs nach Worms, wo er am 24. Januar 1076 zusammen mit den
beiden Erzbischöfen Siegfried von Mainz und Udo von Trier sowie weiteren 24
Bischöfen eine gepfefferte Antwort formulierte: Er sei entgegen den
Vorschriften des Papstwahldekrets in das Amt gelangt. Die lange Liste der
Vorwürfe an ihn, der im Brief nur „Bruder Hildebrand“ genannt wurde, endet mit
der legendären Aufforderung: „Steige herab, steige herab!“
Gregor VII.
ließ das unbeeindruckt, am 22. Februar 1076 setzte er den König ab,
exkommunizierte ihn und löste alle Christen von den Treueiden, die sie Heinrich
geschworen hatten. Nebenbei setzte er auch noch Siegfried von Mainz ab. Diese
Maßnahmen bewegten die Zeitgenossen tief, ihre ungeheuerliche Wirkung wird in
den Worten des Gregorianers Bonizo von Sutri deutlich: „Als die Nachricht von
der Bannung des Königs an die Ohren des Volkes drang, erzitterte unser ganzer
Erdkreis.“ Nach einer Reihe unglücklicher Umstände – der Brand der Kathedrale
von Utrecht zu Ostern wurde als Zeichen für Gottes Zorn aufgefasst – schwand
seine klerikale Unterstützung. Die immer noch renitenten Fürsten, vor allem Welf
von Bayern, Rudolf von Schwaben und Berthold von Kärnten, witterten Morgenluft
und erklärten im Oktober, nach einer Fürstenversammlung in Trebur, Heinrich müsse
sich bis zum Jahrestag der Exkommunikation vom päpstlichen Bann befreien, sonst
würde man ihn nicht mehr als Herrscher akzeptieren.
Canossa und die Folgen
Angesichts dieses Ultimatums blieb Heinrich im Winter 1076/77 nur der Weg nach Italien, um sich mit dem Papst ins Benehmen zu setzen. Da die feindlichen Herzöge die Alpenpässe belagerten, blieb seiner Familie samt kleinem Gefolge nur der gefahrvolle Weg über den Mont Cenis in Burgund. Nach Lampert von Hersfeld krochen die Männer auf Händen und Füßen, die Frauen wurden auf Rinderhäuten über das Eis gezogen, die meisten Pferde starben oder wurden schwer verletzt. Gregor begab sich auf die Burg Canossa seiner Parteigängerin Mathilde von Tuszien. Heinrich verbrachte im Büßergewand, barfuß und ohne Herrschaftszeichen drei Tage im Vorhof der Burg und flehte unter Tränen der Reue um Erbarmen. Als Vermittler traten unter anderen sein Taufpate Hugo von Cluny und Markgräfin Mathilde auf. Gregor war in der Zwickmühle: Verzeiht er dem König nicht, ist sein Ruf als gütiger Oberhirte beim gemeinen Volk dahin. Er spricht Heinrich vom Kirchenbann los, setzt ihn aber nicht mehr als König ein – was er als Papst eigentlich auch nicht kann, denn das ist Sache der Fürsten.
Canossa in der Darstellung Otto Bitschnaus. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Gregor7_Canossa.jpg
Was dann geschah, ist unter Historikern bis heute strittig. Für die einen
haben die Beteiligten durch ein abschließendes gemeinsames Mahl gezeigt, dass sie
künftig friedlich und freundschaftlich miteinander umgehen wollten. Bischof
Anselm von Lucca berichtet hingegen, Heinrich IV. habe geschwiegen, keine
Speisen angerührt und auf der Tischplatte mit seinem Fingernagel herumgekratzt,
um keine rechtlichen Verpflichtungen einzugehen: Ein gemeinsames Mahl stellte
eine rechtsrituelle Handlung dar, durch die man sich zu einem bestimmten
Verhalten gegenüber dem Tischgenossen verpflichtet. Die Wertung ist dennoch
fast einheitlich: Der Büßergang nach Canossa wird vor allem als taktischer
Schachzug des Königs angesehen, um der drohenden Absetzung zu entgehen, und
schwächte Papst wie Fürsten gleichermaßen.
Denn die hatten nichts Eiligeres zu tun, Rudolf von Schwaben 1077 zum
Gegenkönig auszurufen. Heinrich entsetzte die Herzöge prompt ihrer Ämter und
Lehen, Schwaben gab er 1079 an Friedrich von Büren, der zugleich seiner Tochter
Agnes verlobt wurde und Stammvater der Staufer werden sollte. Der Krieg der
beiden Könige endete am 15. Oktober 1080 in Thüringen mit Rudolfs Tod, der Heinrichs
Anhängern als Gottesurteil erschien: bei seiner tödlichen Verwundung hatte er die
rechte Hand, die Schwurhand, verloren. Zwar wurde im August 1081 mit Graf
Hermann von Salm erneut ein Gegenkönig gewählt, der außerhalb Sachsens jedoch
weitgehend wirkungslos blieb.
