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In bestimmten Familien steckt zu bestimmten Zeiten etwas Schicksalhaftes, das wohl zu beschreiben, aber kaum zu erklären ist. Die Familie des Thüringer Buchhändlers, Übersetzers und Verlegers August Schuhmann, dessen jüngster Sohn Robert am 8. Juni 1810 in Zwickau geboren wurde, gehört Mitte des 19. Jahrhunderts dazu. Roberts depressive Schwester Emilie brachte sich 29jährig um. Roberts Sohn Ludwig fiel als kaum 20jähriger in geistige Umnachtung. Und Robert verbrachte nach einem Selbstmordversuch die letzten zwei Jahre seines gerade 46jährigen Lebens in der Irrenanstalt.

Nachdem der Krankenbericht im Mai 2006 öffentlich gemacht wurde, kristallisiert sich als Ursache eine mit Arsenicum ebenso unvollständig wie falsch behandelte Syphilis heraus, die bei Robert zu Symptomen wie Sprachstörungen, Zornesausbrüchen, Unruhezuständen, stundenlangem Brüllen und Schreien sowie gelegentlicher Aggressivität gegen Wärter und Ärzte und zuletzt zu einer Paralyse führte. Von einem „totalen Persönlichkeitsverlust“ schreibt Caspar Franzen im Ärzteblatt: „Schumann entkleidete sich ständig, hatte zudem seine Defäkation nicht mehr unter Kontrolle“; zuletzt konnte er weder sprechen noch essen. Ob innerhalb der Familie eine bestimmte Veranlagung für psychische Probleme vorlag, ist kaum mehr zu prüfen.

Robert Schumann. Zeichnung von Adolph von Menzel. Quelle: photo by Michael Sondermann Presseamt Stadt Bonn, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26545189

Schumann galt lange als schwierig zu spielen. 1891 kam erstmals das Bonmot auf, er habe als Genie begonnen und als Talent geendet; seine späten Werke seien von seiner Krankheit geprägt gewesen. Manche Kompositionen lagen auch in der Schublade: das 1853 entstandene Violinkonzert in d-Moll wurde erst 84 Jahre später im Rahmen einer propagandistischen Inszenierung in Berlin uraufgeführt – es sollte als „deutscher“ Ersatz für das von den Spielplänen gestrichene Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy propagiert werden, der als Jude verpönt wurde. Schon während des Deutschen Kaiserreichs und danach vor allem während der NS-Herrschaft wurde Schumann immer enger als deutschnational interpretiert und propagiert. Die nationalsozialistisch geprägte Musikwissenschaft erhob ihn zum typisch deutschen Genie und verkleinerte ihn gleichzeitig zum Komponisten der Innerlichkeit. Beides wird ihm nicht gerecht.

„es überläuft mich eiskalt“

„Ich genoss die sorgfältigste und liebevollste Erziehung“, wird Schumann bekunden. Angeregt von der literarischen und verlegerischen Tätigkeit seines Vaters sowie der Lektüre in dessen reichhaltiger Bibliothek, schrieb Robert Gedichte, Romanfragmente, Aufsätze und führte Tagebuch: „Es drängte mich imer zum Producieren, schon in frühesten Jahren, war‘s nicht zur Musik, so zur Poësie“. Besonders prägten ihn romantische Schriftsteller wie Heinrich Heine, den er vor seinem Studium in München kennen lernte, und E.T.A. Hofmann. Der Vater unterstützte Roberts Kunstsinn und ließ ihn als Siebenjährigen Klavierunterricht nehmen.

Als Jugendlicher gründete er ein Schulorchester, daneben auch einen „litterarischen Verein“, und „war von der absoluten Gewißheit beherrscht, künftig ein berühmter Mann zu werden – worin berühmt, das war noch sehr unentschieden, aber berühmt unter allen Umständen“, hielt sein Jugendfreund Emil Flechsig fest. Nach dem Tod des Vaters entschied seine Mutter, dass der sprachbegabte Abiturient Jura studieren solle. Also schrieb sich Robert 1828 in Leipzig ein und begegnete dort dem Mann, der sein Leben verändern sollte: Friedrich Wieck, der als Klavierpädagoge einen ausgezeichneten Ruf genoss und dessen Tochter Clara als „Wunderkind“ bereits Konzerte gab.

Clara Wieck. Quelle: https://www.wsmr.org/wp-content/uploads/2019/09/ClaraSchumannGebWieck-e1568378209369.jpg

Das Studium ödete ihn an, „es überläuft mich eiskalt, wenn ich denke, was aus mir werden soll“, notiert er. Dafür führte er ein „wildbewegtes Studentenleben, war Schleppfuchs auf Mensur und Partei in einem Ehrenhandel“, wie es bei der Burschenschaft Markomannia heißt, und hatte Liebschaften – bei einer handelte er sich die unglücksselige Krankheit ein. Er nimmt bei Wieck Klavierunterricht, liest viel, hört Konzerte und geht für ein paar Monate jeweils an die Uni Heidelberg sowie nach Italien. Am 10. April 1830 hat er in Frankfurt ein Erweckungserlebnis: nach einem Konzert Niccolò Paganinis schreibt er seiner Mutter, dass er nach langem Ringen beabsichtige, den Beruf eines Musikers zu ergreifen, ja wie Paganini „Teufelspianist“ zu werden: „Folg ich meinem Genius, so weist er mich zur Kunst, und ich glaube zum rechten Weg.“

Er nimmt in Wiecks Haus ein Zimmer, freut sich über „Compositionsunterricht“ und bildet sich anhand von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ auch autodidaktisch fort. Doch schon 1831 zerschlägt sich die Karriere aufgrund einer chronifizierten Sehnenscheidenentzündung: sein rechter Mittelfinger bleibt nach falschem und übertriebenem Üben für immer versteift. Prompt wandte er sich dem Komponieren zu und hat dennoch Mühe, seine Verletzung zu verarbeiten: 1833 geriet Schumann erstmals in eine psychische Krise mit Wahn- und Suizidvorstellungen, die er in einem Tagebuch-Rückblick als „fürchterlichste Melancholie“ beschrieb. Nachdem ihm ein Arzt Hoffnungen machte, diese Krise durch eine Heirat zu überwinden, verlobte er sich mit einer böhmischen Adoptivadligen, löste die Verlobung aber vor Ablauf eines Jahres wieder.

Zeitgleich scharte er einen Kreis junger Künstler und Burschenschafter um sich, die sich regelmäßig im Leipziger Lokal „Coffe Baum“ einfanden und in Anlehnung an die Serapionsbrüder um E.T.A. Hoffmann „Davidsbündler“ nannten. Der Bund und die Phantasienamen der Künstler spielen in einigen Werken Schumanns eine Rolle, so in den „Davidsbündlertänzen“ und in Artikeln der „Neuen Zeitschrift für Musik“, die er 1834 mit Wieck und anderen gründet und für die er zehn Jahre lang als Herausgeber und Redakteur viele Texte schrieb. Auch Schuhmann schrieb unter Dutzenden Fantasienamen, darunter den fiktiven Figuren Florestan und Eusebius: der eine verkörpert den leidenschaftlichen, der andere den in sich gekehrten Robert. Die Zeitschrift erscheint noch heute.

„Die Welt ist böse“

Im November 1835 wurden er und die 16-jährige Clara zum Liebespaar. Der alte Wieck tobte und unternahm in der Folgezeit alles, um jeden Kontakt zwischen den frisch Verliebten zu unterbinden. Im August 1837 verlobten sie sich heimlich; Clara führt seine „Symphonischen Etüden“ im Dresdner Gewandhaus auf. Andere umfangreichere Kompositionen, darunter der von Hofmann inspirierte und Chopin gewidmete Klavierzyklus „Kreisleriana“ von 1838, der heute als Schlüsselwerk der romantischen Klavierliteratur gilt, bleiben noch erfolglos.

NZFM 2020. Quelle: https://musikderzeit.de/wp-content/uploads/sites/6/2020/05/NZfM_2_20_96dpi.jpg

Im selben Jahr reist Robert nach Wien, um seine Zeitschrift zu etablieren, scheiterte aber an der Ablehnung Wiener Verleger. Nach Leipzig zurückgekehrt, klagte er vor Gericht darauf, dass entweder Claras Vater der Ehe zustimmen oder von Amts wegen eine Einwilligung herbeigeführt werden sollte. Um seine Position im Prozess gegen Wieck zu verbessern, bemühte sich Schumann ebenso fragwürdig wie erfolgreich um die „Doctorschaft“ der Universität Jena: ein handgeschriebener Lebenslauf, Sittenzeugnisse und mehrere Aufsätze reichten aus. Er gewann den Prozess.

Über das Verhältnis beider Künstler wird bis heute gemutmaßt. „Wenn er komponierte, tat er es vorzugsweise für sie, und wenn sie spielte, war er ihre kritische Instanz: Enger als Robert und Clara Schumann hat kaum je ein Künstlerpaar zusammengearbeitet“, so Johannes Saltzwedel im Spiegel. „Clara Wieck war eine Steffi Graf der deutschen Romantik, eine (Klavier-)Spielerin von offenkundiger Brillanz, aber mit wenig Anmut; ein abschreckendes Beispiel väterlichen Siegeswillens“, befindet Willi Winkler aber ebenfalls im Spiegel und spricht von ihr als „abgerichtete Musikpuppe, die mechanisch ihre Kunststücke vollführte und der jedes Verständnis für das Wesen ihrer eigenen Kunst abging.“ „Die Welt ist böse; wir wollen aber rein hervorgehen“, hat der Idealist Schumann seiner Angebeteten einmal geschrieben.

Parallel zur Heirat 1840 verfiel der junge Ehemann in einen ersten Schaffensrausch. Er komponiert die Sammlung „Liederjahr“ mit ungefähr 140 Stücken, in denen er vor allem Heine und Eichendorff, aber auch Goethe und Chamisso vertont. Es schließen sich das „Jahr der Sinfonien“ 1841, in dem die Sinfonie B-Dur „Frühlingssinfonie“, sein erfolgreichstes Werk, entstand, und das „Jahr der Kammermusik“ 1842 an, in dem er mehrere Streich- und Klavierquartette schuf. 1843 komponiert er das Oratorium „Das Paradies und die Peri“ nach einer Dichtung von Thomas Moore, mit dem er Erfolge bis hin nach New York, Kapstadt und Dublin erzielt. Als Mendelssohn Bartholdy im selben Jahr das Leipziger Konservatorium gründete, gehörte er zu den ersten Lehrern. Eine Konzertreise führt ihn nach Norddeutschland, Clara reist weiter nach Kopenhagen, später sind beide in Russland zu Gast.

Friedrich Wieck. Quelle: https://lh3.googleusercontent.com/proxy/lc_NKMPXkNTSDmtTho71Z8ZZjCK0TJKErdq21HUTBwDdCDXP1IZsxRnGh22qk8IGMBekj7v1Y00AKNopc_F-gKbPTU69o7_0fVylAUTY-S0zJ_dwgmmjEizVjx4Yl4ph0kzTlf4

Der erfolglosen Arbeit am Konservatorium folgte 1844 eine Chorleiterstelle in Dresden. Hier söhnte er sich mit dem alten Wieck aus, komponierte die Oper „Genoveva“, die Bühnenmusik „Manfred“ und zahlreiche Werke in anderen Gattungen und schließt Bekanntschaft mit vielen zeitgenössischen Künstlern, darunter Ernst Rietschel, Karl Gutzkow und Richard Wagner. Während der Revolutionsjahre verfällt er in einen weiteren Schaffensrausch und drückt seine republikanische Gesinnung in Freiheitsgesängen und Märschen aus.

Sein Haushaltsbuch verzeichnet teilweise eigenwillige Ausgaben und Einnahmen, etwa zum Märzaufstand 1848: „Beischlaf. Die Revolution. Spaziergang mit Klara. Die Todten.“ Werner Theurich kommentiert im Spiegel: „Mit winzigen Sechzehntelnoten notierte er säuberlich jeden Geschlechtsverkehr, den er seiner Ehefrau abverlangte. Das eheliche Pflichtprogramm war ihm wohl lästiger, als es die Häufigkeit der Eintragungen vermuten lässt“. Seine Biographin Eva Weissweiler meint gar, Schumann sei ein heimlicher Homosexueller. Allerdings kommen in der Dresdner Zeit vier seiner acht Kinder zur Welt, viele „Schumännchen“, wie sie das Paar nannte. Für seine erste Tochter Marie komponierte er zum achten Geburtstag das „Album für die Jugend“.

Die beiden letzten Kinder Eugenie und Felix wurden in Düsseldorf geboren. Dort hatte Robert Schumann 1850 eine neue Stelle als städtischer Musikdirektor angenommen. Aber er war dort bald alles andere als glücklich, denn die Nervenerkrankung nimmt ihren Lauf, er kehrt sich zunehmend nach innen. Es war unmöglich für ihn, sich als Dirigent oder Lehrer zu etablieren: er hatte eine leise Stimme, war kurzsichtig und blickte oft nur abwesend in die Partitur, während er undeutliche Bewegungen zur Musik machte. Prompt wurde ihm als Musikdirektor wieder gekündigt.

Lebensverfilmung in Starbesetzung. Quelle: https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/71-9wODmzIL._SL1200_.jpg

Dennoch hatte er in den Düsseldorfer Jahren bis 1853 seinen dritten Kreativitätsschub und komponierte etwa ein Drittel seines Œuvres, so die 3. Sinfonie (Die Rheinische) oder das Oratorium „Der Rose Pilgerfahrt“. 1853 stellt Schumann eine Sammlung seiner früheren musikalischen Aufsätze und eine Anthologie literarischer Zeugnisse über Musik zusammen und unternimmt zusammen mit Clara eine triumphale Konzertreise nach Holland. „Denn Schumann war mehr als nur Musiker, er arbeitete als Kultur-Intellektueller und Fachjournalist, der sich intensiv um Werke anderer kümmerte und sich Gedanken machte über Musik und Gesellschaft“, so Theurich. Doch er litt zunehmend an Angstzuständen, Depressionen, Halluzinationen und Gehörtäuschungen, bedrohte seine Frau, nahm Bäder, bekam Aderlässe. Nichts half, so dass er sich nicht mehr anders zu behelfen wusste als in der Rosenmontagsnacht 1854 im Nachthemd in den Rhein zu springen.

„Verbindung von Poesie und Intellekt“

Er wurde gerettet und nur Tage danach auf eigenen Wunsch in Franz Richarz‘ Heilanstalt in Endenich bei Bonn eingeliefert, die er bis zu seinem Tod am 29. Juli 1856 nicht mehr verließ. Kontakte zur Familie und nahestehenden Personen wurden ausgesetzt und sollten nur auf seinen Wunsch wieder aufgenommen werden. Laut Richarz‘ Aufzeichnungen wechselten sich klares Denken, Halluzinationen und Wahnideen ab, standen sich unvermittelt gegenüber und vermischten sich: Manchmal spielte er Klavier, ja komponierte im Januar 1856 noch eine Fuge. Doch ein Besucher schilderte sein Spiel als ungenießbar und verglich ihn mit einer Maschine, deren Mechanismus zerstört ist. Am 5. Mai 1855 schrieb Schumann seinen letzten Brief an Clara. Sie sah ihn erst zwei Tage vor seinem Tod wieder und war sich sicher, dass er sie erkannte. Er wurde auf dem Alten Friedhof in Bonn zu Grabe getragen. Clara überlebte ihn um 40 Jahre und wurde neben ihm im gemeinsamen Ehrengrab beigesetzt.

