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Gäbe es den Stil „Expressiorealismus“, wäre sie seine bedeutendste Vertreterin: Käthe Kollwitz. Ihre teilweise erschreckend realistischen Lithografien, Radierungen, Kupferstiche, Holzschnitte und Plastiken beruhen häufig auf persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen. Allein das 1985 von der Kreissparkasse Köln als erstes Kollwitz-Museum überhaupt gegründete Haus vereint mit mehr als 300 Zeichnungen, über 550 Druckgraphiken, sämtlichen Plakaten und dem gesamten plastischen Werk die weltweit größte Sammlung. Aber auch das Kupferstichkabinett Dresden beherbergt über 200 Werke der Künstlerin, die am 22. April 1945 vor den Toren der Sachsen-Metropole starb.

„Noch heute dient die Figur der Käthe Kollwitz als Projektionsfläche für -ismen aller Art: Pazifismus, Kommunismus, Feminismus“, befindet Berit Hempel im DLF. „Ihre Kunst ist völlig eigenwüchsig und trägt alle Merkmale des Genialen“, pries sie Hans Pels-Leusden vom Berliner Kollwitz-Museum, das er auf Privatinitiative einrichtete. Bis auf wenige zeitgebundene Aufträge sei ihr Werk von zeitlosem Rang, eben „für die Zeiten“, wie Nolde sagen würde. Selbst das Werk der für den Frühexpressionismus so bedeutungsvollen Paula Modersohn-Becker reiche – auch in der internationalen Ausstrahlung – nicht an die Bedeutung der Kollwitz heran.

Käthe Kollwitz, um 1940. Quelle: https://www.kollwitz.de/biografie

Am 8. Juli 1867 wird Käthe in Königsberg als Tochter des Maurermeisters und Predigers Carl Schmidt und dessen Frau Katharina geboren. Sie galt als sensibles, leicht zu deprimierendes Mädchen, das ab 1881 Zeichenunterricht bei einem Kupferstecher in Königsberg erhielt. Früh lernt sie ihren künftigen Gatten Karl Kollwitz kennen, einen jungen Mann, der mit ihrem Bruder Konrad in eine Klasse ging und den seine verwitwete Mutter mit neun Jahren ins Waisenhaus gebracht hatte.

„sei das, was du gewählt hast, ganz“

1885 bis 1889 studierte sie Malerei bei Karl Stauffer-Bern in Berlin und bei Ludwig Herterich in München. Fernab des Elternhauses blüht das Mädchen aus Ostpreußen in Bayern auf, unternimmt mit ihren Kommilitoninnen Reisen nach Italien und geht gerne auf Maskenbälle: „Wie sie als bayrisches Mädel mit dem Bierseidel in der Hand ihre Rolle, die ganze Nacht hindurch spielte, ohne auch nur einen Moment aus ihrer Rolle zu fallen. Auf einem solchen Ball trat sie zum Erstaunen und zur Begeisterung aller Anwesenden als Bacchantin auf, wo sie mit einem Kranz im Haar mit unglaublicher Leidenschaft sang und tanzte“, erinnert sich ihre Freundin Helene Bloch.

Zurück in Königsberg liest Käthe Schmidt den Roman „Germinal“ von Emile Zola über die Bergarbeiter Frankreichs und ihre unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Die Künstlerin will die Motive von „Germinal“ auf die Leinwand bringen und besucht zu Studienzwecken Matrosenkneipen. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war die Uraufführung der Hauptmannschen „Weber“, der sie eine Folge von Radierungen beginnen ließ. Daneben bereitete sie ihre Hochzeit vor: „Die lange Verlobungszeit hat sie auch manchmal durchaus als Last empfunden, doch je älter sie wurde, wirklich auch als Rückenstärkung. Weil, Karl hat ihr eben nicht reingeredet, Karl hat sie nicht bedrängt, Karl hat die finanzielle Sicherheit erwirtschaftet und durch Karl hat sie Einblicke in soziale Verhältnisse gewonnen“, so Iris Berndt im DLF.