Schon einige Monate zuvor hatte Papst Gregor erneut die Exkommunikation
über Heinrich verhängt und dessen Untergang bis zum 1. August 1080
vorhergesagt. Da sich dies nicht erfüllt hatte und die meisten Bischöfe nun auf
der Seite Heinrichs standen, gelang es ihm, mit Clemens III. einen Gegenpapst
zu installieren. Heinrich machte sich nun mit einem Heer erneut auf den Weg
nach Italien und gelangte Pfingsten 1081 bis vor Rom, schaffte aber erst drei
Jahre später den Einmarsch und setzt Gregor VII. ab. Am Ostersonntag ließ er
sich von Papst Clemens zum Kaiser krönen und erreichte damit, trotz je zweier Könige
und Päpste, den Höhepunkt seiner Macht. Als sich Graf Hermann 1088 entnervt in
seine Erblande zurückzog, schlossen die Sachsen endlich Frieden mit Heinrich
und verzichteten auf einen dritten Gegenkönig. Nach dem 1087 seine Frau Berta
gestorben war, heiratete er 1089 erneut: Adelheid (Eupraxia) von Kiew, die sich
schon kurz darauf auf die Seite seiner Gegner schlug. Die Ehe wurde 1095 wieder
geschieden; Heinrich warf seiner attraktiven Frau Untreue vor, angeblich soll
sie sogar ihren Stiefsohn Konrad verführt haben.
Absetzung
und Tod
Von dem sollte schließlich Gefahr für Heinrichs Thron ausgehen. Nachdem sich Clemens III. in Italien nicht behaupten konnte und mit Urban II. ein neuer Papst auf dem Heiligen Stuhl Platz nahm, schlug sich Konrad überraschend auf dessen Seite, weil der ihm die Kaiserkrone in Aussicht stellte und nach Eupraxias Sitten-Vorwürfen Heinrich zum 3. Mal exkommunizierte. Ein daraus resultierender dritter Italienzug endete damit, dass Heinrich drei Jahre in Oberitalien festhing, ehe er nach Norden zurückkehren konnte. 1098 gelang es ihm unter Zustimmung der Fürsten, Konrad zu enterben, seinem jüngeren Sohn Heinrich V. als Nachfolger festzulegen und ein Jahr später als Mitkönig zu krönen. Der daraus resultierende Zwist zwischen Konrad und dem jüngeren Heinrich wurde durch Konrads Gift-Tod im Jahre 1101 endgültig beigelegt.
Die Grabkrone von Heinrich IV. aus der Domschatzkammer des Dom zu Speyer. Quelle: https://www.heraldik-wiki.de/wiki/Datei:Grabkrone_Heinrich_4.jpg
Womit Heinrich IV. allerdings nicht gerechnet hatte: Auch sein zweiter
Sohn Heinrich V. stellte sich gegen ihn, da er um seine Nachfolgeansprüche
fürchtete und die eigenen Thronansprüche dem immer noch gebannten Vater zum
Trotz erhalten wollte. Er trat zur päpstlichen Partei über, nachdem auch ihm
die Kaiserkrone versprochen worden war. Als zu Weihnachten 1105 eine
Reichsversammlung zur Entscheidung des Thronstreits einberufen wurde, ließ der
Sohn den Vater auf der Burg Böckelheim festsetzen und dann vor die Reichsversammlung
in Ingelheim bringen. Hier dankte Heinrich IV. am 31.12.1105 unter härtestem
Druck der Fürsten ab, am 6. Januar 1106 wurde sein Sohn Heinrich V. zum
Nachfolger gewählt. Aber noch einmal bäumte sich der gestürzte Kaiser, entkam
aus Ingelheim, aber starb aber vor einem neuen Entscheidungskampf am 7. August 1106 in Lüttich.
Nach einigen Grabeswirren wurde er nach Speyer überführt und sein Sarg in der noch ungeweihten späteren Afrakapelle abgestellt, weil Bischof Gebhardt ein Begräbnis im Dom verbot – der Kirchenbann war noch nicht genommen. Erst als sein Sohn die Aufhebung erwirkte, wurde er am 7.8.1111 im Dom beigesetzt. Die königsfreundliche Geschichtsschreibung hatte in den erbitterten politischen Auseinandersetzungen teilweise den Charakter von Rechtfertigungs- oder Verteidigungsschriften angenommen. In der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften und Handlungsweisen des Königs wurde häufig eine Gegenposition zu den Angriffen und Verleumdungen der Gegenseite deutlich, meint Tilman Struve aus moderner Perspektive. Gerd Althoff neigte in seiner Biografie dazu, die von Heinrichs Gegnern erhobenen Vorwürfe als Indizien für tatsächliches Fehlverhalten zu werten, und gewinnt den „Eindruck von taktischen Ränkespielen und unaufrichtigem Verhalten“. In seinem recht negativen Gesamturteil überwiegen in Heinrichs Persönlichkeit die „Schattenseiten“´; Heinrich habe „ganz ohne Zweifel die Krise der Königsherrschaft seiner Zeit zu verantworten“.