„Die so kaum wieder erreichte Verbindung von Poesie und Intellekt, die seine Musik charakterisiert, spricht auch heute Interpreten wie Zuhörer unvermindert an“, meint sein Biograph Gerd Neuhaus. Als Sucher, der sich an Einfällen festbiss, hat ihn Charles Rosen gedeutet. Zum Beispiel ist Schumann bekannt für das Komponieren nach Buchstaben: In seinen „Sechs Fugen über den Namen Bach op. 60“ spielen die Töne b-a-c-h die Hauptrolle. Er war auch der erste Komponist, der bei den Anweisungen zum Spielen der Stücke auf die italienische Sprache verzichtete – also kein „allegro“, kein „adagio“, sondern lieber Bezeichnungen wie „rasch“ oder „durchaus phantastisch und leidenschaftlich vorzutragen“.

Familiengrab in Bonn. Quelle: https://image.jimcdn.com/app/cms/image/transf/dimension=455×1024:format=jpg/path/s62e13fb5183b1c33/image/id27bf8d2cc08ffb3/version/1560860547/image.jpg

Sein Schaffen wurde erst nach seinem Tod allmählich erschlossen. Tschaikowski meinte 1871, „dass die Musik der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als eine Periode in die Geschichte der Kunst eingehen wird, die spätere Generationen als die Schumannsche bezeichnen werden.“ Bis heute fehlt eine umfassende Darstellung seiner Rezeptionsgeschichte. Seit 1991 entsteht an der Robert-Schumann-Forschungsstelle Düsseldorf eine „Neue Robert-Schumann-Gesamtausgabe“ (RSA), die aber noch Jahre bis zum endgültigen Abschluss braucht. „Traumphantast“ nannte ihn der BR. Auf dem internationalen Schuhmann-Wettbewerb versuchen Musiker seit 1956 aller vier Jahre, den Phantasten ebenbürtig zu interpretieren.

Nicht nur als Überlebender des Warschauer Ghettos – er war in mehrfacher Hinsicht eine lebende Legende. Wie Willi Winkler für die Süddeutsche Zeitung bereits 2000 recherchierte, hat er seit 1960 achtzigtausend Bücher rezensiert. Seit Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand so viel Einfluss auf den deutschen Buchmarkt ausgeübt wie der „Literaturpapst“ – der mehrfach betonte, dass er nicht die Autoren, sondern die Leser beeinflussen wolle. Auf das Verhältnis von Schriftstellern zu Literaturkritikern angesprochen, soll er einmal darauf hingewiesen haben, dass die Vögel nichts von Ornithologie verstehen, aber auch noch kein Ornithologe einem Vogel das Fliegen beibringen konnte: Marcel Reich-Ranicki.

„Man musste ihn lieben, weil er gesagt hat, was er dachte – und sich keine Sekunde darum scherte, was andere davon halten würden. Fürchten musste man ihn, weil er dabei weder Freund noch Feind kannte. Was ihm nicht in den Kram passte, wischte er unwirsch zur Seite. Das konnte auch mal ein Fernsehpreis sein“, erklärte Entertainer Thomas Gottschalk anlässlich seines Todes im Spiegel. Damit meinte er sich selbst: als er ihm für sein Lebenswerk und seine ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ am 11.10.2008 den Deutschen Fernsehpreis verleihen wollte, lehnte der Kandidat unter spontanem Hinweis auf den „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“, die Auszeichnung ab. Gottschalk bot ihm daraufhin eine einstündige Diskussionsrunde zur Qualität des deutschen Fernsehens an – die auch stattfand.

MRR. Quelle: Von Smalltown Boy, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28597042

Aufgrund seiner rigorosen Urteile zürnten ihm manche der von ihm Rezensierten bis ins Grab. Rolf Dieter Brinkmann giftete ihn 1968 an: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen“. Peter Handke sagte in einem Interview mit André Müller, dass er es nicht bedauern würde, wenn Reich-Ranicki sterben würde. Elfriede Jelinek bezeichnete Reich-Ranickis Äußerung, sie (Jelinek) sei zwar eine tolle Frau, aber ein gutes Buch sei ihr nicht gelungen, als „größte Demütigung“. Aber auch Kollegen urteilten nicht minder scharf: „Das selbstgerechte, wahllos wütende Hassgebrüll des entfesselten Kulturspießers“, kommentierte Andreas Kilb eine Äußerung Ranickis in der Zeit. Der so Gescholtene kam am 2. Juni vor 100 Jahren zur Welt.

„wurzelloser Kosmopolit“

Geboren als Marceli Reich in Włocławek (Leslau, Provinz Kujawien-Pommern), war er das dritte Kind einer jüdischen Mittelstandsfamilie: Sein Vater David besaß eine kleine Fabrik für Baumaterialien, ging aber 1928 Konkurs. Während er seine deutsche Mutter Helene zeitlebens als „liebevoll, aber weltfremd“ verehrte, hielt er seinen polnischen Vater für einen Versager. Marceli durfte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Leslau besuchen und wurde, um ihm seine berufliche Zukunft nach dem väterlichen Geschäftsruin offenzuhalten, zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin geschickt. Trotz des Gleichbehandlungsgebots der jüdischen Schüler, das am Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf noch galt, blieb er von Schulausflügen oder Sportfesten ausgeschlossen und vertiefte sich stattdessen in die Lektüre der deutschen Klassiker und besuchte Theater, Konzerte und Opern. 1938 machte er sein Abitur, wurde aber an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo er Germanistik studieren wollte, wegen seiner jüdischen Abstammung nicht mehr immatrikuliert.

Nach kurzer Abschiebehaft nach Polen ausgewiesen, fuhr er mit der Bahn nach Warschau, wo seine Familie inzwischen lebte und von Bruder Alexander, einem Zahnarzt, ernährt wurde. Seine erfolglose Arbeitssuche – immerhin musste er die polnische Sprache neu lernen – endet abrupt zum Poleneinmarsch am 1. September 1939. Soldaten der Wehrmacht, die bei Zahnärzten Gold vermuteten, plünderten die Wohnung der Familie Reich. Am 21. Januar 1940 bat Helene ihren Sohn, sich um ein gleichaltriges Mädchen in der Nachbarschaft zu kümmern. Die Zwanzigjährige war verzweifelt, denn sie hatte gerade ihren Vater tot vorgefunden; er hatte sich erhängt, nachdem die jüdische Familie von den Deutschen enteignet und aus Lodz vertrieben worden war. Marcel Reich versuchte, Teofila („Tosia“) Langnas (1919 – 2011) zu trösten. Die beiden verliebten sich und wurden unzertrennlich.

Ehepaar Ranicki. Quelle: https://www.tagesspiegel.de/images/reich-ranicki_teofila_dpa/4114844/2-format43.jpg

Ab November 1940 wurde er mit mehr als 400 000 Juden hinter der 18 Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer des Warschauer Gettos zusammengepfercht. Die jüdische Kultusgemeinde (der sog. „Judenrat“) beschäftigt ihn als Schreiber und Übersetzer, daneben verfasste er für die Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“ unter dem Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen und arbeitete im Untergrundarchiv. Am 22. Juli 1942, dem ersten Räumungstag des Gettos, ließen er und Tosia sich von einem Rabbi trauen. Ihnen gelang im Februar 1943 die Flucht, sie wurden von dem polnischen Schriftsetzer Bolek Gawin und dessen Frau in einem Vorort Warschaus versteckt. Das Paar konnte auch eine Mappe mit Zeichnungen von Tosia Reich-Ranicki herausschmuggeln, die erst 1999 veröffentlicht wurden. Bis zuletzt überwies das dankbare Ehepaar der Tochter Gawins Geld. Reichs Eltern und sein Bruder fielen dagegen den Nazis zum Opfer, seine Schwester war nach England emigriert.

Die Sowjetische Armee befreit ihn, er tritt der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet in der Polnischen Militärkommission in Berlin, im Polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst im Range eines Hauptmanns. Seine Frau war in London als Korrespondentin für zwei Zeitungen beschäftigt. 1948 änderte die Familie den zu sehr an die Deutschen erinnernden Namen „Reich“ in „Ranicki“, im selben Jahr wurde Sohn Andrzej, später Andrew, geboren, ihr einziges Kind. Marcel galt als arroganter „Intelligenzler“, wurde von Geheimdienst und Außenministerium Anfang 1950 entlassen und wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Im Rahmen der ostblockweiten stalinistischen Aktion gegen „wurzellose Kosmopoliten“ und „zionistische Spionage“ verbrachte er einige Wochen in Einzelhaft im Gefängnis. Die später erhobenen Vorwürfe, er habe Exilpolen zur Rückkehr in die Heimat überredet, wo sie dann zum Tod verurteilt worden seien, blieben ungeklärt, er bestritt sie.

MRR in jungen Jahren. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100986579/6842506557-ci102l-w1024/fp-ranicki-gross-BM-Bayern-Berlin-jpg.jpg

Danach durfte er, unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in jenem Reservat arbeiten, in dem man politisch „unzuverlässigen“ Individuen am ehesten gewisse Narrenfreiheiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und des literarischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für die Zeitung und für den Rundfunk, und er übersetzte – alles als Vermittler deutscher Literatur für polnische Leser. Nachdem er in der Schweiz weder eine Arbeits- noch eine Niederlassungsbewilligung bekam, kehrte er von einer Studienreise in die Bundesrepublik Deutschland im Sommer 1958 nicht mehr nach Polen zurück. Tosia, die sich mit ihrem Sohn nach London abgesetzt hatte, traf sich mit ihm in Frankfurt am Main. Heinrich Böll und Siegfried Lenz halfen ihm, hier Fuß zu fassen, Hans Werner Richter lud ihn zur Teilnahme an einer Sitzung der „Gruppe 47“ ein.

„so effektvoll wie unaufrichtig“

Weil ihn die Zeit am 1. Januar 1960 als Literaturkritiker einstellte, zog er nach Hamburg. Vierzehn Jahre lang schrieb er für die Wochenzeitung und eroberte sich in dieser Zeit den Ruf eines „Großkritikers“. Nebenbei verbrachte Reich-Ranicki 1968 und 1969 jeweils einige Zeit als Gastprofessor in den USA. Von 1971 bis 1975 war er ständiger Gastprofessor für neue deutsche Literatur in Stockholm und Uppsala. Vortragsreisen führten ihn 1972 bis ans andere Ende der Welt, nach Australien und Neuseeland. 1973 kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Frankfurt zurück, wo er die Leitung der „Redaktion für Literatur und literarisches Leben“ der FAZ übernahm und sie zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands machte. Im selben Jahr wurde er Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln und im Jahr darauf Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1979 hielt er sogar in China Vorträge. Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte er 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbe und -preise wurde.

Als er sich 1988 aus Altersgründen aus der Leitung des Literaturteils zurückziehen musste, blieb ihm zunächst nur noch die wöchentliche „Frankfurter Anthologie“, die er seit dem 15. Juni 1974 bis zu seinem Tod betreute und auch die jährlich erscheinenden Buchausgaben herausgab. In jeder Samstagsausgabe der FAZ erschien ein Gedicht mit einem Kommentar eines Lyrikkenners unter dem Motto: „Der Dichtung eine Gasse.“ Doch dann fand er in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ ein neues Wirkungsfeld. Der temperamentvolle Medienstar bewies, dass Literaturkritik unterhaltsam sein kann. Mit außergewöhnlichem Erfolg wurden vom 25. März 1988 bis 14. Dezember 2001 siebenundsiebzig Folgen des „Literarischen Quartetts“ ausgestrahlt. Es sei erst das Fernsehen gewesen, das ihn zu einem Helden der Öffentlichkeit werden ließ, befand Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, „und wenn er Bestseller schuf oder verhinderte (keiner konnte das so wie er), dann waren die Form des Urteils, der Witz, die Pointe, aber auch die Schmähung und das Indiskrete etwas, das die Menschen ebenso bewegte wie der Inhalt des Urteils.“ Er beendete die Sendung mit einem Brecht-Zitat, das die Offenheit literaturkritischer Urteile unterstrich: „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ein Zitat übrigens, mit dem er bereits in den frühen Sechzigern eine Radiosendung über Literatur beschlossen hatte, die er zusammen mit Hans Mayer moderierte.

Das „Quartett“ in klassischer Besetzung: Sigrid Löffler, Ulrich Greiner, MRR und Hellmuth Karasek. Quelle: https://image.kurier.at/images/cfs_landscape_616w_347h/693102/46-2394871.jpg

Zwischendurch ging er 1990 als Gastprofessor nach Düsseldorf und ein Jahr später nach Karlsruhe. Das Altern empfand er als Zumutung: „Das Leben ist scheußlich, wenn man alt ist. Sehr unangenehm. Ich kann Ihnen nur sagen, es ist kein Vergnügen, so alt zu sein“, sagte er der Zeit. Weniger erfolgreich als mit „Das Literarische Quartett“ war Marcel Reich-Ranicki 2002 mit seiner Sendung „Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen“. 1999 veröffentlichte er seine Autobiografie „Mein Leben“, die zehn Jahre später mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt wurde. Zu Beginn seiner Autobiographie schreibt Reich-Ranicki, dass er „kein eigenes Land, keine Heimat und kein Vaterland“ hat. Seine Heimat sei im Letzten die Literatur gewesen. Und er schreib darin zur „arithmetischen Formel“, wonach er einst zu Grass gesagt habe: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“, dass sie „so effektvoll wie unaufrichtig“ gewesen sei: „Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.“

Nachdem er bereits 2001 in einem Spiegel-Gespräch einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ entwickelt hatte, gab Reich-Ranicki 2002 im Insel-Verlag unter dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ das erste von bislang drei Buchpaketen heraus. 2007 verlieh ihm die Humboldt-Universität als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität, die ihm ein Studium verwehrt hatte, die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr wurde an der Universität Tel Aviv ein Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur eingerichtet, 2010 in seinem Beisein eine „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ an der Uni Marburg als Teil des Forschungsschwerpunkts „Literaturvermittlung in den Medien“ eröffnet.

MRR mit Thomas Gottschalk. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/497c95f8-0001-0004-0000-000000546412_w718_r1.3869801084990958_fpx44.68_fpy49.97.jpg

Am 27. Januar 2012 schilderte Reich-Ranicki in der Rede zur Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, wie er im Warschauer Ghetto den ersten Tag der Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka als Übersetzer des „Judenrats“ erlebte. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen würdigte den Vortrag mit der Auszeichnung „Rede des Jahres“. Im März 2013 machte Reich-Ranicki seine Krebserkrankung öffentlich und bilanzierte kurz vor seinem Tod in der Zeit bitter: „Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben. Ich war es nie. Ich war nie in meinem Leben glücklich. Das ist etwas, was ich nicht kenne.“ Er starb, zwei Jahre nach seiner Frau, die bis zuletzt als Illustratorin und Übersetzerin gearbeitet hatte, am 18. September 2013.