K. Kollwitz mit Mann zur Kur in Bad Reichenhall. Fotografie von Walter Plew, 1935 Privatbesitz. Quelle: http://postkarten.lukasverlag.com/produkt/kaethe-und-karl-kollwitz-in-karlstein-bei-bad-reichenhall/

1891 heiratet sie Kollwitz, der sich als Kassenarzt in Berlins Stadtteil Prenzlauer Berg (am heutigen Kollwitzplatz) niederlässt, und bekommt zwei Söhne. Ihr Vater, der viel rascher den Studienabschluss, Ausstellungen und Erfolge erwartet hatte, war „sehr skeptisch gegen die Tatsache eingestellt, dass ich zwei Berufe vereinigen wollte, den künstlerischen und das bürgerliche Leben in der Ehe. Mein Vater sagte mir kurz vor der Eheschließung: ‚Du hast nun gewählt. Beides wirst du schwerlich vereinigen können. So sei das, was du gewählt hast, ganz!‘“

Nachdem sie 1895 erstmals an der „Freien Kunstausstellung“ in Berlin mit drei Werken teilnahm, folgt 1898 dann der Zyklus „Ein Weberaufstand“, der zu ihrem künstlerischen Durchbruch führte. Max Liebermann war davon so beeindruckt, dass er die junge Künstlerin noch im selben Jahr zur kleinen goldenen Medaille vorschlug. Kaiser Wilhelm II., der die moderne Kunst als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete, lehnte ab; im Folgejahr dagegen bekam sie die Medaille. Von 1898 bis 1903 war Kollwitz Lehrerin an der Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen und wurde neben Liebermann, Slevogt, Corinth oder Zille Mitglied der „Berliner Secession“, die gegen das historisierende Kunstverständnis Wilhelms II. opponierte.

1902 begann Kollwitz ihre zweite Radierfolge „Bauernkrieg“, für die sie sechs Jahre brauchen sollte und die ihr den Villa-Romana-Preis einbrachte. Dazwischen liegen mit Paris (1904), wo sie August Rodin traf, und Florenz (1907) zwei Auslandsjahre: „Mutter zweier Kinder, lässt die Kinder zurück, bei Mann und Betreuung, ein Kindermädchen, um sich diesen Aufbruch zu gönnen. Da steckt viel Kraft, viel Lebensfreude, aber auch viel künstlerisches Wollen dahinter“, meint Berndt. Ihr Plakat für die Deutsche Heimarbeit-Ausstellung 1906 wird auf Wunsch der Kaiserin von allen Anschlagsäulen entfernt, da Auguste Viktoria die Darstellung einer abgearbeiteten Frau missfällt. 1908 bis 1910 gestaltete sie die satirische Zeitschrift „Simplicissimus“ mit. In diese Zeit fällt eine erotische Romanze mit Hugo Heller, einem verheirateten Autor, Buchhändler und Verleger mit engem Kontakt zu Sigmund Freund. Jahre später wird sich Karl in seine Sprechstundenhilfe Else verlieben. Die Ehe übersteht beide Affären.

indirektes Ausstellungsverbot

Ein Trauma dagegen wird der Weltkriegstod ihres jüngsten Sohns Peter hinterlassen. In ihrem Tagebuch notierte sie zunächst am Montag, dem 10. August 1914, dass Peter ihren Mann bittet, ihn vor Aufgebot des Landsturms mitgehen zu lassen: „Karl spricht mit allem dagegen was er kann. Ich habe das Gefühl des Dankes, dass er so um ihn kämpft, aber ich weiß es ändert nichts mehr. Karl: Das Vaterland braucht dich noch nicht, sonst hätte es dich schon gerufen. Peter leiser, aber fest: Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es.“ Peter Kollwitz stirbt am 22. Oktober 1914 bei Dixmuiden in Flandern.

Alt Sankt Alban mit der Kollwitz-Skulptur. Quelle: https://www.kuladig.de/Objektansicht/O-16622-20110924-3

Der Tod des Sohnes macht Käthe Kollwitz zur Pazifistin, ließ sie mit Sozialisten zusammentreffen und brachte ihre künstlerische Arbeit nahezu zum Erliegen. Ein Denkmal will sie schaffen zu Ehren der vielen toten Freiwilligen. Erst rund zwei Jahrzehnte später wird daraus das Denkmal „Trauernde Eltern“, das dem gefallenen Sohn gewidmet ist und heute auf der Kriegsgräberstätte Vladslo steht, wohin Peter 1956 umgebettet wurde. Eine um 10 Prozent vergrößerte Kopie steht seit 1959 in der Erinnerungsruine der St.-Alban-Kirche in Köln.