Tafel an der Canossasäule in Bad Harzburg. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Gang_nach_Canossa
„Die heroische Zähigkeit, mit der er die Stöße auffing, hat die Substanz des ottonisch-salischen Reichsgefüges über die tödlich scheinende Krise hinweggerettet. Freilich musste er die Investiturfrage, an der sich der Streit entzündet hatte, ungelöst seinem Nachfolger hinterlassen“, bilanziert Schieffer und liegt damit sicher richtig. Die ungeheure Wirkungsgeschichte Canossas wird nicht zuletzt im Kulturkampf des Deutschen Reiches von 1871 mit der katholischen Kirche deutlich. Als es zum Konflikt mit der Kurie um die Bestellung eines deutschen Gesandten beim Heiligen Stuhl kam, formulierte Reichskanzler Otto von Bismarck die berühmten Worte: „Seien Sie außer Sorge: Nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig!“
nach über 25 Jahren
bin ich nicht mehr sächsisches, sondern seit wenigen Wochen
baden-württembergisches DJV-Mitglied und, als Pressesprecher der
AfD-Landtagsfraktion, dem Fachausschuss Medienkommunikation (Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit) zugeordnet. Ihrer Rundmail vom 4. November entnahm ich,
dass Sie jüngst zum Landesvorsitzenden gewählt wurden; dazu herzlichen
Glückwunsch. Nach meiner Beschäftigung mit dem Landesverband und seinen diversen
Publikaten sehe ich mich allerdings veranlasst, mit dem Glückwunsch einige
kritische Anmerkungen zu verbinden und in die Form eines Offenen Briefs zu
kleiden.
Den Hintergrund
meiner Anmerkungen bilden primär Ihre drei hintereinander publizierten Artikel
im Mitgliedermagazin Blickpunkt. Das
Medienmagazin für Baden-Württemberg. Die Titel lauten „Es wird ungemütlich“
(01/2020, S.26 ff.), „Grundsätzlich und gelassen“ (02/2020, S. 30 ff.) sowie
„Wichtiger denn je: Pressefreiheit verteidigen“ (03/2020, S. 24) – alle sind
online abrufbar (https://www.djv-bawue.de/landesverband/blickpunkt/).
In diesen Artikeln findet statt, was ich gelinde geschrieben nur als
widerwärtige Hetze gegen andersdenkende Demokraten auffassen kann.
Sekundär sind es
zwei Äußerungen Ihres Dienstherrn, dem SWR-Intendanten
Kai Gniffke. Er hat sich einerseits in der Zeit
gegen ein Auftrittsverbot für AfD-Politiker wie Björn Höcke in Talkshows
ausgesprochen. „Wenn wir anfangen zu unterscheiden, wer bei uns auftreten darf
und wer nicht, kommen wir argumentativ ganz schnell in den Wald“, wurde er
zitiert. Und er hätte „diese Leute nicht nur abzubilden, sondern auch mit denen
zu reden.“ Dass diese Selbstverständlichkeit inzwischen Nachrichtenwert hat,
lässt tief blicken. Denn dem SWR-Staatsvertrag,
der seit 30. Juni 2015 in Kraft ist, entnehme ich unter § 3 Abs. 1, dass er „in
seinen Angeboten einen objektiven und
umfassenden Überblick über das internationale, europäische, bundesweite
sowie im Schwerpunkt über das länder- und regionenbezogene Geschehen in allen
wesentlichen Lebensbereichen zu geben“ hat und „hierdurch auch die
internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund
und Ländern fördern“ soll (Hervorhebungen von mir).
Andererseits hat er
zugegeben, „dass wir bestimmte Haltungen in unserer Belegschaft vielleicht
nicht abbilden“. Anlass war die ARD-Volontärsumfrage
im Novemberheft unseres Bundesfachblatts journalist.
Danach würden sage und schreibe 92 Prozent bei der Bundestagswahl grün-rot-rot
wählen. Die AfD wird dabei gar nicht mehr separat gelistet, sondern zusammen
mit anderen Splitterparteien unter „Sonstige“ mit 3,9 Prozent geführt. Wenn
aber die Präferenzen von Journalisten so krass von jenen der Gebührenzahler
abweichen, ist es praktisch unmöglich, den Sendeauftrag zu erfüllen. Es spricht
nichts gegen eher linksgerichtete Journalisten. Offenbar ist man aber wohl
mittlerweile der Meinung, es spräche etwas gegen konservative und liberale
Journalisten, die das andere Spektrum abbilden.
Das Problem liegt
also nicht zuvorderst in der Abbildung linker Themen und Meinungen, sondern
darin, dass sie kein Gegengewicht, keinen Widerspruch mehr durch Journalisten
mit einem anderen politischen Blickwinkel erfahren. Und dieses Problem, womit
sich zunächst der Kreis formal schließt, ist auch Ihren drei Texten eigen, die
in geradezu beängstigender Weise Ihre politische Voreingenommenheit mit Ihrem
gewerkschaftlichen Engagement wider die AfD und ihre Landtagsfraktion
vermischen – und mit der Sie sich, um in der Metaphorik Kai Gniffkes zu
bleiben, bereits ganz tief im Wald verlaufen haben.