„Kritik ist immer pädagogisch“

Marcel Reich-Ranicki hat für seine Arbeit als Literaturkritiker und die frühere Arbeit im politischen Bereich bis heute zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen in Deutschland und Polen erhalten. Ähnlich wie Robert Lembke hatte er Umfragewerte, von denen Politiker nur träumen können: 2010 kannten ihn 98 Prozent der deutschen Bevölkerung mit Namen. Zu seinen schärfsten Feinden zählt Martin Walser, der 2002 den Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte, in dem er seinen Einfluss durch das Literarische Quartett thematisierte. Hellmuth Karasek, sowohl mit Reich-Ranicki als auch Walser lange beruflich verbunden, wertete die postmoderne Generalabrechnung im Tagesspiegel als „Dokument eines schier übermenschlichen Hasses, der den Autor überwältigt, weil er sich sein Leben lang unter der Fuchtel von Reich-Ranicki sah“. Auch Antisemitismus-Vorwürfe wurden laut, die Walser als absurd zurückwies.

Doch das focht Reich-Ranicki nie an: „Die Kritiker sind dazu da, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Unter uns: Sie können es getrost tun, denn je mehr man an ihm sägt, desto fester wird er.“ Sein Grundsatz war: Der Kritiker reagiere auf ein Buch „von Fall zu Fall“, ohne verbindliche Normen, ohne Theorie. Indem er über Autoren schrieb, schrieb er immer auch über sich selbst, erkennt Hajo Steinert im DLF. So habe er sich von Lessing die Legitimation des kritischen Urteils geholt, so vernichtend es auch für den Verfasser des Kunstwerks ausfallen möge. Von Fontane übernahm er Schlüsselbegriffe wie „unmittelbare Empfindung“ oder „gesunder Menschenverstand“. Selbst Walter Benjamin zitierte er inbrünstig: „Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren“.

Der Autor und sein Schauspieler. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/media/thumbs/2/20fcd86de10e35a36bd642ace93dc127v2_max_460x345_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=2479dd

Realistische Literatur, Natürlichkeit, lebensnahes Erzählen gehen dem belesenen Autodidakten über Postmoderne und Avantgarde. Von Genre-Literatur wie Science-Fiction und Fantasy hielt Reich-Ranicki wenig, ohne sich aber je umfassend mit ihr beschäftigt zu haben; insbesondere von der Science-Fiction glaubte er, dass ihre Vorzüge „mit Kunst nichts zu tun“ hätten. Aus seinem erzieherischen Auftrag, seinem aufklärerischen Impetus machte er keinen Hehl: „Kritik ist immer pädagogisch.“ So protegierte er Heinrich Böll, um ihn als Repräsentant der deutschen Nachkriegsliteratur gegen Gerd Gaiser durchzusetzen. Der Adressat seiner „Belehrungen“ ist allerdings nicht der Schriftsteller, sondern einzig und allein der Leser: „Schriftsteller sind nicht lenkbare, nicht erziehbare Wesen.“ Und so meint Steinert treffend: „Sein größter Verdienst besteht darin, dass er die Literaturkritik aus dem akademischen Milieu befreit hat.“

Während in Schwerin eine Linksextreme Verfassungsrichterin wird, soll ein „neurechter“ Autor als Kulturamtsleiter in Sachsen „rückgewählt“ werden. DDR und BRD werden zunehmend eins.

Mein neuer Tumult-Text dreht sich um die unsäglich undemokratischen aktuellen Vorgänge in Radebeul.

Dass Walter Ulbricht in der DDR Kirchen sprengen ließ, galt als Willkürakt proletarischer SED-Diktatur. Wie muss man es nennen, wenn ein SPD-Politiker das Berliner Maifeld „abtragen“ will?

Meine neue Tumult-Kolumne widmet sich dem Problem, der Vergangenheitsabschaffung als Indiz für totalitäre Zukunftskontrolle.

Was am 21. Mai 1990 in einer New Yorker Kathedrale als Trauergottesdient gemittelt war, entpuppte sich als großes Happening: keiner der mehreren hundert Trauergäste trug Schwarz, der Organist improvisierte fröhliche Melodien, ein als riesiger gelber Vogel verkleideter Mann sang vor dem Altar und die Anwesenden schwenkten Schaumstoff-Schmetterlinge. Am Ende traten sechs Muppet-Puppenspieler auf die Bühne und sangen mit den Stimmen ihrer Figuren ein Medley mit den Lieblingsliedern des Verstorbenen, ehe zum Abschluss alle Puppenspieler dazukamen und singend mit ihren Muppets auf der Bühne standen.

Dann trat der Sohn des Toten nach vorne und verlas die letzten Worte seines Vaters an die Hinterbliebenen: „Das alles kommt euch vermutlich total albern vor. Aber was zur Hölle soll’s, ich bin schließlich tot. Wer will sich da noch mit mir streiten?“ Und: „Seid nicht traurig, weil ich gestorben bin.“ Der Name des Toten: Jim Henson. Der fünf Tage zuvor verstorbene Erfinder der Muppets hatte genaue Regieanweisungen hinterlassen, die seine Beerdigung in ein kunterbunt-absurdes Singspiel verwandelten. Eine Beerdigung wie eine Fernsehshow – es hätte kein stimmigeres Ende für Hensons Leben geben können.

Henson mit den „Fraggle Five“ (Gobo, Red, Mokey, Wembley, Boober). Quelle: https://www.biography.com/.image/c_limit%2Ccs_srgb%2Cq_auto:good%2Cw_700/MTU4NjEwMzE5NjQyNDY5OTYy/jim-henson-boober-mokey-gobo-red-and-wembley-photo-by-hulton-archivegetty-images.webp

Dabei steht er nicht nur für Kermit, Miss Piggy und Fossi Bär, sondern auch für die Fraggles und war maßgeblich an den Filmen „Der dunkle Kristall“, „Die Reise ins Labyrinth“ und „Der kleine Horrorladen“ beteiligt. Aber auch Yoda, Jabba the Hutt, die Ewoks und viele andere Figuren und Puppen aus der Star Wars-Saga entstanden in Zusammenarbeit von Hensons Firma mit George Lucas. „Zwanghaft kreativ und rastlos“ nannte ihn die New Yorker Museumskuratorin Babara Miller im DLF. Noch nach seinem Tod wurden mit „Die Dinos“ und „Der Bär im großen blauen Haus“ zwei weitere Serien verwirklicht, die auf seinen Ideen basierten.

 Marionette + Puppet = Muppet

Geboren am 24. September 1936 in Greenville, Mississippi, machte ihn seine Großmutter, die Malerin und Schneiderin war, mit der Arbeit mit Textilien und Nadeln vertraut und unterstützte Hensons künstlerische Ambitionen. Nach dem einschneidendsten Erlebnis seiner Jugend befragt, antwortete er: „Der Tag, an dem ein Fernseher in mein Elternhaus kam“. Er gehörte zur ersten Fernsehkinder-Generation Amerikas und war von Puppenspielern wie Burr Tillstrom begeistert, dessen Figuren Kukla, Fran und Ollie ab 1947 im US-Fernsehen zu sehen waren. Eigentlich für Kinder gedacht, wurde die Sendung wegen ihres Slapstick-Humors jedoch bald vor allem von Erwachsenen gesehen. Dieses Erlebnis entzündete Hensons lebenslange Liebe für das Puppenspiel.

Bereits während seiner Highschool-Zeit begann Jim 1954 für den lokalen Fernsehsender WTOP-TV Puppen für eine Kindersendung zu kreieren. Dabei ging es ihm nicht darum, bestehende Puppenformate für das Fernsehen anzupassen, sondern Formate zu entwickeln, die ausschließlich für das Fernsehen gedacht waren und nur darin funktionierten. So nutzte er Bildausschnitt und Blickwinkel aus, um die Puppenspieler vor dem Zuschauer zu verbergen, und verwendete viele nahe und große Einstellungen. Während seines Studiums der Fächer Kunst und Bühnenbild an der University of Maryland trat Henson 1955 in verschiedenen lokalen Fernsehsendungen auf. Schon nach seinem ersten Studienjahr bot ihm eine lokale NBC-Tochter eine fünfminütige Sendung im späten Abendprogramm an. Dafür erfand Henson zusammen mit seiner Kommilitonin Jane Nebel, die er vier Jahre später heiratet, die Sendung „Sam and Friends“. Die Puppen hatten bereits Ähnlichkeit mit den späteren Figuren, eine ähnelte Kermit dem Frosch.

Hensons erste Geschöpfe. Quelle: https://shorts.tv/en/uploads/2019/06/JimHenson_TheEarlyWorks_STILL.png

Er wollte den Figuren „Leben und Feingefühl“ geben, um die Ausdrucksmöglichkeiten des Puppentheaters zu erweitern. Deswegen baute er seine Handpuppen schon bald nicht mehr aus Holz, sondern aus Schaumstoff – so ließen sie sich viel nuancierter steuern. Er lernte sogar, die Lippen seiner Puppen so zum Text zu bewegen, wie es Menschen beim Sprechen tun. Nachdem er während einer Europareise die Techniken klassischer Marionettenspieler studiert hatte, beschloss er, die Eigenschaften von Handpuppen und Marionetten zu verbinden – zu Handpuppen, deren Arme mit Stäben bewegt wurden. Er taufte seine Erfindung „Muppets“, zusammengesetzt aus „marionettes“ und „puppets“. Die Idee sollte bahnbrechend werden.

„Sam and Friends“ lief insgesamt acht Jahre und brachte Henson einen lokalen Emmy ein. Seit 1957 drehte Henson auch Werbung mit seinen Figuren, die in ihrem Humor bereits der späteren Muppet-Show nahe kamen, so für die Kaffeefirma Wilkins: Eine Handpuppe sitzt hinter einer Kanone und fragt eine zweite: „Was hältst du eigentlich von Wilkins-Kaffee?“ „Nie probiert“, grummelt die und wird prompt aus dem Bild geschossen. Die Puppe dreht ihre Kanone zum Zuschauer. „Und? Was halten Sie von Wilkins?“ Dieser Spot brachte Hensons Vision auf den Punkt: Er wollte Puppenspiel für Erwachsene machen und zugleich ausloteten, welche Dinge man mit den unschuldig wirkenden Handpuppen anstellen konnte, die man echten Menschen nie durchgehen lassen würde. So wurde der Kaffeeverächter in weiteren Spots mit Baseballschlägern verprügelt, von Wagen überrollt, mit einem Kopfschuss niedergestreckt oder in die Luft gejagt. Die Kampagne war so erfolgreich, dass Henson über 300 weitere Werbeaufträge für Kaffee erhielt.

„Trommelfeuer der Absurditäten“

1961 gründete Henson zusammen mit seiner Frau „Muppets Inc.“ und begann seine lebenslange Zusammenarbeit mit dem Puppenspieler Frank Oz, mit dem er Figuren wie Ernie und Bert, Miss Piggy, Kermit oder Fossi Bär kreierte. Inzwischen absolvierte er zahlreiche Gastauftritte in Unterhaltungs- und Talkshows, die seine Figuren immer bekannter machten, darunter wöchentlich in der Today Show und der Jimmy Dean Show, später auch der Ed Sullivan Show. Nachdem er 1963 mit seiner Frau nach New York umgezogen war, begann er sich bis 1968 mit dem Filmemachen auseinanderzusetzen. Er produzierte eine Reihe von Experimentalfilmen wie „Time Piece“, der sogar für einen Oscar nominiert war. Daneben drehte er Sondersendungen mit Märchenmotiven für das Fernsehen wie dem Froschkönig, Cinderella oder den Bremer Stadtmusikanten.

Ernie und Bert. Quelle: https://external-preview.redd.it/h5EmjTeqV3GAwDyV7T1ixk8a7RZ8DtTP6BvoAv7iOaE.jpg?auto=webp&s=01ba120da08a1082749af738616028787614a766

Als 1968 eine Studie ergeben hatte, dass fast alle US-Kindersendungen erzieherisch wertlos seien, begann er mit dem Team des Children’s Television Workshop mit der Arbeit an der Sesamstraße, einer damals visionären Fernsehsendung für Kinder. Teil dieser Sendung waren einige lustige, farbenfrohe Puppen, die in der „Straße“ leben, darunter Oscar, Ernie und Bert, das Krümelmonster und natürlich Kermit der Frosch. Ihr Stil – langsam, vorsichtig und von zahlreichen Wiederholungen geprägt – sorgte für zahlreiche Parodien, hat sich aber bei vielen Kinderprogrammen im Fernsehen durchgesetzt. 1974 wurde Henson ein Emmy für die Sesamstraße verliehen. Heute gibt es sie immer noch, und sie ist politischer geworden. So gibt es seit 2011 die pinke Kleinmädchenpuppe Lily, deren Familie ihr Zuhause verloren hat und deshalb bei Freunden unterkommen muss – damit soll auf das Problem der Obdachlosigkeit hingewiesen werden. Ende 2019 wurde bekannt, dass mit Unterstützung die internationalen Hilfsorganisationen für Flüchtlinge und Kriegsopfer (IRC) vor allem für syrische Flüchtlingskinder eine „Sesamstraße“ auf Arabisch entstehen und ab Februar 2020 im Mittleren Osten ausgestrahlt werden soll.

Die Serie war für ihn gleichzeitig Segen und Fluch: Hensons Puppen waren nun weltberühmt, er aber seinem Ziel, Puppenspiel für Erwachsene zu machen, so fern wie nie zuvor. Er entschied, eine eigene Comedy-Sendung zu drehen, und produzierte 1975 eine Pilotfolge. Schon die ersten Sekunden ihres Vorspanns machten deutlich, befand Danny Kringiel im Spiegel, „dass der Puppen-Anarcho sich damit seinen Weg aus der Pädagogennische freiboxen wollte“. „The Muppet Show“ war ein Trommelfeuer der Absurditäten: Wo sonst gab es im Fernsehen einen dänischen Koch, der fröhlich ein Salatsandwich mit Stapeln aus Wurst, Käse, Topflappen, Tellern und anderen Salat-Sandwiches belegt, während er, mit asiatischen Schriftzeichen untertitelt, Dinge in Phantasie-Dänisch vor sich hinplappert? Oder eine Figur wie Laborassistent Beaker, der bei den Experimenten seines Chefs Dr. Honigtau Bunsenbrenner sein Leben riskiert, wenn er mit angespitzten Bananen beschossen, von Menschen fressenden Müllschluckern verfolgt oder von einem Stahlhasen angegriffen wird, während er magnetische Karotten in der Hand hält?

Einige der Charaktere hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit bekannten Persönlichkeiten aus dem US-Fernsehen, die Jim Henson aber in einigen Fällen abstritt. US-amerikanische Sender zeigten kein Interesse, doch der britische Produzent Lew Grade glaubte an das Konzept, so dass die Muppet Show in Großbritannien gedreht wurde. Kermit der Frosch, Jim Hensons alter Ego, führte in ihr als Gastgeber durch ein buntes, ja chaotisches Varieté-Programm mit Miss Piggy, Gonzo oder Statler und Waldorf. Die Show wurde ein riesiger Erfolg: Rund 235 Millionen Zuschauer verfolgten in den besten Zeiten jede Woche die Sendung – in mehr als hundert Ländern der Welt.