Nach Karl Liebknechts Tod widmete sie ihm 1919 einen Holzschnitt. Ihrer Meinung nach hat Kunst die Aufgabe, die sozialen Bedingungen darzustellen. Einer Partei gehörte sie nie an, empfand sich aber als Sozialistin und unterstützte einen Aufruf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) zu einer Zusammenarbeit von KPD und SPD. Im selben Jahr wurde sie, inzwischen auch Mitglied im Deutschen Künstlerbund, zur Professorin der Preußischen Akademie der Künste ernannt.

In den folgenden Jahren wird sie vierfache Großmutter und erfreut sich an der Entwicklung ihrer Enkel. Sie arbeitete für die Internationale Arbeiter-Hilfe (IAH), der viele linke Intellektuelle angehören, und gestaltet sozialpolitische Plakate wie „Nie wieder Krieg“ für den Mitteldeutschen Jugendtag in Leipzig , das sie 1922/1923 zur von Ernst Barlach inspirierten Holzschnittfolge „Krieg“ erweitert, und „Nieder mit den Abtreibungs-Paragraphen!“. 1927 reist sie mit Karl nach Moskau, sieht auch die Kehrseite der russischen Revolution und unterschreibt eine Petition für Inhaftierte und Proteste gegen die Verbannung russischer Wissenschaftler. Ab 1928 leitet sie das Meisteratelier für Grafik an der Akademie der Künste.

1927, bei der Auswahl der Werke für ihre Ausstellung in der Preußischen Akademie der Künste. Quelle: https://www.kollwitz.de/biografie

1933 wird Kollwitz zum Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste gezwungen und des Amtes als Leiterin der Meisterklasse für Grafik enthoben: sie hatte den Dringenden Appell zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront gegen den Nationalsozialismus mit 32 Persönlichkeiten unterzeichnet, darunter auch Albert Einstein, Heinrich Mann und Arnold Zweig. Ab 1934 bezog sie den Atelierraum Nr. 210 in der Klosterstraße 75, wo in den nächsten sechs Jahren ihr Alterswerk entstand, etwa die Lithografie-Folge „Tod“, die Zementplastik „Mutter mit Zwillingen“ oder die Bronze „Die Klage“. 1936 ließ der Preußische Kulturminister Bernhard Rust die Exponate der Künstlerin aus der Akademieausstellung und dem Kronprinzenpalais entfernen, was einem indirekten Ausstellungsverbot gleichkam.

„sie hat nie etwas kalt gemacht“

Im Sommer 1940 stirbt ihr Mann. Sie zieht sich aus dem Atelier zurück und wird nur noch für düstere Werke Kraft finden. Die Trauer um ihren Mann, ja den Tod allgemein verarbeitet sie in der Kleinplastik „Abschied“ sowie weiteren grafischen Werken, so ihrer letzten Lithographie „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden“, das Vermächtnis der Künstlerin gegen Soldatentod und Krieg. Denn im September 1942 fällt ihr ältester Enkel, der wie ihr gefallener Sohn auch Peter heißt, in Russland. 1943 verlässt sie Berlin wegen zunehmender Luftangriffe und kommt zunächst in Nordhausen bei der Bildhauerin Margret Böning unter. Am 25. November wird ihre Berliner Wohnung, in der sie 52 Jahre lang lebte, durch Bomben zerstört, viele Drucke und Platten werden vernichtet. „Da stehe ich und grabe mir mein eigenes Grab“ heißt eine ihrer letzten Zeichnungen.

Im Juli 1944 zog Käthe Kollwitz auf Einladung von Ernst Heinrich von Sachsen in den Moritzburger Rüdenhof wenige Kilometer vor Dresden um und bewohnte im ersten Stock zwei Zimmer mit Blick auf das Schloss. Von der Wohnungseinrichtung sind der Nachttisch, ihr Tagebuch und eine Büste von Johann Wolfgang von Goethe erhalten geblieben. Ihre Enkelin Jutta Bohnke-Kollwitz erinnert sich im DLF: „Am meisten genoss sie wohl die Abende, wenn wir in dem kleinen Kamin ein Feuer angezündet hatten und ich ihr aus ‚Dichtung und Wahrheit‘ vorlas. Denn Goethe war ihr unendlich lieb. Seine Maske hing über ihrem Bett; manchmal musste ich sie ihr herunterreichen, dann tastete sie mit geschlossenen Augen ab, ‚Zur Orientierung‘, wie sie sagte. Und sie erinnerte mich an die Aufforderung Goethes an Ottilie: ‚Komm, lass uns vom Sterben sprechen!‘“

Käthe Kollwitz Haus Moritzburg. Quelle: https://www.sachsens-museen-entdecken.de/museum/294-kaethe-kollwitz-haus-moritzburg/