Das mag Ihnen in Ihrer Freizeit gern zugestanden sein, nichtsdestotrotz sorge ich mich sehr darum, welche Auswirkungen diese Vermischung auf Ihre Berichterstattung im SWR zeitigen, auf die anderen DJV-organisierten Redaktionskollegen im Südwesten und – auf Ihre Studenten, da Sie ja einen Lehrauftrag an der HdM erfüllen. Ich war seit 1998 neben-, seit 2002 hauptberuflicher Dozent für Medienkommunikation und –produktion an Universitäten und Hochschulen bundesweit und grüble bis heute, was spätestens seit 2014 passiert ist, um ideologisch so stromlinienförmigen Nachwuchs entstehen zu lassen.
Der Autor als Fraktionspressesprecher 2020. Quelle: Pressestelle der AfD-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg
So mutmaßen Sie im
ersten Text „Bald wird die AfD erste Mitglieder in den Rundfunkrat entsenden.
Spätestens dann könnte es ungemütlich werden. Denn auch das hat die AfD schon
in anderen Institutionen gezeigt, die sie verachtet: Sie ist gewillt, mindestens
den Betrieb zu stören, viele Menschen mit ihren Eingaben, Nachfragen oder
gleich Klagen aufzuhalten und zu binden.“ Ungemütlich, aha. Ein interessantes
Adjektiv dafür, dass die ARD als
Anstalt mit einem Etat, der etwa dem Staatshaushalt der Slowakei entspricht,
nicht mehr kontrolliert zu werden braucht, weil sie ja per se alles richtig
macht.
Daneben stellen Sie Zusammenhänge zum Medienanwalt Ralf Höcker und der CDU-„Werte-Union“ sowie dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen her und diskreditieren sie damit. Maassen vorzuwerfen, er habe „seinen Posten wegen mindestens verharmlosender Äußerungen im Zusammenhang mit rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz 2018 verloren“, ist hanebüchen: Maassen hatte damit die Worte des mit der Untersuchung beauftragten Staatsanwalts sowie des amtierenden Ministerpräsidenten wiedergegeben. Daneben die Ausgrenzung der Fraktion von den Corona-Absprachen der anderen Fraktionen zu schnellen Milliarden-Hilfspaketen für die Wirtschaft als selbstinduzierte „Inszenierung“
darzustellen, ist absurd und verdreht die Realität in ihr Gegenteil; darauf ist
noch zurückzukommen.
Ein Hauch von Weimar
Im zweiten Text
vermitteln Sie Ihren Eindruck, „dass ein Hauch von Weimar durch die Straßen
weht“. Geht’s noch eine Nummer größer? Ich verwahre mich nicht nur als
DDR-studierter Geschichtslehrer gegen diese erbärmliche Geschichtsklitterung,
deren Framing der Thüringer Staatskanzleichef nach der Kemmerich-Wahl vorgab.
Ich verwahre mich dagegen auch als Bürger, der die ersten 28 Jahre seines
Lebens ostdeutsch sozialisiert wurde – die DDR muss ja dann nach Ihrem
Verständnis nicht links, sondern rechts gewesen sein. Meine Gymnasialdirektorin
war die Frau von Klaus Trostorff (einfach mal google fragen), ich habe in meiner Erfurter Schulzeit, 20 km neben
Weimar, öfter der Buchenwald-Opfer gedacht als Sie das in Ihrem Leben je tun
werden.
Sie ergehen sich danach in ellenlangen Mutmaßungen, wie Nachrichtenwerte so interpretiert werden können, dass die AfD nicht vorkommt (!!!). Ich erinnere: Ihr Intendant hat dazu in der Zeit die Gegenposition vertreten! Übrigens zolle ich an dieser Stelle Ihrer Kollegin, als sie es noch war, Katharina Thoms Respekt: Sie holte immer ein AfD-Statement zu bestimmten Sachverhalten ein, obwohl das eigentlich Sache von dpa gewesen wäre, deren erbärmliche Rolle nochmal einen eigenen Text gäbe.
Der Autor als Dozent 2013. Quelle: privat
Darüber hinaus
fabulieren Sie von einem „falschen Verständnis von Neutralität und Offenheit“
und „darum, zu markieren, wo Meinung aufhört, und wo Hetze und Desinformation
beginnen“. Wie bitte? Was gibt es an „Neutralität“ zu interpretieren? Und
offenbar können Sie nicht nur mit einem Blick erfassen, was Information ist und
was nicht, sondern auch entscheiden, welche Meinung von der Meinungsfreiheit
gedeckt ist und welche – ja was eigentlich – die Straftatbestände Beleidigung,
Verleumdung, üble Nachrede etc. erfüllt? Das offenbart ein totalitäres
Rechtsverständnis. Über den Rest des Textes breite ich den Mantel des
Schweigens; Worthülsen wie „Wir wollen keinen Millimeter zurückweichen, wenn es
um unsere journalistischen Prinzipien geht. Auch wenn es unbequem wird. Rechts
ist Rechts, und Pressefreiheit ist Pressefreiheit“ sprechen für sich.