Der legendäre Koch. Quelle: https://www.uiuiuiuiuiuiui.de/wp-content/uploads/2010/07/chef-macht-popcorn-shrimp.jpg

In Deutschland wurde die Synchronfassung zwischen 1978 und 1981 vom ZDF ausgestrahlt. Die Serie gewann vier Emmys. „Muppets“-Kinofilme wurden gedreht, Kinder wollten Kermit-Bettwäsche und Miss-Piggy-Puppen. Stars wie Harry Belafonte, Liza Minelli und Roger Moore waren zu Gast in der Show. Das Buch „Miss Piggy’s Guide to Life“ war 29 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times. „Henson hatte es tatsächlich geschafft, mit einem vollkommen exzentrischen Showkonzept den Fernseh-Mainstream für Handpuppen einzunehmen“, bilanziert Kringiel.

Kopf einer Truppe hoch motivierter Fantasten

Nach fünf Staffeln stellte Henson die Serie 1981 ein, da er sie für auserzählt hielt. Doch auch danach hatten die Figuren noch Auftritte in verschiedenen Filmen. Von all seinen Figuren war ihm der Frosch wohl am nächsten: Kermits nachgiebige Führung der Chaotentruppe wurde oft mit eben jener Art verglichen, mit der Henson die Geschicke seiner Firma „Muppets Inc.“ lenkte. So berichtete etwa im Dezember 1978 das Time-Magazin, der große, aber sanftmütige Visionär, der stets mit leiser Stimme sprach und aus dessen Althippie-Bart ständig ein strahlendes Lächeln hervorblitzte, habe seine Mitarbeiter in etwa so fest im Griff wie man „eine Explosion in einer Matratzenfabrik im Griff haben kann“. Dabei war Henson privat alles andere als ein Anarchist oder Exzentriker: Carroll Spinney, Darsteller der „Sesamstraßen“-Puppe Bibo, sagte 1990 im Interview mit dem Magazin People, Henson habe es nicht einmal über sich gebracht, Mitarbeitern zu sagen, wenn er eine Idee schlecht fand. Seine höchste Ablehnungsbekundung sei ein zögerndes „Hmmm“ gewesen.

Bereits 1979 rief er den „Jim Henson’s Creature Shop“ ins Leben, der vor allem für die Erschaffung von Figuren in Fremd-Produktionen wie etwa für das Star Wars Universum gedacht war. Henson persönlich war beteiligt an den Kostümen und Effekten für das britische Filmdrama „Dreamchild“ von 1985 und „Hexen hexen“ von 1990. Bis zur Übernahme durch Walt Disney erfanden seine Mitarbeiter immer neue, unglaubliche Geschöpfe: die Turtles oder Figuren für die auf dem Babelsberger Studiogelände entstandene „Unendliche Geschichte III“.

In der erstmals 1987 von NBC ausgestrahlten Fernsehserie „Jim Henson’s The Storyteller“ stellte er in neun Episoden internationale Märchen in einer Mischung aus Animations- und Realfilm dar. Diese Serie geht auf eine Idee von Hensons Tochter Lisa zurück, die an der Harvard Universität einen Kurs Volkskunde besuchte, wurde von Publikum und Kritik gleichermaßen bejubelt und mit vielen Auszeichnungen geehrt. Daraus entwickelte Henson eine Nachfolgeserie als zweite Staffel mit vier Episoden zur Griechischen Mythologie. Um 1989/1990 befand sich Henson in Verhandlungen mit Walt Disney, der seine Unternehmen und Rechte für 150 Millionen US-Dollar aufkaufen wollte. Bevor diese Verhandlungen zu einem Ergebnis kamen, starb Henson jedoch überraschend mit gerade 53 Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung.

Teil des Muppet-Universums. Quelle: https://secure.i.telegraph.co.uk/multimedia/archive/02682/Henson2_2682388b.jpg

Unternehmen und Rechte gingen dann dennoch an die Disney Company, die ihn 2011 postum als Disney-Legende ehrte. 2017 fand er gar postum Aufnahme in der Science Fiction Hall of Fame. Während Kermit der Frosch schon länger im National Museum of American History ausgestellt ist, kamen 20 weitere von Hensons Puppen im Jahr 2013 hinzu. Seit Juli 2017 gibt es im American Museum of the Moving Image eine neue Dauerausstellung über Hensons Lebensleistung. Die USA legten 2005 ihm zu Ehren eine elfteilige Briefmarkenserie auf. Georg Seeßlen nannte ihn treffend den Kopf einer Truppe hoch motivierter Fantasten, die angetreten war gegen die „Vertreibung des Menschen aus seinen eigenen Fantasien“.

Unter diesem Titel habe ich dem „Pforzheimer Kurier“ gestern einen Leserbrief geschrieben, den ich hier dokumentiere:

Der „Pforzheimer Kurier“ gibt am 13. Mai unter der Überschrift „Hofsäß fordert Reaktion der AfD“ den Inhalt einer Pressemitteilung vom 7. Mai wieder, in der der designierte SPD-Landtagskandidat für den Enzkreis, Michael Hofsäß, die lokalen AfD-Abgeordneten Bernd Gögel, Fraktionschef, und Bernd Grimmer im „braunen Sumpf“ wähnt. Abgesehen davon, dass der Student von „International Business“ Gögels und Grimmers Enkel sein könnte – von dem zur Rede stehenden Ereignis, dem 8. Mai 1945, weiß er lediglich durch den Geschichtsunterricht sowie diverse mediale Publikationen. Allein wegen der Anmaßung seiner juvenilen Deutungshoheit im Namen eines undefinierten „gesellschaftlichen Konsens‘“, dem die Zeitung breiten Raum gibt, während sie denselben den AfD-Abgeordneten nicht ansatzweise zubilligt oder sie gar direkt nach ihrer Meinung zu dem verschwurbelten Unsinn fragt, könnte man die Pressemitteilung als lächerlichen Gesinnungstext im Vorwahlkampf abtun, auf den ein Gesinnungsjournalist fast eine Woche zu spät fast ebenso reflexartig ansprang. Aber da hier so viel Unwissenheit, gepaart mit ideologischer Überheblichkeit und sozialer Respektlosigkeit aufscheint, lasse ich mich mal als Ex-Landesvize Sachsen sowie inzwischen Pressesprecher der Stuttgarter Landtagsfraktion herab, dem Bübchen, das mein Schüler bzw. Student sein könnte, ein paar Widerworte um die Ohren zu hauen.

Ich habe selbst in der DDR von 1983 – 1988 Germanistik und Geschichte im Lehramt studiert und vor meiner Promotion das Fach ein Jahr lang unterrichtet; der 2. Weltkrieg war Stoff der 9. Klasse. Bei aller ideologischen Prägung des Tages: selbst im DDR-Studium wurden Inhalte wie etwa der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, der Zusammenhang zwischen „Coventrierung“ und angloamerikanischen Bombardements sowie das Besatzerverhalten nach dem 8. Mai ebenso differenziert vermittelt wie die Themen NSDAP-Geschichte, Nürnberger Gesetze oder KZ-Wesen. Die Direktorin meines Gymnasiums war übrigens die Frau des Buchenwalder Gedenkstättendirektors – das KZ war gerade mal 20 km von Erfurt entfernt; wie oft ich es besucht habe, kann ich kaum noch zählen. Zu den KZ-Besuchen des Bübchens lese ich übrigens nichts… Inhalte also, die der gewillte Lehrer adäquat vermitteln konnte. Durch entsprechende Quellen waren (und sind) auch Zitate frei zugänglich wie „Deutschland wird zu stark, wir müssen es vernichten!” (Churchill 1936 zu General Wood), „Dieser Krieg ist Englands Krieg. Sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands!“ (Churchill 3.9.1939) oder „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke der Befreiung, sondern als besiegte Feindnation!” (US-Präsident Roosevelt 23.3.1945).

Hinzu kam die breite künstlerische Flankierung der Zeit durch Filme und vor allem Literatur; das begann bei Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“ (Pflichtlektüre in DDR-Schulen) und endete noch nicht bei Robert Merles „Der Tod ist mein Beruf“ über den „industriellen Völkermord“, wie ihn Hofsäß nennt. Und hinzu kommt vor allem, dass für Millionen Deutsche mit dem 8. Mai Terror und Rache erst begannen – für die Sudetendeutschen oder die aus den Ostgebieten Vertriebenen, zu denen auch Bernd Gögels Familie gehörte. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass wir fast ein Drittel unseres Staatsgebiets verloren: Die Deutschen dürfen halt nicht über ihr eigenes Leid trauern. Der „Eiserne Vorhang“ ging zudem in Europa nieder und brachte der Sowjetischen Besatzungszone ein diktatorisches System, und selbst für die überlebende jüdische Bevölkerung in Polen war der Pogrom von Kielce (1946) Signal, aus Polen auszuwandern – alles historische Sachverhalte, deren Dimension erst nach 1990 vollständig bekannt und fassbar wurde. Selbst für die Atombomben auf Japan haben sich die USA nie entschuldigt.

Wer all das ausblendet, Ursachen und Wirkungen nicht analysiert, ja nicht zu seinen historischen Tragödien und Irrtümern steht, sondern diese verleugnet, verdrängt und stattdessen ebenso ahistorisch vereinseitigt wie ideologisch funktionalisiert, muss bei der völlig richtigen Einschätzung Gaulands, dass es sich um einen „ambivalenten“ Tag handelt, der sich als Gedenk-, aber nicht als Feiertag eignet, natürlich Schnappatmung bekommen (die Unterstellung, dass er sich „die Niederlage Nazideutschlands quasi wegwünsche“, ist an Dämlichkeit nicht zu überbieten). Der 30.04.1975, der Tag des Endes des Vietnamkriegs ist ebenso kein Feiertag in den USA wie der 15.02.1989, der Tag des Endes des Afghanistankriegs, kein Feiertag in der Sowjetunion/Russland ist. Da will ein vorgeblich „Linker“ mir als linkssozialisiertem AfD-Mitgründer Faschismus unterstellen? In wie vielen falschen Filmen bin ich denn hier? Mein Ratschlag: Bübchen, lies mal wieder ein Buch. Oder besser: mehrere. Und dann duelliere ich mich gern mit dir in deutscher Geschichte.

Weiter. „Grimmer und Gögel seien als Unterzeichner der ‚Erfurter Resolution’ bekanntermaßen Anhänger von Björn Höckes Gedankengut, das der Verfassungsschutz zu Recht im Visier habe“, lese ich. Tja, Bübchen, dann bekenne ich gern: ich ebenso. Höcke hatte damals, völlig zu Recht, die finanzökonomische Verengung der Parteiprogrammatik durch Bernd Lucke zu erweitern gesucht. Vorgeblich, wie ich heute behaupte, denn danach hat er die programmatische Weiterung zu einer ideologischen Verengung genutzt und die Mailliste der Unterzeichner zu seiner Machtbasis gemacht. Aus seiner Sicht und der mancher Mitglieder genial, aus Sicht vieler Bürgerlich-Konservativer verheerend – übrigens auch aus meiner, ich bin nicht umsonst Landessprecher der „Alternativen Mitte“ Sachsen, die Höcke gern als „Halbe“ diffamiert. Diese Resolution aber heute – der Flügel existiert übrigens nicht mehr – pars pro toto für die AfD zu nehmen ist eine völlige Verwechslung von mediatisiertem Wunsch- und Warnbild einerseits sowie politischer Realität andererseits. Mein Ratschlag: Bübchen, lies mal wieder unsere Bundes- bzw. Landesprogramme, und natürlich unsere Gesetzesentwürfe und Anträge im Landtag. Oder besser: warte auf unser Landtagswahlprogramm, an dem ich gerade mitschreibe. Und dann duelliere ich mich gern mit dir zum Verfassungsschutz.

Schlussendlich, und vor allem: „Stecken Gögel und Grimmer auch so tief im braunen Sumpf?“ fragt Hofsäß mit Blick auf Gaulands Aussagen, die er als „perfides Spiel mit der Erinnerungskultur zum Kriegsende“ beschreibt. Brauner Sumpf, soso. Dann muss ich mal ein wenig in SPD-Aussagen wühlen. Juso-Chef Kevin Kühnert hatte in einem Interview mit der „Zeit“ auf die Frage gesagt, wie er sich Sozialismus vorstelle: „Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.“ Wo war Hofsäß’ Reaktion? Seine Parteichefin Esken und Linken-Fraktionschef Bartsch hatten beide eine einmalige Vermögensabgabe zur Bewältigung der finanziellen Belastungen durch die Corona-Pandemie vorgeschlagen. Einem Bundestagsgutachten zufolge ist das aber womöglich nicht zulässig. Es gebe Zweifel daran, ob die Pandemie als Grund für einen solchen Zugriff auf das Vermögen der Bürger ausreiche, schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags. Wo war Hofsäß’ Reaktion? Bundesfinanzminister Olaf Scholz plädiert auf höhere Steuern für besonders vermögende Bürger und  verwies auf das Wahlprogramm 2017, in dem die SPD einen Spitzensteuersatz von 45 Prozent und die Einführung einer Reichensteuer gefordert hatte. Wo war Hofsäß’ Reaktion? Oder, noch extremer, Johann Dulig, Meißner SPD-Kreisrat und Sohn des sächsischen SPD-Chefs, der eine Fotomontage auf Facebook gepostet hatte, auf der ein bombenabwerfendes Alliierten-Flugzeug zu sehen war, garniert mit dem Text „Pyrotechnik ist kein Verbrechen“. Darunter war das zerbombte Dresden abgebildet. Wo war Hofsäß’ Reaktion? „Schweigen heißt Zustimmung“? Da freuen wir uns doch auf einen Kommunisten im nächsten Landtag – oder wen, liebe Baden-Württemberger, wollt ihr wählen?

Im Ernst: wie groß muss die Personalnot der Spezialdemokraten inzwischen sein, dass sie frei nach der Devise „Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal“ ein 23jähriges ebenso kenntnisbefreites wie naives Persönchen nominieren, das außer plattem Konkurrentenbashing noch nichts geleistet hat und ansonsten tief im roten Sumpf verwurzelt ist. Mein Ratschlag: Bübchen, lies mal bestimmte Forderungen deiner Partei und erkläre, wie du soziale Marktwirtschaft in Pforzheim und Umgebung fördern willst. Oder besser: was du anstelle von sozialer Marktwirtschaft willst. Und dann duelliere ich mich gern mit dir zu Wahlkampfinhalten. Aber erst dann.

Mit verhältnismäßig freundlichen Grüßen

Dr. Thomas Hartung

Pressesprecher der AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg

Als das ZDF für seine Serie „Die Deutschen“ daran ging, sein Leben zu verfilmen, wählte der Sender nicht nur „die Liebe“ als titelgebenden roten Faden, sondern gleich noch „Der sächsische Casanova“ als Untertitel: gemeint war Sachsens Kurfürst Friedrich August „der Starke“. Die boulevardeske Überspitzung war nicht ganz falsch. „Er unterhielt eine Art Harem der schönsten Frauen seines Landes. Als er starb, berechnete man, dass er von seinen Mätressen 354 Kinder gehabt habe“: dieses Notat der spitzzüngig-boshaften Bayreuther Markgräfin Wilhelmine, Lieblingsschwester Friedrichs des Großen, gilt heute zwar als übertrieben. Aber elf Mätressen und acht anerkannte uneheliche Kinder des Lebemanns sind belegt.