Und in diesen Zimmern starb sie 77jährig wenige Tage vor Ende des Krieges; der Rüdenhof ist seit 1995 eine Gedenkstätte. Begraben ist sie, mit einigen Angehörigen, in der Künstlerabteilung auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde, heute als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Ihr „Denkmal der trauernden Eltern“ steht als Kopie inzwischen auch auf einer Kriegsgräberstätte für die deutschen Gefallenen des Zweiten Weltkrieges 200 Kilometer westlich von Moskau. Kollwitz lebt weiter nicht nur in der Pieta für die Neue Wache in Berlin als zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, sondern auch in Straßen, Plätzen und Schulen.

Ihre Person, die Ralf Kirsten 1987 für die DEFA mit Jutta Wachowiak verfilmte, vereint mehrere Superlative. Sie war die erste Frau, die je zur Mitgliedschaft der Preußischen Akademie der Künste aufgefordert wurde. Ebenfalls als erste Frau erhielt sie den preußischen Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. Sowohl die Bundes- als auch die DDR-Post ehrte sie mit gleich zwei Briefmarken. Anlässlich ihres 150. Geburtstags taufte die Bahn einen ICE 4 nach ihr, selbst ein Asteroid trägt ihren Namen. Und als 13. Frau sowie erste Künstlerin wurde ihre Büste vor einem Jahr feierlich in der Walhalla enthüllt. „Am Ende bleibt die Intensität ihrer Kunst“, meint Iris Berndt. „Und wenn sie sagt, sie hat nie etwas kalt gemacht in ihrer Kunst, dann kann man das, wenn man sich nur ein bisschen Ruhe nimmt, sie zu betrachten, wenn man sich anschaut, wie sie Striche führt, wie sie Kompositionen baut, doch ja, nachempfinden.“

Vor 60 Jahren, am 21. März 1960, kam es bei einem Protestzug von 20.000 Menschen im südafrikanischen Sharpeville in der damaligen Provinz Transvaal nahe Johannesburg zu einem Massaker: Die Polizei erschoss 69 schwarze Demonstranten, mindestens 180 wurden verletzt. Der Protestgrund reichte lange zurück: Bereits 1923, lange vor der Apartheidperiode, war in Südafrika der Native Urban Areas Act (deutsch etwa: „Eingeborenenwohngebietsgesetz“) in Kraft getreten, der das Aufenthaltsrecht der schwarzen Landbevölkerung in städtischen Gebieten regelte. Die Anzahl derer, die sich in der Stadt aufhalten durften, wurde festgelegt und die Rechte der schwarzen Südafrikaner in den Städten dadurch stark eingeschränkt.

Für einen legalen Aufenthalt in den Städten musste jeder männliche schwarze Südafrikaner bei Ankunft in der Gemeinde sich in deren Verwaltung melden, seinen Arbeitsvertrag (contract of service) vorlegen und eine Gebühr für seinen Aufenthalt zahlen. Damit und den sog. „Passgesetzen“ sollte die Urbanisierung der schwarzen Bevölkerung begrenzt und auf diese Weise verhindert werden, dass die schwarze Bevölkerung die durch den Burenkrieg verarmten Buren auf dem Arbeitsmarkt verdrängte. Seit 1958 hatten schwarze Männer die Pflicht, ein reference book (Referenzbuch) als allgemeines Personaldokument ständigen mit zu führen – hatten sie dieses Dokument nicht dabei, konnten sie mit 50 Rand Geldstrafe oder bis zu drei Monaten Haft zur Verantwortung gezogen werden. Das führte seither zu ständigen Protesten – mit dem Massaker von Sharpeville als Höhepunkt.

50 Jahre Sharpeville: Mitglieder des »Pan African National Congress« demonstrierten am 21. März 2010 in Johannesburg. Quelle: https://www.jungewelt.de/img/950/135534.jpg

Sechs Jahre später rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer Resolution den 21. März zum Internationalen Tag für die Beseitigung der Rassendiskriminierung aus. 1979 wurde dieser Gedenktag durch die Einladung der Vereinten Nationen an ihre Mitgliedsstaaten ergänzt, eine alljährliche Aktionswoche der Solidarität mit den Gegnern und Opfern von Rassismus zu organisieren: Die sog. Antirassismuswochen waren geboren, die hierzulande seit 1994 vom Interkulturellen Rat in Deutschland e.V. und seit 2016 von Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus geplant und koordiniert werden. Da die Jubiläumswochen in diesem Jahr aufgrund der Coronakrise real stark eingeschränkt waren, wichen die Organisatoren auf digitale Formate aus, mit medialer Begleitung, versteht sich.