Keinesfalls
schweigen aber kann ich zum 3. Pamphlet. Hier blasen Sie sich zu einem
vermeintlichen Märtyrer der Pressefreiheit auf und zeigen das ganze
selbstreferentielle Daseinsverständnis der unangenehmeren Vertreter Ihres
Berufsstandes. Zitat: „Wütende Leserbriefe können wir aushalten, empörte Mails
ins Studio ertragen und bestenfalls den Dialog suchen, wenn es sich lohnt. Aber
wir müssen nicht auf jeden Unsinn reagieren oder ihm gar eine Bühne bieten. (…)
Aber wenn Kolleg*innen bedroht und eingeschüchtert werden, wenn Kolleg*innen
online belästigt und beschimpft werden, Vertreter*innen bestimmter Parteien,
Organisationen oder Demonstrationen nur zu ihren Bedingungen mit uns sprechen wollen – vielleicht
auch, weil sie nicht verstanden haben, wie Medien arbeiten – dann müssen wir
sagen: Stopp! Dann berichten wir eben anders, oder eben gar nicht.“
Abgesehen vom
arroganten Pluralis Majestatis: Sie finden also, für 18,36 Euro im Monat hat
jeder Bürger dieses Landes ein Recht auf Herrn Pfalzgrafs gönnerhafte kleine
politische Meinung. Das ist Orwell hoch zwei und wird hoch drei, wenn Sie die
Opposition direkt angehen. Zitat: „Die AfD wird uns in der nächsten Zeit zunehmend
Probleme machen. Diese Partei will Teile der Medienlandschaft umbauen, aus
ihrer Verachtung etwa für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk macht sie keinen
Hehl. (…) Aber wenn Interviews nur noch zu genehmen Themen gegeben werden,
Zitate entweder vollständig oder gar nicht gedruckt werden sollen, und manchmal
sogar Versuche unternommen werden, in das Umfeld der Berichterstattung
einzugreifen, dann ist auch hier eine Grenze erreicht. Zumal rechte Parteien
und Organisationen längst die Deutungshoheit in sozialen Medien übernehmen
wollen und viele Kanäle teils mit redaktionell aussehenden Inhalten fluten.“
Sie bekennen hier ganz klar einen politischen Auftrag zum Kampagnenjournalismus – den Kampf gegen die demokratische Opposition. Gegner soll die AfD sein, Zitate und Themen nur nach Herrn Pfalzgrafs Geschmack. An der Position des Gesprächspartners – kein Bedarf. Billiger, rückhaltloser und entlarvender hat sich noch keiner als Pressesprecher einem grünen Ministerpräsidenten andienen wollen. „Sagen was ist – nicht was sein könnte“ lautet ein eherner journalistischer Grundsatz, den ich meinen Volontären und Studenten in der ersten Woche vermittelte. Was dagegen vermitteln Sie?
Der Autor als Moderator auf der „Mediennacht Mittweida“ 2006. Quelle: privat.
Offenkundig stimmt Odo
Marquards Befund vom „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“: Je sicherer man lebt,
desto ängstlicher reagiert man auf Restrisiken. Und wer vermeintlich keine
Feinde mehr hat, sucht sich welche. Mit Angst lässt sich alles Mögliche
verkaufen: teurer Strom, vegane Kost, E-Mobilität, unbegrenzte Zuwanderung… und
„Weimarer Zustände“. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat das
„Phobophobie“ genannt. Von journalistischer Objektivität, journalistischem
Ethos, der Trennung von Nachricht und Meinung bleibt nicht einmal ein Anspruch.
Genau so wurde es in zwei deutschen Diktaturen gemacht.
Denn genau dies
erleben wir spätestens seit Corona in Reinkultur: alle AfD-Initiativen, zumal
zur Sanierung des Landes oder zur Rationalisierung der medizinischen Debatte,
werden kurz oder gar nicht berichtet, während selbst Null-Meldungen der Herren
Stoch oder Rülke genüsslich ausgebreitet werden: So widmen Sie und Ihre
Redaktion der Meinung „FDP-Fraktionschef hält Alltagsmasken für untauglich“,
die nicht von ungefähr auch die AfD vertritt, geradezu unverschämt viel Platz (https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/debatte-um-alltagsmasken-100.html).
Dass derselbe Herr Rülke zur Maskenpflicht im Landtag feige kniff, verschwiegen
Sie danach aber ebenso wie die wissenschaftlichen Argumente der Mediziner Baum,
Fiechtner und Gedeon dagegen. Symbolpolitik aka Gratismut ist nur solange gut,
wie einen die Symbole nicht selbst betreffen?