Am bekanntesten wurde die 1704 begonnene Liaison mit der schönen und geistreichen Anna Constantia, die mit seinem Minister Hoym unglücklich verheiratet war. Sie stellt nicht nur ihre eigenen Medikamente und Kosmetika her, sondern kann auch Branntwein brennen und Bier brauen, ist bewandert in Mathematik, Sprachen sowie antiker Geschichte, dazu bibel-, trink- und sattelfest: „schießend und reitend wie ein Kerl“, heißt es. August wirft seine Maxime „Schönheit lockt mich, Charakter widert mich an“ über den Haufen, lässt sich gar auf einen heimlichen Ehevertrag ein, um sie zu bekommen, und schenkt der Angebeteten nach ihrer erfolgreichen Scheidung von Hoym, inzwischen Reichsgräfin von Cosel, das Taschenbergpalais, heute ein Fünfsternehotel, sowie Schloss Pillnitz.

Die Cosel und August. Quelle: https://www.welt.de/img/geschichte/mobile138953476/5471627047-ci23x11-w960/ONLINE.jpg

Doch als er 1712 aus politischen Erwägungen heraus wieder eine polnische Mätresse braucht und sich die Cosel, die ihm mittlerweile drei Kinder geboren hat, vehement wehrt, lässt er sie fallen. Den Kindern ließ er eine ausgezeichnete Bildung zukommen, verheiratete sie gut und sicherte sie finanziell ab – die Gräfin dagegen kam als politische Gefangene ohne Urteil auf die Festung Stolpen, wo sie 49 Jahre lang gefangen blieb. Sie überlebte August 32 Jahre, niemand fühlte sich für ihr Schicksal zuständig, sie wurde bis zu ihrem Tod „verwaltet“. Der rücksichtslose Umgang mit seiner Umgebung trübt sein Bild bis heute: Er zögerte nicht, in Ungnade gefallene Vertraute, Frauen wie Männer, in Festungshaft setzen zu lassen.

Unglückliche Ehe

Der zweitälteste Sohn Johann Georgs III. von Sachsen kam am 12. Mai 1670 in Dresden zur Welt, erfuhr eine umfangreiche standesgemäße Ausbildung und wurde sowohl von der luxusliebenden Hofhaltung seines Großvaters Johann Georg II., bei dem er seine Kinderjahre verbrachte, als auch den prunkvollen Festen am Dresdner Hof geprägt. Sein Verhältnis zu seinem älteren Bruder Johann Georg, dem Thronerben, war nicht gut. 1687 ging er zwei Jahre lang auf „Kavalierstour“ zu seiner Einführung an den ausländischen Höfen, darunter nach Frankreich, wo ihn Versailles tief beeindruckte, Spanien, Portugal, England, Holland, Schweden, Italien und Österreich. 1690 überlebte er aufgrund seiner starken Konstitution die Blattern.

1693 heiratete er in Bayreuth Christiane Eberhardine, Prinzessin von Brandenburg-Bayreuth, um die sein Vater längere Zeit hatte werben müssen. Die Ehe verlief nicht nur aufgrund von Augusts vielen Affären höchst unglücklich, nach der Geburt des Thronfolgers nahm Christiane einen Brand im Residenzschloss zum Vorwand, nach Schloss Hartenfels in Torgau sowie ihrer Sommerresidenz in Pretzsch zu ziehen; nach Dresden kam sie nur noch selten. Zeitlebens fromm und tugendhaft, ging sie in die Geschichte als „Betsäule Sachsens“ ein, zu deren Begräbnis 1727 weder ihr Mann noch ihr Sohn kamen.

Eberhardine. Quelle: Von Louis de Silvestre – www.kunstkopie.de, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24394061

Am 27. April 1694 starb völlig überraschend Augusts älterer Bruder Johann Georg IV. kinderlos an den Pocken, nachdem er sich am Totenbett seiner Mätresse angesteckt hatte, so dass August plötzlich Kurfürst wurde. Vor sechs Jahren jedoch trat der Dresdner Historiker Mike Vogler mit der These an die Öffentlichkeit, dass August seinen Bruder ermordet habe: „Die bei der Obduktion festgestellten grünen und gelben Flecken werden auch durch das damals nicht nachweisbare italienische Gift ‚Aqua Tofana‘ hervorgerufen“, sagte er BILD.

August, der sich eher auf dem Karneval in Venedig und den Festen des hohen Adels zuhause fühlte, hatte zwar noch keinerlei Erfahrung in der Führung einer Landesverwaltung, glich aber, was ihm an Wissen fehlte, durch Tatkraft und Raffinesse aus und übernahm ohne Zögern mit 24 Jahren die Regierungsgeschäfte. Innenpolitisch hat der neue Kurfürst die damals üblichen Probleme: Der alteingesessene Adel beansprucht Mitspracherecht, was Steuern und Abgaben betrifft. Friedrich August drängt den Einfluss des Adels zurück und versucht, im Geist des Absolutismus zu regieren. Er förderte die sächsische Wirtschaft nach den Grundsätzen des Merkantilismus mit Staatsmitteln und orientierte sie nicht zuletzt mit der Leipziger Messe auf Export.

Als wirtschaftlich bedeutsam erwiesen sich die Gründung der ersten Staatsbank im deutschen Raum 1698 mit Sitz in Leipzig, die Errichtung einer Landeslotterie und die Reform der sächsischen Post, die damals die schnellste im Deutschen Reich wurde. Insgesamt wurden in Augusts Regierungszeit in Sachsen 26 Manufakturen geschaffen, allen voran die Meißner Porzellanmanufaktur. Aber er betätigte sich auch selbst als Unternehmer, etwa mit der Olbernhauer Waffenschmiede sowie einer Fayence-Manufaktur.

Königsabenteuer Polen

Denn der Dresdner Hof braucht jede Menge Geld, steht nach dem Tod Johann Sobieskis 1697 doch der polnische Königsthron zum Verkauf: Polen ist ein Wahlkönigtum, Wähler sind die Mitglieder des Sejm, des polnischen Adelsparlaments. Mit dem Erwerb der polnischen Königswürde wollte August eine Rangerhöhung erreichen, ein zeittypisches Phänomen, das ihm größere politische Souveränität sichern sollte. Vor allem bei den Friedensverträgen nahm ein gekröntes Haupt einen Vorrang gegenüber Fürsten ein. August nimmt Kredite auf, erhöht Steuern und veräußert ganze Landstriche Kursachsens, allen voran seine Ansprüche auf das Herzogtum Sachsen-Lauenburg. Den Sejm, berichten Augenzeugen, habe er unter Ströme von Geld und Alkohol gesetzt.

Der Goldene Reiter – Statue Augusts des Starken. Quelle: https://erlebe-dresden.de/wissenswertes/historische-persoenlichkeiten/august-der-starke

Begierig auf den Titel, konvertiert er gar heimlich zum Katholizismus, da ein König von Polen eben nur katholisch sein kann – obwohl Sachsen als Mutterland der Reformation gilt! Außenpolitisch verlor Sachsen mit dem Glaubenswechsel die Führungsrolle unter den evangelischen Reichsständen an Brandenburg-Preußen. August soll während des polnischen Abenteuers rund 39 Millionen Reichstaler allein an Bestechungsgeldern ausgegeben haben. Eine entscheidende Rolle spielt sein gutbezahlter jüdischer Hofbankier Issachar Berend Lehmann, der in Halberstadt eine Synagoge und eine Bildungsstätte baut, heute Sitz der „Moses-Mendelssohn-Akademie“. Auch in Dresden erstarkte die jüdische Gemeinde dank Lehmanns Reputation.

Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen ihm und einem ungeliebten Vetter des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wurde Kurfürst Friedrich August am 15. September 1697 in Krakau als August II. Mocny zum polnischen König gekrönt. Doch er ist mit seinem Erfolg nicht glücklich geworden, da er sich in eine Auseinandersetzung mit dem expandierenden Schwedenreich einließ. Im Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 verlor er eine Schlacht nach der anderen gegen den militärisch überlegenen Karl XII., der August 1704 schließlich als polnischen König ab- und 1706 gar Sachsen besetzte. Ein Jahr lang dauerte die schwedische Besatzung und kostete den sächsischen Staat über 30 Millionen Taler. Der Altranstädter Friede 1706 war für August demütigend.

Thorner Blutgericht. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2479867

Erst der Sieg des russischen Zaren über die Schweden ermöglichte August 1709 die Rückkehr nach Polen und die Wiedereinsetzung als König. Die Verhältnisse blieben kompliziert: für Reformen im Sinne des Absolutismus bestand keine Aussicht, eine zentrale Wirtschafts- und Finanzpolitik war in Polen nicht durchsetzbar. In Augusts Regentschaft fiel auch das aufsehenerregende Blutgericht zu Thorn von 1724, wo zehn Protestanten nach Ausschreitungen gegen das dortige Jesuitenkloster hingerichtet wurden. Preußens König Friedrich Wilhelm I. war sehr aufgebracht, England entsandte gar einen Sondergesandten an den Warschauer Hof. Die Ereignisse beeinträchtigten das Bild Polens in Europa erheblich und wurden literarisch u.a. von Gustav Freytag („Die Ahnen“) und Ernst Wichert („Die Thorner Tragödie“) aufgearbeitet.

„Der König allen voraus“

Trotz der polnischen Wirren und kostspieligen militärischen Konflikte mit Schweden lässt August sein Dresden in neuem Glanz erstrahlen: Die Prachtentfaltung, die er an den Höfen des westlichen und südlichen Europa kennen gelernt hatte, versuchte er auch am Dresdner Hof zu erreichen. Die Förderung von Architektur und Kunst, die großen Gemäldesammlungen wie die Dresdner Gemäldegalerie und das „Grüne Gewölbe“, die prächtigen barocken Bauwerke wie das Schloss Moritzburg, der Barockgarten Großsedlitz oder der Dresdner Zwinger und Erfindungen auf technischem und künstlerischem Gebiet brachten Dresden den bewundernden Beinamen „Elbflorenz“ ein. Als eine der ersten deutschen Städte besaß Dresden damals öffentlich zugängliche Museen, die zum Vorbild vieler anderer (zum Beispiel in Wien und München) wurden. 1705 wurde eine Malerschule gegründet, aus der die Dresdner Kunstakademie hervorging.

Moritzburg. Quelle: http://www.mietstation-dresden.de/wp-content/uploads/2013/09/moritzburg-header.jpg

Renommieren, vor allem mit Kunstkabinetten und Schlössern wie dem Jagdschloss Hubertusburg, gehört zum Handwerk barocker Monarchen. Insgesamt habe Augusts Politik laut diverser Historiker Sachsen eher geschwächt als gestärkt. Die Einschätzung ist allerdings relativ und sollte vor dem Hintergrund der Epoche gesehen werden: Im Barock, wo Prachtentfaltung und Kraft ein und dasselbe waren, war August tatsächlich „der Starke“. Seine Niederlage im Nordischen Krieg und die Tatsache, dass er unterm Strich Russlands Einfluss in Polen fördern half, trat dahinter zurück. Sein Beiname bezieht sich auf seine mitunter zur Schau gestellte körperliche Kraft. So soll er am 15. Februar 1711 ein Hufeisen mit den bloßen Händen zerbrochen haben. Darüber ließ er ein Zertifikat anfertigen und Hufeisen wie Zertifikat in der Kunstkammer aufbewahren.

Weil ihm militärisch wenig glückte, „legte er umso mehr Wert auf die Zurschaustellung einer Majestät, die ihn aus dem Kreis der sieben deutschen Kurfürsten, denen er angehörte, herausheben und auf eine repräsentative Stelle mit den Weltherrschern seiner Zeit stellen sollte: mit dem Deutschen Kaiser, dem russischen Zaren und dem französischen König“ erklärte Andreas Platthaus in der FAZ nach dem ungeheuerlichen und unerklärlichen Raub dreier unermesslich wertvoller Diamant-Geschmeide aus dem Grünen Gewölbe im November 2019, der den Freistaat geschockt hinterließ.

Grünes Gewölbe. Quelle: https://gruenes-gewoelbe.skd.museum/fileadmin/_processed_/1/6/csm_HistGruenesGewoelbe-6317_2baea85213.jpg

Rauschende Feste, oft tagelang und mit Zehntausenden Komparsen, galten schon eher als „hohe Politik“. Der Focus zitiert einen preußischen Gesandten, der über eine Geburtstagsfeier des Regenten schrieb: „Der ganze Garten war beleuchtet und hatte in den beiden Ecken zwei Kabinette zu stillen Vergnügungen. Am Ende großes Besäufnis. Der König, wacker in diesem Punkte, allen voraus.“ Bei großen Festen soll er bis zu sieben Flaschen Tokajer-Wein an einem Abend getrunken haben, weiß Heimatkundlerin Ursula Breckle. Unumstrittener Höhepunkt des höfischen Lebens war die 4 Mio. Taler teure Jahrhunderthochzeit des Kurprinzen mit Kaisertochter Maria Josepha von Österreich 1719: vom 2. bis 28. September wechselten Jagden, Opernaufführungen, Konzerte, Tanzabende und Paraden ab. Dresden würdigte das 300. Jubiläum der sogenannten Planetenfeierlichkeiten, die Stadtgeschichte schrieben, im vergangenen Jahr ausgiebig.

„Sachsen ist wie ein Mehlsack“

Typisch für August war das „Zeithainer Lustlager“ im Sommer 1730, bei dem 30.000 Paradesoldaten die Kulisse gaben: Kombiniert mit Theater und Feuerwerk stellte die Festivität noch einmal Sachsens Lebenskraft zur Schau – und die Lebenskraft seines Monarchen. Unter den geladenen Gästen jedoch taucht neben seinem asketischen, sparsamen Vater auch der preußische Kronprinz Friedrich auf, der dort zunächst mehrfache Demütigungen wegzustecken hat, an denen Sachsens Premierminister Graf Brühl beteiligt war. Eine Gräfin Formora soll den Kronprinzen aber auch in die Liebe eingeführt haben. Ob der Prinz sich dabei „inficierte“, ist umstritten – er hatte sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen, die seine Kinderlosigkeit erklären könnte. Sein Groll gegen die Sachsen währte lebenslang und beeinflusste sein Verhalten im Siebenjährigen Krieg. Sprichwörtlich ist heute sein Ausspruch: „Sachsen ist wie ein Mehlsack. Man kann immer wieder drauf schlagen und es kommt immer noch was heraus…“

Zeithainer Lustlager. Quelle: Von Johann Alexander Thiele, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9430831

August dagegen litt aufgrund seines Lebenswandels unter Diabetes mellitus – ihm wurde eine Zehe amputiert – Bluthochdruck sowie Fettstoffwechselstörungen und war zuletzt stark übergewichtig. Die Zuckerkrankheit ließ ihn jedoch nicht enthaltsamer leben, die Vorschriften der Ärzte beachtete er nicht. Er starb am 1. Februar 1733 um 4 Uhr nach einem Schwächeanfall im Alter von 62 Jahren in Warschau und wurde am 25. Januar 1734 im Beisein seines Sohnes in der Königskrypta der Wawelkathedrale des Schlosses zu Krakau feierlich beigesetzt. Sein Herz dagegen kam auf eigenen Wunsch in einer silbernen, innen vergoldeten Kapsel nach Dresden.