„widerspricht dem Gleichheitsprinzip“

So boten die Badischen Neueste Nachrichten BNN dem politischen Soziologen Matthias Quent, der an den abgesagten Rassismuswochen in Karlsruhe teilnehmen sollte, ein Podium. Quent ist Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), einer in Trägerschaft der sattsam bekannten Amadeu Antonio Stiftung 2014 eingerichteten außeruniversitären Forschungseinrichtung, die nach einer Vereinbarung des Thüringer rot-rot-grünen Koalitionsvertrags 2016 ihre Arbeit aufnahm. Quents Berufung wurde damals von AfD und CDU kritisiert, weil er zuvor Mitarbeiter der LINKEN-Abgeordneten Katharina König-Preuss war und diese laut Medienberichten schon vor Gründung des Instituts verlautbaren ließ, dass Quent zum Direktor berufen werde.

Die Stelle wurde zudem nicht öffentlich ausgeschrieben. Der damalige CDU-Fraktionschef Mike Mohring kritisierte weiter, das IDZ sei darauf ausgelegt, Aufgaben des Verfassungsschutzes zu übernehmen; anders als dieser unterstehe es jedoch keiner parlamentarischen Kontrolle. Und genau dies bestätigte Quent, der in dem langen Interview wie schon oft zuvor seine Geldgeber nicht enttäuschte und nicht nur erschreckende Aussagen lieferte, wonach die AfD völlig selbstverständlich „rechtsextrem“ sei, sondern als ebenso selbstverständlich auch das linke Gleichheitsnarrativ normalisierte.

Matthias Quent. Quelle: CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83825740

So entstünde Rassismus, wenn „Gruppen ihre Privilegien und ihren Anspruch auf kulturelle oder wirtschaftliche Überlegenheit“ verteidigten, was dem „Gleichheitsprinzip“ widerspreche. Dass Quent hier das naturrechtliche Gleichheitsprinzip, den allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz neben diversen speziellen Gleichheitssätzen sowie „Gleichheit vor dem Gesetz“ mit der „Gleichheit vor dem Gesetzgeber“ in einen Topf wirft, war entweder abstrakt-naives Kalkül aus Nivellierungssehnsucht in der Tradition der französischen Revolution oder schlicht Unkenntnis. Unkenntnis des Redakteurs Alexei Makartsev, übrigens stellv. Ressortchef Politik des Blatts, war es in jedem Fall, denn sonst hätte der nachhaken müssen. Und dass die gesamte Menschheitsgeschichte auf der Verteidigung erlangter Errungenschaften beruht, wissen offenbar beide nicht oder wollen es nicht wissen.

„Unterscheidung zwischen wir und die Fremden aufgelöst“

Prompt fordert Quent nicht nur „Anti-Rassismus-Klauseln in den Landesverfassungen“, sondern „ein Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft, in der die Unterscheidung zwischen ‚wir‘ und ‚die Fremden‘ aufgelöst wird“. Das ist kein Witz. Dass damit jede Differenzierung der Einwanderungsgründe unterbleibt und zugleich einer weiteren Begriffsmelange das Wort geredet wird, nämlich einer aus „Gewaltunterworfenen“, „Staatsbürgervolk“ (Demos), „Bevölkerung“ und „Volkszugehörigen“, bekommen beide wiederum nicht mit oder wollen es nicht. In dem Satz „Die Zivilgesellschaft kann zeigen, wie ein friedliches und solidarisches Zusammenleben durch die alltägliche Praxis von Gleichwertigkeit gelingen kann“, findet dieser Themenbereich einen vorläufigen Höhepunkt – ohne dass auch nur ansatzweise thematisiert wird, wie der gesellschaftliche Friede und erst recht der Sozialstaat mit solch einer aufgelösten Unterscheidung überhaupt noch haltbar ist.

Der zweite Themenbereich rankt sich um die Gleichsetzung „rechter“ und „rechtsextremer“ Anhänger und der Unterstellung, beide seien per se „rassistisch“. Das befördert diesmal aktiv der fragende Journalist: „Stehen wir der wachsenden rechten Gewalt ohnmächtig gegenüber?“ Darauf antwortet Quent prompt „Nein. Wir können ein soziales Klima schaffen, in dem die rassistische Gewalt unwahrscheinlicher wird.“ Damit hat Quent auf eine Frage geantwortet, die Makartsev gar nicht gestellt hatte – ohne dass der darauf einging. Auch hier wird weder auf saubere Begrifflichkeiten geachtet noch die Unterstellung, was denn rechte Gewalt sei, erklärt geschweige faktisch untersetzt – und von linker Gewalt natürlich geschwiegen.