Zwang zur Einheitlichkeit
Mit einer Abbildung verschiedener politischer Positionen innerhalb einer pluralistischen Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Vielmehr trägt diese Einseitigkeit wesentlich dazu bei, dass bestimmte Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden und Menschen in privaten Gesprächen kaum noch in der Lage sind, widerstreitende Positionen zu ertragen, weil diese auch in der medialen Landschaft kaum noch vorkommen. Ein Beitrag zur Demokratiebildung wird so nicht mehr geleistet. Stattdessen werden durch den Zwang zur Einheitlichkeit Spaltung und Intoleranz innerhalb der Gesellschaft vorangetrieben. Denn die Meinungen sind nicht weg, nur weil sie, bspw. von Ihnen, nicht mehr medial abgebildet werden.
Der Autor als Sachsens AfD-Sprecher 2013. Quelle: privat
Am Ende setzen Sie Ihrer Selbstinszenierung als Märtyrer der Pressefreiheit noch die Krone auf: Sie seien tagtäglich mit den Anfeindungen von sogenannten Querdenkern, Reichsbürgern oder (Zitat!) „den Hetzern gegen die Presse von der AfD konfrontiert.“ Ich weiß nun nicht, auf welche Erlebnisse mit mir oder meinen Kollegen von der Pressestelle diese Äußerung gründet. Aber Stichwort Realitätsumkehrung: ich verweise gern auf die Anfragen von MdL bundesweit, in Stuttgart namentlich von Dr. Podeswa, aus deren Antworten hervorgeht, dass es Politiker und Einrichtungen der AfD sind, die mit nicht nur verbaler Gewalt konfrontiert sind – erst gestern wieder traf es mit Dr. Kaufmann unseren Stuttgarter OB-Bewerber. Nur nebenbei erwähne ich die Tatsache, dass unter dem Rubrum der „Pressefreiheit“ eine ähnliche Anti-AfD-Kampagne auch im DJV-Bundesblatt journalist losgetreten wurde – die Angst vor dem baden-württembergischen Superwahljahr und der Aufbau entsprechend identischer Propagandamuster sind überdeutlich.
Sie haben – und jetzt zitiere ich die Vorwürfe aus meinem Brief an Kai Gniffke, sie treffen nämlich eins zu eins auch auf Sie zu – nach dem Prinzip der instrumentellen Aktualisierung „genau jene Sachverhalte gehypt, die Ihrem politischen, oder besser politisch korrekten, Verständnis entsprechen, und die anderen, mehrheitlich dem Land und seiner Bevölkerung nutzenden durch Verschweigen abgewertet. Das ist nicht nur hochgradig unseriös, sondern manipulativ, desinformativ und letztlich destruktiv“. Mit derselben Berechtigung könnte ich der SPD unterstellen, sie sei – Stichwort Edathy – eine Partei von Pädophilen, oder – Stichwort Giffey – eine Partei von Doktorschwindlern, oder – Stichwort Schmidt – eine Partei von Dienstwagenbetrügern oder – Stichwort Hinz – eine Partei von Lebenslauferfindern; kurz ein Haufen pseudopolitischer Krimineller. Die Empörung wäre grenzenlos.
Je konträrer das
Darzustellende zur Realität ist, umso stärker werden gefühlige,
emotionalisierende und irrationale Beschreibungen herangezogen, ja missbraucht:
„…die AfD findet auf sachpolitischer Ebene nicht statt, sondern nur auf
moralischer Metaebene. Das kündet von der Heraufkunft der Schmitt‘schen
Freund-Feind-Unterscheidung im Journalismus und kann nicht Aufgabe eines
bürgerfinanzierten Journalisten sein“, hatte ich geschrieben. Es braucht sehr
viel guten Willen, um hinter Ihren Aussagen keine Lust am Ausgrenzen, Ächten
und Bestrafen von politischen Gegnern zu erkennen. Wer dagegen auf der
richtigen Seite steht, soll sich in der Welt des sozial gerechten Medienrichtertums
auch mehr herausnehmen dürfen, wie die taz
jüngst im Shitstorm gegen Hengameh Yaghoobifarah unvorsichtigerweise
eingestand.
So hätten
„Identität, Repräsentation und Antidiskriminierung“ inzwischen einen ganz
anderen Stellenwert, weshalb die Frage diskutiert würde, „ob das einen anderen
Journalismus definieren darf oder muss“. taz-Chefin
Barbara Junge entblödete sich nicht zu argumentieren, „ob die Klimakrise so
existenziell ist, dass sie journalistische Regeln verändert“. Das ist kein
Witz. Nach der Klima- wird dann eine Demokratiekrise konstatiert, um weiter
munter die Regeln zu ändern?