Sein Sohn Friedrich August II. wird sich als schwächerer Regent erweisen, der während des Siebenjährigen Kriegs Sachsens Glanz vor Preußens Gloria verblassen, den sächsischen Barock sowie das „augusteische Zeitalter“ enden lässt. Mit seinem Tod 1763 geht den Kurfürsten auch die teuer erkaufte polnische Krone verloren. Sachsens Rolle auf der europäischen Bühne ist ausgespielt – bis Pegida und AfD dem laut Hamburger Morgenpost „Schandfleck“ Deutschlands wieder politische Aufmerksamkeit sichern.

Von der Philosophie über die Mathematik und die Psychologie bis hin zum Bergsport: so kann man die Karriere allein einer seiner vielen Flunkergeschichten zusammenfassen: die des wundersamen am Schopf aus dem Sumpf Ziehens, samt Pferd. In ersterer wurde daraus in Anlehnung an Nietzsches „Münchhausenscher Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn“, das Münchhausen-Trilemma des wissenschaftlichen Beweises eines „Urgrunds“. Von einer Münchhausenzahl spricht man, wenn die Summe ihrer einzelnen mit sich selbst potenzierten Ziffern wieder diese Zahl ergeben, sich also im übertragenen Sinne jede Ziffer selbst „hochzieht“, etwa 3435: 33 + 44 +33 + 55 = 27 + 256 + 27 + 3125.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist das Erfinden, Übersteigern oder tatsächliche Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten, mehrheitlich Kindern, meist um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen und/oder um selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden zu übernehmen. Und als Münchhausen-Methode bezeichnet man im Bergsport eine Rettungstechnik, sich selbst mittels diverser Seiltechniken aus einer Gletscherspalte zu befreien, das engl. Bootstrapping ist eng damit verwandt. Immer jedoch geht es darum, sich ohne die im Grunde erforderliche Hilfe von außen durch eigene Kraft aus einer Notlage zu befreien.

Münchhausen zieht sich am Schopf aus dem Sumpf. Postkartenserie der Firma UVACHROM (Verlag Farbenphotographische Gesellschaft m.b.H., Stuttgart) von Oscar Herrfurth in zwei Folgen von je sechs Postkarten (vor 1934). Quelle: http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/gottfried-august-buerger/die-abenteuer-des-freiherrn-von-muenchhausen/muenchhausens-abenteuer-in-bildern-von-oskar-herrfurth-folge-2.html

Wie bei einem Großteil der Geschichten liegt der eigentliche Witz auch hier darin, dass physikalische oder biologische Bedingtheiten wie selbstverständlich ad absurdum geführt werden: der achtbeinige Hase, der sich einfach umdreht, wenn der eine Satz seiner Läufe müde geworden ist; der kranke Überrock, der durch den Biss eines tollwütigen Hundes infiziert wurde; und natürlich der Ritt auf der Kanonenkugel. Der Urheber all dieser prahlerischen Lügengeschichten, die als Münchhaus(en)iade mit einer eigenen literarischen Gattungsbezeichnung belegt sind, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, feierte am 11. Mai seinen 300. Geburtstag.

Vom russischen Soldaten zum Landadligen

Der Spross eines 1183 erstmals erwähnten niedersächsischen Adelsgeschlechts wächst mit sechs, nach anderen Quellen sieben Geschwistern im Herrenhaus eines Gutshofs in Bodenwerder bei Holzminden auf. Sein Vater, ein Kavallerie-Oberstleutnant, starb, als er vier Jahre alt war, die Mutter erzieht die Kinderschar. Im Alter von 12 Jahren wurde Hieronymus Page im Schloss Bevern, mit 15 Jahren am Braunschweiger Hof in Wolfenbüttel. 1737 wurde er Page von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem künftigen Gemahl der designierten russischen Zarin Anna Leopoldowna. Der Herzog lebte bereits in Sankt Petersburg und sollte sich in der russischen Aristokratie bewähren, was natürlich den Militärdienst einschließt.

Nach dreimonatiger Reise kommt Münchhausen im Februar 1738 in Russland an und folgte offenbar noch im selben Monat seinem Herrn in den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg, der ihm als Folie für die ersten der ihm zugeschriebenen Lügengeschichten diente. Der „Ritt auf der Kanonenkugel“ könnte die Belagerung der osmanischen Krim-Festung Otschakow durch den russischen Oberbefehlshaber zum Hintergrund haben – auch wenn heute die Festung Bender in Transnistrien für sich in Anspruch nimmt, Ausgangs- und Rückkehrort des Kanonenkugelritts gewesen zu sein. Nach Kriegsende 1739 wurde Münchhausen zum Fähnrich, ein Jahr später zum Leutnant der von Anton Ulrich befehligten russischen „Braunschweig-Kürassiere“ ernannt, die in Riga in Garnison lagen und wohl auch am Russisch-Schwedischen Krieg teilnahmen.

Baron Münchhausen. Quelle: Von G. Bruckner – http://www.kinder.niedersachsen.de/index.php?id=676, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7581227

Doch seine Karriere geriet ins Stocken, als sich Elisabeth, Tochter Peters des Großen, 1741 auf den Zarenthron putschte und Anton Ulrichs Familie für lange Jahre in Gefangenschaft nahm. Zwar überstand Münchhausen den Umsturz heil, weil er zu dieser Zeit in Finnland kämpfte, aber seine weitere Beförderung zum Rittmeister ließ ein ganzes Jahrzehnt auf sich warten. Die Garnisonsstadt Riga wurde in diesen Jahren sein hauptsächlicher Aufenthaltsort, die baltischen Jahre ein Quell seiner Erzählungen.

Denn der befreundete Landadlige Georg Gustav von Dunten lud ihn wiederholt auf sein Landgut nahe dem einst livländischen, jetzt lettischen Ort Ruthern (Dunte) ein, wo beide der Entenjagd nachgingen und er sich in Duntens junge Tochter Jacobine verliebte. Beide heirateten 1744 in der Kirche zu Pernigel (heute: Liepupe) unweit von Dunte. Die Einheimischen behaupten heute noch, dass es eben die Kirche zu Pernigel war, an deren Turmspitze das Pferd Münchhausens im Winter angebunden gewesen sein soll. In einer Rutherner Schenke soll er sich erstmals als Geschichtenerzähler betätigt haben. Sowohl die Schenke als auch das Landgut sind heute Museum – wie ihn Lettland überhaupt bis heute hoch schätzt.

Münchhausens Pferd am Kirchturm. Postkartenserie der Firma UVACHROM (Verlag Farbenphotographische Gesellschaft m.b.H., Stuttgart) von Oscar Herrfurth in zwei Folgen von je sechs Postkarten (vor 1934). Quelle: http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/gottfried-august-buerger/die-abenteuer-des-freiherrn-von-muenchhausen/muenchhausens-abenteuer-in-bildern-von-oskar-herrfurth-folge-2.html

1750 nahm Münchhausen seinen Abschied, kehrte mit seiner Frau nach Bodenwerder zurück und lebte 47 Jahre das Leben eines Landedelmanns, der sein Gut bestellt, geselligen Verkehr mit seinen Gutsnachbarn pflegt und dessen liebster Zeitvertrieb die Jagd ist. 1763 ließ er die berühmte „Münchhausen-Grotte“ in seinen Berggarten bauen, in der er im Kreise seiner Freunde und Jagdgäste seine abenteuerlichen Erzählungen zum Besten gab. Sein Erzähltalent begann auch über seinen Freundeskreis hinaus allmählich berühmt zu werden. Gäste kamen nach Bodenwerder, auch von weit her, um die fabelhaften und humorvollen Geschichten zu hören.

Verwitwet und verbittert

Die ersten drei dieser Erzählungen publizierte schon 1761 Graf Rochus Friedrich zu Lynar, ein gemeinsamer Bekannter aus Petersburg, unter dem Titel „Der Sonderling“ zur moralischen Erziehung seiner Bediensteten. Zwanzig Jahre später erschienen in einem anonym veröffentlichten „Vademecum für lustige Leute“ sechzehn Anekdoten, die einem Herrn „M-h-s-n“ in den Mund gelegt wurden. Der für seine öffentlichkeitsscheue Zurückgezogenheit bekannte Münchhausen selbst war von der Veröffentlichung keineswegs begeistert, denn dieses Büchlein, erst recht die nachfolgenden, machte ihn zwar berühmt, ruinierte aber seinen Ruf: nun galt er als der „Lügenbaron“ und war – in seinen Augen – der Lächerlichkeit preisgegeben.

Erster Nachfolger war „Baron Munchhausens Narrative of His Marvellous Travels und Campaigns in Russia” des verschuldeten Universalgelehrten und Kustos Rudolf Erich Raspe, gelegentlicher Gast in Bodenwerder. Er war nach einem entdeckten Diebstahl nach England geflohen und veröffentlichte, um an Geld zu kommen, 1785 in London eine Reihe von Anekdoten und Reiseabenteuern unter Münchhausens Namen. Raspes Buch wurde ein ungeheurer Erfolg und zog vier stets erweiterte Neuauflagen nach sich, darunter mit Seeabenteuern, Geschichten von Lukian, dem antiken Erfinder der Lügengeschichte, und englischen Kriegsberichten.

Zweiter Nachfolger war „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt“, die im September 1786 Gottfried August Bürger in Göttingen veröffentlichte. Sie gelten heute als bekannteste Fassung der Abenteuer des Lügenbarons und stellen teilweise eine Übersetzung von Raspes Vorlage, teilweise Bürgers eigene Schöpfung dar. Seither wurden auch Vorwürfe der Blasphemie laut, die mit der Lüge offensichtlich zusammengehört – nach der Offenbarung des Johannes sind ja Prahlen, Lästern, Lügen und Gott verleugnen dasselbe: Sünde und Teufelswerk. 1788 veröffentlicht Bürger einen zweiten Band.

Münchhausens Ritt auf der Kanonenkugel. Postkartenserie der Firma UVACHROM (Verlag Farbenphotographische Gesellschaft m.b.H., Stuttgart) von Oscar Herrfurth in zwei Folgen von je sechs Postkarten (vor 1934). Quelle: http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/gottfried-august-buerger/die-abenteuer-des-freiherrn-von-muenchhausen/muenchhausens-abenteuer-in-bildern-von-oskar-herrfurth-folge-2.html

Hart traf Münchhausen 1790 der Tod seiner Ehefrau, mit der er eine glückliche, aber kinderlose Ehe hatte. Er warb dann um sein Patenkind Bernhardine, die erst 17-jährige Tochter des Majors von Brunn aus Polle. Die Ehe scheiterte schon nach kurzer Zeit wegen erwiesener Untreue seiner jungen Frau. Ein von Münchhausen angestrengter Scheidungsprozess wurde von Advokaten in die Länge gezogen – nicht zuletzt mit einem Münchhausenbuch, das auf dem Richtertisch landete und ihn als unglaubwürdigen Lügenbaron erscheinen lassen sollte. Der Freiherr verlor im Prozess fast sein ganzes Vermögen und musste 1794 das Gut Bodenwerder formell an seinen Neffen Wilhelm abtreten, blieb jedoch dort wohnen. Sein Ruf, sein Ruin und seine Scheidung ließen ihn zunehmend verbittern.

„Verbeugung vor der Fantasie“

Der Scheidungsprozess war noch nicht beendet, als Münchhausen am 22. Februar 1797 verstarb und in der nahen Klosterkirche Kemnade beigesetzt wurde. Seine Heimatstadt trägt seit 2013 offiziell den Titel Münchhausenstadt, das Herrenhaus dient heute als Rathaus. Beim jährlichen Münchhausen-Musical können Besucher die fantasievollen Geschichten des Barons als Freilichtspiel verfolgen. Die große Bedeutung des Adligen für Bodenwerder zeigt sich auch in der jährlichen Verleihung des Münchhausen-Preises, mit dem die Stadt seit 1997 Menschen mit „besonderer Begabung in Darstellungs- und Redekunst, Fantasie und Satire“ ehrt. Zu den Preisträgern gehörten etwa Ephraim Kishon, Rudi Carell und Dieter Nuhr. Einige deutsche und lettische Münzen und Briefmarken sind ihm gewidmet, ein Asteroid ist nach ihm benannt.

Insgesamt sind allein für die deutschen Ausgaben über 100 Lügengeschichten überliefert und von verschiedenen Autoren –zigfach adaptiert worden, so 1839 von Karl Leberecht Immermann, 1906 von Paul Scheerbart und 1934, als Schauspiel, von Walter Hasenclever. Seit Georges Méliès Stummfilm 1911 wurden Münchhausen-Geschichten auch mehrfach sowohl als Real- wie auch Zeichentrickfilm verfilmt. Zu den bekanntesten gehört der UFA-Film „Münchhausen“ von 1943 mit Hans Albers in der Titelrolle, für den Erich Kästner unter Pseudonym das Drehbuch schrieb und der mit rund 6,5 Millionen Reichsmark Produktionskosten nach „Kolberg“ die zweitteuerste Filmproduktion der NS-Zeit war. In einem französischen Trickfilm 1979 lieh Harald Juhnke Münchhausen seine Stimme. 1988 drehte Ex-Monty-Python Terry Gilliam eine aufwändige Produktion unter anderem mit Oliver Reed, Robin Williams und Sting.

Für ein paar Bier erzählt der heruntergekommene Münchhausen (Jan Josef Liefers) seine Abenteuer. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/c16162dc-0001-0004-0000-000000440752_w1528_r1.4900234741784038_fpx49.63_fpy50.jpg

Die letzte große Verfilmung lieferte unter dem Titel „Baron Münchhausen“ die ARD zu den Weihnachtsfeiertagen 2012: einen zweiteiligen 180-minütigen Streifen mit Jan Josef Liefers in der Titelrolle. Münchhausen wird gezeigt als mittelloser Baron, wortgewandter Tausendsassa und weltreisender Charmeur mit einem Händchen für glaubhafte Ausreden und spektakuläre Heldentaten – und das weibliche Geschlecht – der sich dank seines Talents ein ums andere Mal aus brenzligen Situationen rettet. „Unser Münchhausen ist eine Verbeugung vor der unbändigen Fantasie, vor dem Kind in uns allen“, sagte Liefers über die Rolle. „Und er ist ein Dankeschön an alle Spinner und weltfremden Außenseiter, die vielleicht nicht mit der Realität klar kommen, aber trotzdem nicht an ihr scheitern, weil sie Träume für bare Münze nehmen und uns an das erinnern, was wir irgendwann in unserem Leben auch mal gerne sein wollten.“

Die Adelsspezialisten rätseln bis heute über einen genealogischen Fauxpas, der wohl kaum jemals aufgeklärt werden dürfte: die potentielle Verwandtschaft zwischen Camilla Parker Bowles, der heutigen Kronprinzessin und Herzogin von Cornwall, und ihrem Mann, dem britischen Kronprinzen Charles. Die Erklärung: Alice Keppel, die letzte und innigste Mätresse von Kronprinz Albert Edward, schenkte 1900 einer Tochter das Leben, Camillas Großmutter Sonia, von der bis heute unklar ist, ob dem Kronprinz oder Keppels Mann die Vaterschaft gebührt. Wie durch eine merkwürdige Fügung des Schicksals wurden beide Frauen, blutsverwandt und im Abstand von vier Generationen, zu Mätressen eines Prince of Wales.