Bernd Gögel. Quelle: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/media.media.bf2b599b-c66c-48ed-88da-02dad6c49bc9.original1024.jpg

Aber es kommt noch besser: Die Beobachtung der AfD sei „überfällig“, befindet Quent. Und er begründet das so: „Solange der Verfassungsschutz eine Deutungsinstanz ist, die sagt, was demokratisch ist und was nicht, muss man zur Kenntnis nehmen, dass die AfD programmatisch und ideologisch nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht. In der Gesamtheit ist es eine rechtsextreme Partei…“. Wer jetzt meint, dass dieser Unsinn nicht mehr steigerbar ist, wird beim Weiterlesen eines Besseren belehrt, denn Quent bemüht nun auch die Kemmerich-Wahl von Erfurt, die die Demokratie destabilisiere: „Wir sehen die Erosion und Verletzlichkeit der parlamentarischen Demokratie durch rechte Aggressoren [sic!], die sich nicht an demokratische Gepflogenheiten halten und die Parlamente als Bühne nutzen, um die Demokratie vorzuführen.“

„Holzhammer-Propaganda“

„Mit solcher Holzhammer-Propaganda, dargeboten im Stil und mit dem Vokabular des Kalten Krieges, wird die faktenbefreite Spaltung der Bürger in Gut- und Schlechtmenschen weiter befördert“, erregt sich Baden-Württembergs AfD-Fraktionschef Bernd Gögel MdL. Er kritisiert neben dem moralisch verzerrten Demokratiebegriff des Interviews vor allem die Rassismus-Vorwürfe gegen seine Partei in einem Begriffsverständnis, das jüngst auch das ZDF etablierte: „Rassismus = Konstruktion von Gruppen + Zuschreibung von Attributen. Bei dieser Kindergarten-Definition aus der ‚poststrukturalistischen Quatsch-Soziologie‘, wie der Publizist Dimitrios Kisoudis erkennt, ist ein Konsens unmöglich. Denn erstens ist es demnach schon rassistisch, Aussagen über Gruppen zu treffen, weil Gruppen natürlich durch Attribute voneinander abgegrenzt werden. Zweitens darf man Unterschiede im Verhalten nicht benennen, die Gruppen regelmäßig kennzeichnen. Nach dieser irrsinnigen, linksradikalen Definition sind mehr Leute Rassisten, als es etwa potentielle AfD-Wähler gibt. Sich von Leuten zu distanzieren, die viel zahlreicher sind als man selbst, ist gleich doppelt sinnlos.“

Daneben ärgert Gögel, dass mit den BNN ausgerechnet ein Medium aus dem eigenen Bundesland diese Propaganda liefert. „Die Zeitung, die seit 1998 ein Auflagenminus von 32,5 Prozent zu verzeichnen hatte, gehört einer Stiftung, was eigentlich ihre Unabhängigkeit garantieren soll. Das Interview zeugt aber nicht von Unabhängigkeit, sondern von linker Einseitigkeit im Vorwahljahr. Wenn das ein Vorgeschmack auf die Publizistik des Wahlkampfs sein soll, dann wissen wir und die Bürger, welch bittere, ja ungenießbare Berichterstattung uns erwartet. Ich fordere die BNN auf, sowohl lexikalisch und stilistisch abzurüsten als auch sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein, die sie in Bezug auf argumentative und faktenbasierte Berichterstattung haben. Journalisten sollen Texte produzieren, keine Ideologie.“

Georg Restle. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/morddrohung-gegen-georg-restle-ich-bin-einer-von-vielen.2907.de.html?dram:article_id=455019

Allerdings stehen die BNN damit längst nicht mehr allein, häufen sich in den letzten Wochen und Monaten doch vereinseitigende, tendenziöse Berichte. „Im wichtigsten deutschen Nachrichtenformat verhält sich die mediale Präsenz der beiden linken Oppositionsparteien DIE LINKE und Bündnis90/Die Grünen umgekehrt proportional zur Fraktionsstärke im Bundestag“, erkannte allein der Publizist Jerzy Röder nach einer gerade 4-Wochen-Inhaltsanalyse der Tagesschau auf achgut: „DIE LINKE 18 Statements, Bündnis90/Die Grünen 9 Statements, FDP 7 Statement, AfD 5 Statements“.

„Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus“

Die Tendenzberichterstattung begann nicht erst bei den Hetzjagd-Fakenews von Chemnitz und endete noch nicht bei den WDR-Sendungen Monitor und Westpol, die im Januar nach Focus-Recherchen migrationsfreundliche und zugleich polizeikritische Berichterstattung gekauft hätten. Wir erinnern uns: Monitor-Chef Georg Restle hatte in einem „Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus“ eine offengelegte Parteinahme nicht nur wahrhaftiger, sondern auch ehrlicher befunden – im Gegensatz zu einem von ihm konstatierten journalistischen „Neutralitätswahn“ (!). Allerdings ist auch der umgekehrte Fall beobachtbar: Als die MDR-Journalistin Wiebke Binder am Abend der sächsischen Landtagswahl von der AfD als „bürgerliche Partei“ sprach, erntete sie einen Shitstorm.

Und seit Februar diesen Jahres hat sich gar ein dritter, mittelbarer Kampfplatz eröffnet. Die Zeit und das NDR-Magazin Panorama hatten zehn Tage vor der Bürgerschaftswahl berichtet, dass Hamburgs Finanzbehörde 2016 eine Steuerschuld in Höhe von 47 Millionen Euro aus dem Jahr 2009 verjähren ließ. Außerdem wurde bekannt, dass es – entgegen Senatsangaben – ein Treffen zwischen Ex-Bürgermeister Olaf Scholz und Warburg-Chef Christian Olearius gegeben hatte. Dabei entstand der Eindruck, dass es eine verdächtige Nähe zwischen der Bank und der SPD geben würde – die prompt Stimmenverluste einfuhr. Fast ebenso prompt deuteten Abendblatt-Vize Matthias Iken sowie der langjährige Hamburg-1-Politikchef Herbert Schalthoff eine Art Wahlmanipulation an – die am Ende der AfD geholfen habe könnte.

Spiegel-Berichterstattung. Screenshot: https://sven-giegold.de/wp-content/uploads/2020/02/warburg-zeit.png

Den Vogel jedoch schossen nach der bayrischen Kommunalwahl jüngst die Erlanger Nachrichten ab. Der Leiter ihrer Lokalredaktion, Markus Hörath, bewertete in einem Kommentar den Einzug der AfD in den Stadtrat – und damit das demokratisch erzielte Wahlergebnis! – als „nicht nur abstoßend, sondern auch ekelhaft“. Es verböte sich die Zusammenarbeit mit einer politischen Kraft, „die ihre ganze Energie aus der Hetze gegen Ausländer schöpft und völkisches, nationales Gedankengut wieder salonfähig machen will“. Gefragt sei „jetzt von den demokratischen Kräften im Stadtrat Souveränität und die Fähigkeit, die Saat der spalterischen AfD nicht noch weiter aufgehen zu lassen.“ Dass er damit selbst spaltet, weil er Menschen von vornherein von der Demokratie ausschließt, bekommt offenbar auch er nicht mehr mit.

Seine Wirkungsgeschichte war wie die kaum eines anderen Amerikaners himmlischen Höhen und höllischen Tiefen unterworfen. In einer Begräbnisrede hob William Smith, erster Kanzler der Universität von Pennsylvania, die philanthropischen und wissenschaftlichen Leistungen Benjamin Franklins hervor. Der Literaturkritiker Lord Jeffrey lobte Franklin für seinen „einfachen Witz“ und pries ihn als einen der großen Vertreter des Rationalismus. Der Romantiker John Keats schrieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dagegen, Franklin sei „voller erbärmlicher und auf Sparsamkeit ausgerichteter Lebensregeln“ und „kein großartiger Mann“ gewesen.

Mit dem Anbruch des Gilded Age Ende des 19. Jahrhunderts, einer Blütezeit der Wirtschaft in den Vereinigten Staaten, wurde Franklin als Musterbeispiel eines sozialen Aufsteigers wieder in weitaus positiverem Licht gesehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlug die Stimmung erneut um: so zog der Soziologe Max Weber Franklin in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ ein ums andere Mal als Negativbeispiel für eine Gesinnung heran, die allein auf die Steigerung des eigenen finanziellen Wohlstandes gerichtet ist. In der Wirtschaftskrise nach 1929 stieg Franklins Ansehen erneut stark an – Werte wie Sparsamkeit und Gemeinsinn standen hoch im Kurs.