Sicher ist
inzwischen, dass die Rücksichtnahme auf Prinzipien wie die Unschuldsvermutung,
die Wahrung der Verhältnismäßigkeit oder die Gleichheit vor Gericht auch in
Politik und Justiz schwindet. Ein Kollege schrieb jüngst von „Hashtag-Aktivisten“,
die sich in einem Krieg gegen das „absolut Böse“ wähnen und es daher geradezu
für eine Pflicht halten, „demokratische Prinzipien wie Toleranz,
Meinungsfreiheit, Vernunft oder die Unschuldsvermutung zu tilgen.“
In Berlin zum
Beispiel gilt nach dem Willen der rot-rot-grünen Mehrheit die
Unschuldsvermutung nicht mehr, zumindest für Polizisten, die künftig im Fall
von Rassismusvorwürfen ihre Unschuld beweisen müssen. Ist das auch Ihr Ideal
der Politikberichterstattung? Ihr Dresdner SZ-Kollege
Sven Heitkamp kommentierte erst gestern, dass die Richter am OVG Bautzen mit
ihrer Entscheidung über die „Querdenken“-Demo in Leipzig völlig daneben lägen
und der Demokratie einen „Bärendienst“ erwiesen. Definieren jetzt Journalisten
nicht nur soziale, sondern auch juristische Standards?
Helmut Mauró schrieb
in seinem zu Unrecht inkriminierten SüZ-Text
über Igor Levit von einem „diffusen Weltgericht“, „dessen Prozesse und Urteile
in Teilen auf Glaube und Vermutung, aber auch auf Opferanspruchsideologie und
auch regelrechten emotionalen Exzessen beruhen. Es scheint ein opfermoralisch
begründbares Recht auf Hass und Verleumdung zu geben…“ Damit hat er unbedingt
Recht. Gerade in bestimmten linksliberalen Medien gilt das sehr beliebte Wort „Haltung“
nur so lange, als es gegen „rechte Rabauken“ und „Hasstrolle“ geht. Damit macht
man sich erpressbar und nährt eine Kultur der Feigheit, der Illoyalität, der
Anbiederung und des Konformismus. So hatte Zeit-Chef
Giovanni di Lorenzo versucht, das deutsche Handball-Nationalteam als im rechten
Milieu verankert darzustellen, weil keine Migranten mitspielen. Das nimmt
absurde Züge an.
Sehr geehrter Herr Pfalzgraf,
als ich am 28. April 2013 gemeinsam mit Frauke Petry die AfD Sachsen gründete und ihr Landesvize wurde, gab es außer einem Neun-Punkte-Manifest mit dem Euro als Primärthema nur acht Sekundärthemen. Als Hochschulpädagoge war der Zustand unserer Bildung – das letzte Sekundärthema – mein primärer Eintrittsgrund. Angefangen von der fehlenden frühkindlichen Bildung über die katastrophale Inflation guter Noten und Abiture, das ein Halbwissen befördernde Bologna-System, die Verideologisierung der Wissenschaft, die zugleich mit ihrer Vergenderung einhergeht, dazu das Entstehen eines akademischen Prekariats mit armselig entlohnten Zeitverträgen, der fehlende akademische Anstand, der Plagiaten Tür und Tor öffnet, die Aushöhlung universitärer Standards, die zu Juniorprofessuren und kumulativen Habilitationen führte, ein Publikationszirkus, der nur noch quantitativen Maßstäben folgt – wir mutierten damals wie heute vom Land der Dichter und Denker zum Land der Gesinnungsrichter und Niveauhenker.
Der Autor als ZDF-Parteitagsbetreuer 2017. Quelle: privat.
Aus diesen neun
Punkten entstanden Europa-, Bundes- und 16 Landtagswahlprogramme, in denen nichts zur Einschränkung der
Pressefreiheit oder zur ungehinderten Ausübung des Journalistenberufs steht.
Das weiß ich sehr sicher, ich kenne sie alle und habe die sächsischen selbst
und an den bundesweiten als Bildungs-, Medien- und Kulturpolitiker mitgeschrieben.
Nichtsdestotrotz fühlte sich der DJV-Verbandstag bereits vor 2 Jahren zu einer
„Dresdner Erklärung“ veranlasst, laut der es nicht vereinbar sei, gleichzeitig
Mitglied des DJV sowie einer politischen Partei zu sein, welche die
Pressefreiheit und die ungehinderte Ausübung des Journalistenberufs
einschränken will.
Mein Entsetzen
darob wurde durch die Relativierung des DJV-Sprechers Hendrik Zörner im MDR nicht geringer: „Die Erklärung
richtet sich nicht nur gegen die AfD – aber auch“; sie richte sich gegen alle
extremistischen Parteien. Prompt schrieb ich einen ersten Offenen Brief und
forderte „Dann schließt mich doch aus“ (http://www.dr-thomas-hartung.de/?p=3657);
alle Argumente darin sind heute immer noch aktuell. Ein zweites Mal erhebe ich
diese Forderung, trotz Ihrer hanebüchenen „Karlsruher Erklärung“, allerdings
nicht. Im Gegenteil: Ich werde alles dafür tun, den Einfluss moralistischer
Funktionäre mit Volkserzieher-Allüren zurückzudrängen.