Die Freimaurer dagegen feiern ihn noch heute als Protektor der britischen Freimaurerei und, bis zu seiner Krönung, Großmeister der Vereinigten Großloge von England. Die Zahl der aktiven Logen stieg in der Zeit seiner Großmeisterschaft von 1200 auf über 3000. Zwei seiner Brüder und seinen ältesten Sohn, den Herzog von Clarence, nahm er persönlich in den Bund auf. Bis heute kündet ein Denkmal in Marienbad (Mariánské Lázně), einem der drei berühmten Bäder in Westböhmen, in dem er jährlich kurte, vom ungleichen Treffen zweier Monarchen: Am 16. August 1904 begegneten sich hier Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, in dem die Freimaurerei schon mehr als hundert Jahre verboten war, und Edward. Eine Heilquelle vor dem Marienbader Hotel Cristal Palace heißt nach ihm, sie soll Magen- und Darmbeschwerden lindern.

Treffen in Marienbad. Quelle: https://www.lokalkompass.de/oberhausen/c-kultur/urlaub-in-marienbad-tschechien_a573682#gallery=default&pid=7328772

Edward, der erste britische Herrscher aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha, das in Großbritannien seit 1917 Haus Windsor genannt wird, starb am 6. Mai 1910. Die neun Majestäten, die wenige Tage darauf hoch zu Roß seinem Sarge folgten, sollen ein so überwältigendes Bild geboten haben, dass die schwarzgekleidete Menge ehrfurchtsvoll schwieg. Scharlachfarben, blau, grün und purpurrot ritten die Herrscher jeweils zu dreien nebeneinander, mit nickenden Helmbüschen, goldenen Tressen, karmesinroten Schärpen und juwelenbesetzten Orden, die in der Sonne aufblitzten. Ihnen folgten fünf Thronerben, dann weitere vierzig kaiserliche oder königliche Hoheiten, sieben Königinnen – davon drei Regierende und vier Königinwitwen – und eine Schar von Sondergesandten aus Ländern, deren Herren keine Krone trugen.

Man hatte Eduard oft den „Onkel Europas“ genannt, und diesen Titel konnte man, soweit es sich um die regierenden Häuser Europas handelte, ganz wörtlich nehmen. Er war der Onkel nicht nur Kaiser Wilhelms, sondern durch die Schwester seiner Frau, die Kaiserinwitwe Marie von Rußland, auch des Zaren Nikolaus II. Seine Nichte Alix war die Zarin, seine Tochter Maud Königin von Norwegen; eine andere Nichte, Ena, war Königin von Spanien, eine dritte, Marie, sollte bald Königin von Rumänien werden. Insgesamt waren siebzig Nationen vertreten in dieser größten Versammlung von Königen und Würdenträgern, die sich je an einer Stelle zusammengefunden hat und die in ihrer Art die letzte sein sollte.

„Sein Intellekt ist schwach“

Prinz Albert Edward wurde am 9. November 1841 als ältester Sohn und zweites von neun Kindern von Königin Victoria und ihres Prinzgemahls Albert von Sachsen-Coburg-Gotha im Londoner Buckingham Palace geboren. Bereits vier Wochen nach seiner Geburt wurde ihm der Titel eines Prince of Wales verliehen. Das Königspaar war entschlossen, „Bertie“, wie er im engeren Familienkreis genannt wurde, eine Ausbildung zukommen zu lassen, die ihn zu einem vorbildlichen konstitutionellen Monarchen machen sollte. „Ich hoffe und bete, dass er wie sein liebster Papa werden möchte“, schrieb die Königin in einem Brief an ihren Onkel Leopold I. von Belgien. Sein überaus strenger Vater bestellte Privatlehrer und Erzieher und übergab ihnen den siebenjährigen Prinzen, der jedoch von unstetem Wesen war und sich nicht als Musterschüler erwies.

Edward bei seiner Krönung. Quelle: Von W. & D. Downey – Weltrundschau zu Reclams Universum 1902, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71143459

Bald macht die Mutter keinen Hehl daraus, dass sie ihren ältesten Sohn für einen vollkommen ungeeigneten Thronfolger, die ältere Schwester dagegen für begabt und intelligent hält. „Sein Intellekt – ach! – ist schwach“, schreibt sie über ihren Sohn. Zweisprachig erzogen, meisterte er die deutsche Sprache zuerst, während er sich mit dem Englischen zunächst schwer tat. Der Privatunterricht des Jungen an sechs Tagen die Woche gerät zum Desaster. Die Lehrer schaffen es kaum, seine Aufmerksamkeit zu fixieren. „Sie ließen seinen Kopf vermessen, um zu sehen, was mit ihm nicht stimmte“, sagt Historikerin Jane Ridley im WDR. Dabei hat der Junge durchaus Eigenschaften der königlichen Mutter geerbt. „Er war jähzornig, scharfsinnig, aber kein Akademiker“, so Ridley. Dennoch hätten die Eltern gerne einen Intellektuellen mit hohen moralischen Prinzipien aus ihrem ältesten Sohn gemacht.

Tatsächlich entwickelt sich Prinz Edward genau ins Gegenteil: Bücher sind ihm ein Leben lang ein Graus. Auch die Studienreisen durch Europa und Ägypten, die seine Eltern ihm als Teenager verordnen, wecken nicht das erhoffte Interesse an Kunst, Kultur und Geschichte. Mit einer Ausnahme 1855: Während eines Besuchs in Paris mit seinen Eltern entwickelt Eduard eine lebenslange Liebe zu Frankreich. Zu Napoleon III. sagte er: „Sie haben ein schönes Land. Ich wäre gern Ihr Sohn.“ Diese Vorliebe für alles Französische, die im Gegensatz oder vielleicht auch im Widerspruch zu den deutschen Neigungen seiner Mutter stand, hielt sein Leben lang an; er machte sie nach ihrem Tode nutzbar. Dennoch erhielt er ab 1859 die standesgemäße Ausbildung in Oxford und Cambridge. Seine erste diplomatische Erfahrung sammelte er 1860: Erstmals besuchte ein britischer Thronfolger Kanada und die Vereinigten Staaten. Eduard zeigte dabei großes diplomatisches Geschick, und der Besuch wurde als außenpolitischer Erfolg gefeiert.

Doch vorerst widmet er sich den leichten Dingen des Lebens: Jagd, Mode, Glücksspiel, Zigarren – und Damen. Im irischen Armeelager Curragh wollten Offizierskollegen dem Prinzen ein besonderes Geschenk bereiten und „schmuggelten“ die junge irische Schauspielerin Nellie Clifden in sein Bett. Als das Stelldichein der Königin zu Ohren kam, war die Panik groß, denn „Berties“ Hochzeit mit der jungen Prinzessin Alexandra von Dänemark war bereits ausgemachte Sache. Es galt, die Affäre möglichst unter Verschluss zu halten und einen Skandal für den zukünftigen König zu vermeiden – mit ungeahnt schweren Folgen.

Hochzeit mit Alexandra. Quelle: https://i.pinimg.com/originals/ff/b1/b3/ffb1b3b5ad1cf3ad59363800cbd1adc9.png

Der gesundheitlich schwer angeschlagene Albert ließ es sich wegen des Ernsts der Lage nicht nehmen, seinen Sohn selbst aufzusuchen und ihm eine persönliche Standpauke zu halten. Ein langer Spaziergang im Regen hatte fatale Folgen. Sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich und er starb kurz nach seiner Rückkehr am 14. Dezember 1861. Es war ein prägendes Ereignis, das Victorias Beziehung zu ihrem Sohn für den Rest ihres Lebens belasten sollte. Für sie war „Bertie“ allein schuld am Tod seines Vaters. Ihrer Tochter Vicky schrieb sie in einem Brief: „Ich kann und werde ihn nie wieder ohne Schaudern anschauen.“

„übergewichtiger Ehebrecher“

Victoria wird jahrzehntelang zögern, ihn mit offiziellen Aufgaben zu betrauen, und trieb ihn damit indirekt in ein müßiges Leben zwischen Jagd, Banketts und Bettgeschichten. Daran ändert auch die Heirat mit Alexandra am 10. März 1863 nichts, die ihm in sieben Jahren sechs Kinder schenkt. „Alexandra ist meine Zuchtstute, die anderen sind meine Reitpferde“, pflegt er zu sagen. Äußerlich ist der britische Prinz alles andere als gut aussehend, aber er kann Menschen in seinen Bann ziehen. „Jeder, mit dem er sprach, fühlte sich wertgeschätzt“, so Biographin Ridley. Diesem Charme – und wohl auch dem königlichen Titel – erliegen zahlreiche Damen der feinen und weniger feinen Gesellschaft. Beachtliche 55 Affären sagt man ihm nach, darunter auch mit der Mutter von Winston Churchill. Eduard war insgesamt 59 Jahre lang Prince of Wales und galt als „ewiger Thronfolger.“

1875 wird er zum Feldmarschall ernannt, im selben Jahr stärkt seine Reise nach Indien die Verbindung zwischen beiden Ländern. 1878 setzt er sich als Präsident der britischen Sektion der Pariser Ausstellung für ein gutes Verhältnis zwischen Großbritannien und Frankreich ein. Als „Bertie“ 1901 schließlich den Thron besteigt er und er sich wohl kaum zufällig gegen den Namen Albert entschied, sind die Erwartungen an den fast 60-jährigen niedrig. „Viele sahen Edward VII. als übergewichtigen Ehebrecher“, so Ridley. Zur allgemeinen Überraschung arbeitet der Lebemann hart und wird ein beim Volk beliebter Monarch, der vor allem die bis dato miserablen Beziehungen zwischen Frankreich und Großbritannien verbessert. In den neun kurzen Jahren seiner Regierung hatte England notgedrungen seine splendid isolation aufgegeben. An ihrer Stelle war, da die englische Politik seit je weniger zu regelrechten Bündnissen neigte, eine Reihe von „Abkommen“ und Vereinbarungen mit zwei alten Feinden getreten, nämlich Frankreich und Russland, und mit einer vielversprechenden neuen Macht: Japan.

Auf dem Höhepunkt des Ruhms. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1612595

1903 wird er zum Kaiser von Indien proklamiert. Während eines Besuchs in Paris bereitet Eduard VII. den Boden für ein britisch-französisches Bündnis vor, die „Entente cordiale“. Am 8. April 1904 wird sie offiziell besiegelt; durch die Einbeziehung Russlands entwickelt sich daraus 1907 die Tripelentente. Die daraus resultierende Veränderung des Gleichgewichts war in der ganzen Welt zu spüren und wirkte sich in den wechselseitigen Beziehungen aller Staaten aus. Obwohl Eduard den politischen Kurs seines Landes weder bestimmte noch beeinflusste, gab sein persönliches diplomatisches Geschick bei dieser Umstellung doch den Ausschlag. Nur das Verhältnis zu Deutschland, mit dem England seit geraumer Zeit im Marine-Wettrüsten verstrickt ist, verschlechtert sich zusehends. „Ich habe nicht mehr lang zu leben. Und dann wird mein Neffe in den Krieg ziehen“, prognostiziert er im März 1910. Für Wilhelm II. ist der Bruder seiner Mutter, dem er weder befehlen noch imponieren konnte, ein böser Geist, Anstifter der Einkreisung Deutschlands: „Er ist ein Satan! Man glaubt gar nicht, was für ein Satan er ist.“ Dieser Ausspruch des Kaisers fiel 1907 in Berlin bei einem Essen vor dreihundert Gästen.

In gesellschaftlichen Kreisen gefiel er durch sein ungezwungenes und einnehmendes Wesen. Aufsehen erregte sein Empfang einer indianischen Delegation aus dem Westen Kanadas im Jahr 1906. Innenpolitisch macht er die strikte Zurückhaltung des Monarchen gegenüber Regierungshandlungen zum Bestandteil des Verfassungslebens. Gleichzeitig nimmt er die unter Königin Viktoria in Verfall geratene Tradition glanzvoller Selbstdarstellung der Monarchie wieder auf. Er betätigte sich seit langem als Patron der Künste und Wissenschaften und war bei der Gründung des Royal College of Music beteiligt. Der exzessive Kettenraucher, der mit zunehmendem Alter an Bronchitis litt, brach im März 1910 während eines Aufenthalts in Biarritz zusammen, erlitt mehrere Herzinfarkte und verstarb schließlich, in Anwesenheit von Alice Keppel, am 6. Mai. Robert Scott benannte eine antarktische Halbinsel nach ihm, auch zwei Stadtparks im australischen Perth und in Lissabon tragen seinen Namen.

Bertie und Alice. Quelle: http://dianalegacy.com/wp-content/uploads/2019/08/King-Edward-VII-and-Alice-Keppel-Image-GETTY.jpg

Alice war 78, als sie 1947 in Florenz starb. Ihre Urenkelin Camilla hat sie nicht mehr kennen gelernt. Vermutlich hätte sie sich über deren Liaison mit Charles amüsiert. Ob sie allerdings die Ehe mit dem Prinzen gutgeheißen hätte, ist fraglich. Als Edward VIII. 1936 wegen der geschiedenen Wallis Simpson auf den Thron verzichtete, schüttelte sie sich und sagte: „Zu meiner Zeit wurden diese Dinge besser geregelt.“ Sie wusste eben noch, wo sie als Geliebte hingehörte, meint Stefanie Rosenkranz im Stern: „ins Bett und nicht auf den Thron.“

Sein größtes ästhetisches Geheimnis ist eigentlich winzig: „Mach den Zuschauer zum Vorwisser aller bedrohlichen Geschehnisse“. So schickte der Schurke des Streifens „Sabotage“ (1936) einen kleinen Jungen mit einem Paket los, in dem eine Zeitbombe tickt. Der Zuschauer weiß, wieviel Zeit dem Jungen bleibt, sich des gefährlichen Päckchens zu entledigen. Der Junge jedoch trödelt, er ist eben ein Kind. Und da er sich verspätet, fliegt er mitsamt einem Omnibus in die Luft. Diese Szene zerrte so an den Nerven der Zuschauer, dass nach der Premiere eine Kritikerin auf den Regisseur zustürzte, um ihn tätlich anzugreifen. Ihr Name ist vergessen, der des Regisseurs nicht: Alfred Hitchcock.

Seine Filme führen in die aberwitzigen Abgründe menschlicher Ängste hinein wie im Meisterwerk „Vertigo“, frönen schamlos voyeuristischen Gelüsten wie in „Das Fenster zum Hof“ oder lassen eine Hoteldusche zu Dantes Inferno geraten wie in „Psycho“. Er gilt als bislang unübertroffener Meister der „suggestiven Verführung“ und schuf „Dramen des intakten Gehorsams gegenüber einer verqueren Erziehung“, ja „eine Welt, in der Angst und Luxus die beiden Waagschalen auf der Waage der Verdrängungen sind und die Sexualität die heimliche Kraft“, befand Hellmuth Karasek einst im Spiegel.

Alfred Hitchcock. Quelle: https://time.com/3977310/alfred-hitchcock-quotations/

Zwischen 1925 und 1976 drehte er insgesamt 53 Filme, in denen vor allem Blondinen nirgendwo sicher waren. Mal stürzten sie von einem Kirchturm in die Tiefe, mal wurden sie unter der Dusche von einem Psychopathen oder unter freiem Himmel von Vögeln attackiert. Die Schauspielerin Tippi Hedren, die mit „Die Vögel“ und „Marnie“ zum Star wurde, behauptete, auch die Darstellerinnen der Blondinen hätten sich ihrer Haut erwehren müssen – gegenüber Hitchcock selbst. Der erst dickliche, im Alter dann kugelrunde Regisseur mit der unvermeidlichen Zigarre zwischen den fleischigen Fingern starb vor 40 Jahren, am Morgen des 29. April 1980 in seinem Haus in Los Angeles an Nierenversagen. Seine Leiche wurde eingeäschert, die Asche an einem unbekannten Ort verstreut.