Ich habe als „Homo
sapiens ostrozonalis“ (Klaus-Rüdiger Mai in der NZZ, auf den ich mich im Folgenden gern und oft beziehe) genügend
Erfahrung damit gesammelt, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern
propagieren, motivieren und erziehen wollen. Aus der Art der Darstellung
vermögen wir herauszulesen, was die schon länger hier Regierenden möchten,
hoffen oder befürchten: Als das DDR-Fernsehen 1989 ausführlich über die
Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens in Peking
berichtete, die Filmbilder wie in einer Endlosschleife gesendet wurden,
erkannte jeder DDR, dass das eine Warnung an das eigene Volk und die Opposition
darstellte.
Das Eigene zu
erkennen, bleibt Aufgabe, solange man lebt. Das Eigene zu verachten, so wird
niemand groß. Wir waren klein und werden seit 30 Jahren weiter in unserem
Wachstum behindert. Für uns war die Wiedervereinigung eine Heimkehr nach
Deutschland und die Rückkunft zum Herr sein über sich selbst. Diese Rückkunft
wird uns gerade genommen – unter anderem von Ihnen. Wir bestehen auf der Existenz
Deutschlands unabhängig von einer EU, wir empfinden uns als Deutscher wie der
Franzose als Franzose, der Italiener als Italiener und der Portugiese als
Portugiese: „Deutschland einig Vaterland“, hieß es in der Nationalhymne der
DDR, wissen Sie das eigentlich!
Heute vor 31 Jahren fiel die Mauer. Heimat ist etwas, das man immer dann spürt, wenn es verloren zu gehen droht. Der Herbst 2015 und die Öffnung der Grenzen schuf diese Situation. Die Propagierung der Willkommenskultur, die einherging mit der Ausgrenzung und Diffamierung von deren Kritikern, und der Konformitätsdruck, der in den Medien erzeugt wurde und wird, erinnerten viele von uns an das Staatswesen, das wir überwunden meinten. Uns zeigte sich wieder das hässliche Gesicht des Klassenkampfes. Wie aus der DDR bestens bekannt, bezieht das linksliberale Neobiedermeier seine Rechtfertigung aus der vermeintlich guten Sache, aus einer höheren Moral, aus Weltoffenheit, aus Fortschrittlichkeit. Der Kritiker, der Andersdenkende war plötzlich der Klassenfeind – im eigenen Land!
Dass eine realistische Problemanalyse mit einem apodiktischen „Wir schaffen das“ obsolet gemacht wurde, dass eine Regierung angesichts der tiefgreifenden, von vielen als verfassungswidrig eingestuften Veränderung keine Antworten anbietet, kann nur zu Radikalisierung führen: Die Bürger spüren, dass sie das, was für sie Herkunft, Heimat, Identität ist, verlieren. Sie erkennen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen sie keiner gefragt hat, ob sie das wollen – „wir wollen das gar nicht schaffen“, dekretierte Alexander Gauland sehr richtig. Die Erinnerung an die DDR kehrt mit Macht zurück: Wir stellen mit Erschrecken fest, dass das neue Deutschland der alten DDR immer ähnlicher wird, wenn die Eliten auf obrigkeitsstaatliche Mittel und Strukturen setzen, weil sie ihrer selbstgeschaffenen Probleme nicht mehr Herr werden, weil sie die Bevölkerung in Geiselhaft für ihre eigene Unfähigkeit nehmen wollen.
„Ein Hauch von Weimar“… Quelle: Twitter/Facebook
Der Klassenfeind,
der Rechte, der Populist ist vor allem die Gestalt des eigenen Versagens, von
dem man prima ablenken kann. Die Erfahrung der Diktatur, der fehlenden
Meinungsfreiheit, der fehlenden Demokratie, der Allgewalt der Propaganda, der
Verteufelung und Diskriminierung des politisch Andersdenkenden wird in einer
Situation aktiviert, in der die Gegenwart Züge der Vergangenheit annimmt. Diese
Vergangenheit, Herr Pfalzgraf, habe ich Ihnen uneinholbar voraus. Sie leben in einer ideologisch verzerrten
Parallelwelt, die sei Ihnen unbenommen. Aber unterstehen Sie sich, Ihre Mitmenschen
zu zwingen, auch in dieser Parallelwelt zu leben!
Mit freundlichen
Grüßen
Dr. Thomas Hartung
Pressesprecher
Zum Autor: Dr. Thomas Hartung (*
1962 in Erfurt) promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur
deutschen Gegenwartsliteratur. Danach arbeitete er frei-, später hauptberuflich
als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen (MDR Kultur,
Radio SAW, Antenne Sachsen, Sachsen Fernsehen); später als Mediendozent an
vielen Hochschulen Deutschlands.
Der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die DDR-LDPD ein und 1990 aus der BRD-FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute. Hartung war Mitbegründer der AfD Sachsen, wurde zweimal zum Landesvize gewählt und war Landessprecher der „Alternativen Mitte Sachsen“. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg, hat zwei Essaybände vorgelegt, schreibt regelmäßig für zuerst und hat auf dem Tumult-Blog seine eigene Kolumne „Negerkuss und Nazistuss“.