Vom Zeichner zum Produktionsleiter

Der am 13. August 1899 geborene Sohn eines Londoner Gemüsehändlers erzählte immer wieder gerne ein Angst-Erlebnis aus seiner Kindheit. Als er eines Abends zu spät nach Hause kam, schickte ihn sein Vater mit einem Brief zu einem befreundeten Wachmann auf die Polizeistation. Der Wachmann las den Brief, warf den Jungen ins Gefängnis und brüllte ihn an, dass es so allen Kindern ergehe, die zu spät nach Hause kämen. Aufgrund des großen Altersunterschieds zu seinen älteren Geschwistern, seiner katholischen Erziehung zumal an einer strengen Jesuitenschule und nicht zuletzt aufgrund seines Äußeren – er war klein und schon als Kind korpulent – schreiben Biographen von einer einsamen Kindheit – ein Aspekt, der gerne banal-psychologisch zurechtgelegt wird: Weil der große Hitchcock Kindheitsängste verarbeiten musste, drehte er Filme, die Angst machen.

Hitchcock ging kurzzeitig auf eine Ingenieursschule, belegte Kurse an der Londoner Kunstakademie und flüchtete sich in die Kunst: er las, besuchte Theatervorstellungen und ging oft ins Kino, verfolgte aber auch Mordprozesse im Gerichtshof Old Bailey. Ab 1915 arbeitete bei einer Telegraphen-Gesellschaft, wo er wegen seines zeichnerischen Talents bald in die Werbeabteilung versetzt wurde. Unter seinem Spitznamen „Hitch“ veröffentlichte er in der Betriebszeitschrift erste gruselige Kurzgeschichten. 1920 wurde er als Zeichner von Zwischentiteln bei der Londoner Paramount angestellt, entwarf nebenbei Kostüme, Dekorationen und Szenenbilder und machte auch durch Überarbeitungen von Drehbüchern auf sich aufmerksam. Hitchcock wurde Regieassistent, Drehbuchautor, Szenenbildner – bei manchen Filmen nahm er als verkappter Produktionsleiter all diese Positionen ein. 1922 drehte er seinen ersten eigenen Film, der nie fertiggestellt wurde – unter tätiger Mithilfe von Alma Reville, einer Editorin, die er später heiratete und seine wichtigste Mitarbeiterin wurde. Beide sollen sich zeitlebens treu gewesen sein. 1928 wurde ihre gemeinsame Tochter Patricia geboren.

Die Drehbuchautorin Joan Harrison (2.v.l.) mit der Familie Hitchcock (1937). Quelle: Von New York World-Telegram and the Sun Newspaper Photograph Collection (Library of Congress); Acme Photographs – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3c38313 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar. Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44147163

1924/25 kam Hitchcock als Assistent von Regisseur Graham Cutts nach Deutschland, lernte rasch die fremde Sprache und schaute Friedrich Wilhelm Murnau über die Schulter. Das Melodram „Irrgarten der Leidenschaft“, in Berlin und München gedreht, war schließlich der erste echte „Hitchcock“. Mit dem 1926 gedrehten Stummfilm „Der Mieter“ um einen einzelgängerischen Pensionsgast, der verdächtigt wird, ein Serienmörder zu sein, hatte Hitchcock sein Thema gefunden. Der Film brachte ihm den Durchbruch, wurde zum Kassenschlager und war sicher ein wichtiger Grund, danach immer wieder noch perfektere Thriller zu liefern, etwa „Der Mann, der zu viel wusste“ (1934) und „Die 39 Stufen“ (1935). Daneben drehte Hitchcock aber auch einen Operettenfilm über Johann Strauß (1933) – ziemlich lustlos, wie er später zugab: „Ich hasse dieses Zeug. Melodrama ist das einzige, was ich wirklich kann.“ Mit „Jung und unschuldig“ (1937), einer weiteren, unbeschwerten Variation der Geschichte vom unschuldig Verfolgten, und dem in einem fahrenden Zug spielenden Thriller „Eine Dame verschwindet“ (1938) festigte Hitchcock seine Ausnahmestellung innerhalb des britischen Kinos – und erlag 1939 prompt den Verlockungen von Hollywood-Tycoon David O. Selznick. 15 Jahre später nahm er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.

„Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn“

Sein Einstand war überaus erfolgreich: Das düstere, psychologisch dichte Melodram „Rebecca“ mit mehr Schauerromantik als Thrill war 1940 elfmal für den Oscar nominiert und gewann schließlich zwei Trophäen für Kamera und Produktion. In den nächsten sieben Jahren dreht er nicht nur propagandistische Kurzfilme zur Unterstützung der französischen Résistance, sondern verfeinerte auch seine Vorliebe für Kriminalstoffe im Verbund mit seinem eigenen, makabren und skurrilen Humor: „Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn“, wird er sich später gern zitieren lassen. Es entstanden unter anderem „Verdacht“ (1941, mit Cary Grant), „Im Schatten des Zweifels“, „Das Rettungsboot“ (beide 1943) und „Ich kämpfe um dich“ (1945). Die damit begründete erfolgreiche Zusammenarbeit mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle ging gleich in der folgenden Produktion „Berüchtigt“ (1946) weiter. Inzwischen kennt der Meister auch die Erwartungen seines Publikums: „Es heißt, dass, würde ich ‚Cinderella‘ verfilmen, das Publikum nur darauf warten würde, dass eine Leiche aus der Kürbiskutsche fällt. Das stimmt. Wenn ich die Leute mit einem meiner Filme nicht zum Erschauern bringe, sind sie enttäuscht“.

Mit seiner 1946 gegründeten Produktionsfirma „Transatlantic Pictures“ verfügte er dann über die nötige Unabhängigkeit, seine Filme künstlerisch so zu gestalten, wie er das für richtig hielt – wenn die Auftraggeber, vor allem Warner und Paramount, mitspielten. Ob Cary Grant in „Der unsichtbare Dritte“ (1959) als Werbefachmann, der durch eine Verwechslung zum Verfolgten wird, oder James Stewart als Tourist, der in „Der Mann, der zu viel wusste“ (1956) durch eine Zufallsbekanntschaft in eine internationale Verschwörung hineingezogen wurde: Unschuldig Verfolgte und der Kampf des Einzelnen gegen Kräfte, die er nicht zu fassen bekommt, gehörten zu Hitchcocks Lieblingsthemen. Doch seine Filme waren nicht nur spannend und manchmal schockierend, sondern vor allem auch so minutiös durchgeplant und choreographiert, dass sich der Meister manches Nickerchen am Set leistete (manche Biographen mutmaßten, er leide an Schlafsucht) – die Einstellungen standen ja fest.

Cary Grant in „Der unsichtbare Dritte“. Quelle: https://www.lichtspiele-kalk.de/filme/der-unsichtbare-dritte/

Denn Hitchcock verachtete Filme, in denen alle Informationen über den Dialog vermittelt werden. Er führte das Auge seines Zuschauers, erzählte seine Geschichten mit Bildern, mit Kameraperspektiven, die erklären oder falsche Fährten legen konnten. Dafür experimentierte er mit den Möglichkeiten des Films und schuf Innovationen, die heute noch ebenso Bewunderung hervorrufen wie sie inzwischen zum festen ästhetischen Inventar gehörten. So wagte er einen Film, der ohne sichtbare Schnitte einen Echtzeiteffekt zur Folge hatte („Cocktail für eine Leiche“, 1948), filmte durch Glasböden („Der Mieter“, 1926), versenkte eine Lampe in einem Glas Milch, um den Zuschauer das Gift ahnen zu lassen („Verdacht“, 1941) oder kreierte den legendären „Vertigo“-Shot (1948), bei dem er eine echte Kamerafahrt mit einer gegenläufigen Anpassung der Brennweite kombinierte. Da das Motiv während der Fahrt in unveränderter Größe im Bild bleibt, wird der Bildausschnitt des Hintergrunds entweder größer oder kleiner, wodurch ein unnatürlicher, sogartiger Effekt entsteht.

Das brachte Hitchcock die Bewunderung junger europäischer Regisseure wie Francois Truffaut ein, dem er 1962 ein fünfzigstündiges (!) Interview gab. Es erschien 1966 als „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ in Buchform und gilt als Standardwerk der Filmliteratur. Hitchcock wurde sechsmal für den Oscar nominiert: fünfmal für die Beste Regie, einmal für den Besten Film (als Produzent). Alle sechs Mal ging er leer aus, was ihn zu dem Kommentar veranlasste: „Immer nur Brautjungfer, nie die Braut“. Seine kurzen „Cameo“-Auftritte in seinen eigenen Filmen und die von ihm ab 1955 moderierte Fernsehsendung „Alfred Hitchcock präsentiert“ prägten das öffentliche Bild Hitchcocks als selbstironischer, überlegener Manipulator, der sich gern als Snob, Entertainer und Gourmet inszenierte. Sein oft mit Schadenfreude gepaarter Witz trieb manchmal bizarre Blüten: So ließ er bei einem Empfang in New York erlesene Delikatessen als (laut Karte) „gebrochene Rippen und blutiges Gulasch“ von Kellnern in Chirurgen-Montur servieren.

Schokoladensoße statt Filmblut

Zwar dreht Hitchcock mit „Immer Ärger mit Harry“ (1955) auch eine klassische Komödie, doch in nahezu allen seiner amerikanischen Filme geht es psychologisch zu. Hitchcock hatte sogar den Ehrgeiz, mit „Ich kämpfe um dich“ den ersten Film über Psychoanalyse zu drehen: Es geht um das Kindheitstrauma eines Arztes, der ein Mörder zu sein glaubt. Viel später drehte Hitchock „Marnie“ (1964), einen Film über eine Kleptomanin und ihr Trauma: Sie hatte in ihrer Kindheit wirklich einen Menschen getötet. In die Reihe von Hitchcocks psychologischen Filmen passt sein wohl berühmtestes Werk „Psycho“ eigentlich nicht, obwohl es um einen Psychopathen mit gestörter Mutterbeziehung geht. Denn das ist nur ein Auslöser, Thema des Films hingegen ist die brutale Gewalt eines Mörders, eine heftige Mischung aus Horror und Thrill. Die in einer Woche Dreharbeit entstandene zweiminütige „Duschszene“, bei der Janet Leigh gedoubelt wurde, zählt heute mit ihren 78 Kameraeinstellungen und 52 Schnitten zu seinen meistanalysierten Filmszenen. Disney war durch diese Szene, in der übrigens Schokoladensoße statt Filmblut fließt, so vor den Kopf gestoßen, dass er Hitchcock untersagte, in seinen Disneyland-Studios zu drehen. Dieser und der nächste Film „Die Vögel“ (1962) haben getreu seiner Devise „Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat“ das Kino nachhaltig verändert. Hitchcock ließ dabei Vögel mit Nylonfäden an Tippi Hedren festbinden, sie hätte durch einen Schnabelhieb fast ein Auge verloren.

Szenenbild mit T. Hedren. Quelle: https://www.welt.de/vermischtes/article159190122/Es-war-sexuell-es-war-pervers-und-es-war-haesslich.html

Obwohl er anfangs meinte „Je erfolgreicher der Schurke, desto erfolgreicher der Film“, gewinnen über die Jahre ambivalente oder gar negativ gezeichnete Hauptfiguren immer stärker an Gewicht. Diese Antihelden weisen physische oder psychische Probleme auf, sind Verlierertypen oder unsympathisch. Da in den USA zwischen 1934 und 1967 der „Hays Code“ (auch Production Code) galt, eine Sammlung von Richtlinien über die Einhaltung der gängigen Moralvorstellungen im Film, musste Hitchcock einen Teil seiner Kreativität auch darauf verwenden, die Beschränkungen der Zensur kreativ zu umgehen. Da die Länge von Küssen im Film damals auf drei Sekunden begrenzt war, inszenierte Hitchcock den Kuss zwischen Ingrid Bergman und Cary Grant in „Berüchtigt“ als Folge einzelner, durch kurze Dialogsätze unterbrochener Küsse. Hitchcocks größter Sieg gegen die Zensur war die Schlussszene von „Der unsichtbare Dritte“: Cary Grant zieht Eva Marie Saint im Schlafwagen zu sich nach oben ins Bett, küsst sie – und im folgenden Umschnitt donnert ein Zug in einen Tunnel. Expliziter wurde der Sexualakt nie mehr angedeutet.

1965 erhielt Hitchcock für seinen „historischen Beitrag zum amerikanischen Kino“ den Milestone Award der Producers Guild Of America – die erste von vielen Ehrungen für sein Lebenswerk, darunter auch den Ehrendoktortitel für Literaturwissenschaft von der kalifornischen Universität Santa Clara. In dieser Zeit begann er körperlich abzubauen, litt unter schwerer Arthritis, hatte mit mehreren Schlaganfällen seiner Frau umzugehen und wurde alkoholabhängig – zwischen Bad und Schreibtisch habe er in seinem Büro listenreich Verstecke für Brandy- und Wodkaflaschen angelegt, berichtet Biograph Donald Spoto. Für seine letzten Filme „Frenzy“ (1972) und „Familiengrab“ (1976) kehrte er nach England zurück. In „Frenzy“ realisierte er eine der detailverliebtesten Vergewaltigungs- und Mordszenen der Filmgeschichte: ein impotenter Mörder kommt zum Orgasmus nur dadurch, dass er sein Opfer erwürgt. Hitchcock wollte die beim Strangulieren herausquellende Zunge des Opfers mit tropfendem Speichel in einem Zwischenschnitt zeigen, was ihm erst mühsam ausgeredet werden musste. Seine Tochter hat ihren Kindern nicht gestattet, sich diesen Film anzusehen. 1979 schloss er sein Büro auf dem Gelände der Universal-Studios und wurde kurz vor seinem Tod noch im Januar 1980 in den britischen Adelsstand erhoben.

Szene aus Frenzy. Quelle: https://www.imdb.com/title/tt0068611/mediaviewer/rm3655944448

Im Scherz soll er sich einmal als Grabinschrift gewünscht haben: „Da siehst du, was einem passieren kann, wenn man als Kind nicht artig war.“ Bis heute fasziniert, wie er seine Zuschauer in einen Strudel von Lust und schlechtem Gewissen, von Begierde und Schuld, Vertrauen und Misstrauen reißt: Die Welt als schön tapezierte Mördergrube, ja Alptraumfabrik – das bleibt haften. Hitchcock ist wohl heute noch der einzige Regisseur, dessen Name sich quer durch alle Bevölkerungsschichten mit dem Kino verbindet. Man geht nicht in diesen oder jenen Film, man geht in einen „Hitchcock“. „Der Regisseur als Superstar“, befindet Robert A. Harris im BR. „Die Amerikaner haben den Thriller, den Krimi, den Suspense-Film, die schwarze Komödie immer für ein bisschen vulgär gehalten. Hitchcock hat diesen Genres Würde und den Rang einer Kunstform verliehen“.

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