Franklin-Porträt von Joseph-Siffred Duplessis (Ölgemälde, um 1785). Das Bild diente 1995 als Vorlage zur Darstellung Franklins auf der neugestalteten 100-US-Dollar-Banknote. Quelle: http://www.npg.si.edu/exh/brush/ben.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52076

Heute füllt eine lange Reihe von Werken mit Benjamin Franklins Namen im Titel die amerikanischen Buchregale. Zu schreiben über ihn und sein langes Leben gab es genug: Er war Drucker, Verleger, Publizist, Naturwissenschaftler, Politiker, Diplomat – und Erfinder. Am Ende hat er neben dem Blitzableiter auch die Glasharmonika, den flexiblen Harnkatheter, eine frühe Form der Schwimmflossen, einen Holzofen mit verbesserter Brennleistung und die Bifokalbrille erfunden: es war ihm lästig, ständig seine Fernbrille gegen die Lesebrille auszutauschen. Sie blieb bis zur Erfindung der Gleitsichtbrille internationaler Standard. Seine große Liebe in der Freizeit galt dem Schach: „Die Sittlichkeit des Schachspiels“ („The morals of chess“) gilt als erster amerikanischer Beitrag zur Schachliteratur; seit 20 Jahren ist Franklin in der US Chess Hall of Fame aufgenommen. Der Selfmademan starb am 17. April 1790 in Philadelphia.

Ich, Drucker

Geboren am 17. Januar 1706 als 15. von 17 Kindern eines ausgewanderten englischen Seifen- und Kerzenmachers in Boston, lernte er ab dem achten Lebensjahr auf der Lateinschule, um sich für ein Studium in Harvard und eine spätere Laufbahn als Pastor vorzubereiten. Er war hochbegabt, übersprang eine Klasse und musste dennoch die Schule wechseln, um Schreiben und Arithmetik zu lernen. Während Franklin in seiner Autobiographie behauptete, dies sei allein dem geringen Einkommen seines Vaters geschuldet gewesen, gehen Biographen davon aus, dass dieser schon früh die rebellische Natur seines Sohnes erkannte und ihn deshalb als ungeeignet für eine geistliche Laufbahn hielt.

Nachdem er als 10-jähriger für zwei Jahre bei seinem Vater arbeitete, ging er anschließend zu seinem Halbbruder James und arbeitete in dessen Druckerei. In der Zeit bildete er sich autodidaktisch durch Lesen weiter. Franklin war ab 1721 bei der von seinem Bruder gegründeten Zeitung „New England Courant“ tätig und verfasste anonym als „Mrs. Silence Dogood“ liberale Beiträge, in denen er die Nähe zwischen Kirche und Staat attackierte. Schon in jungen Jahren wandte er sich vom Christentum ab und wurde Deist. Die Gedanken der Aufklärung und christliche Orthodoxie ließen sich für ihn nicht vereinbaren. Als er sich 1723 dem Bruder als Autor offenbarte, kam es zum Bruch. Nach einem Intermezzo in der Druckerei von Samuel Keimer in Philadelphia zog er nach London, um sich dort als Drucker ausbilden zu lassen. Noch sein Testament beginnt mit den Worten „Ich, Benjamin Franklin aus Philadelphia, Drucker“.

1726 kehrte Franklin als Geschäftsführer zu Keimer zurück und entwickelte einen Schriftschnitt, der als der erste auf dem nordamerikanischen Kontinent gilt. Zur Erinnerung daran erarbeitete der Typograph Morris Fuller Benton die Schriftfamilie „Franklin Gothic“. Zusammen mit einem von Keimers Angestellten machte er sich selbstständig und gründete 1728 eine eigene Druckerei. Ein Jahr später übernahm er von Keimer die bis 1777 erscheinende erfolgreiche Pennsylvania Gazette und wurde damit zum ebenso stolzen wie selbst schreibenden, finanziell unabhängigen Zeitungsverleger.

Schriftbeispiel für Franklin Gothic. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/3/35/FranklinGothicSP.svg/800px-FranklinGothicSP.svg.png

Mit der freimaurerischen Idee in London bekannt geworden, vertrat er schon in dem 1727 von ihm gegründeten Selbsterziehungsklub „Junto“, der aber allgemein der „Lederschurzklub“ hieß, maurerische Grundsätze. 1734 brachte er als erstes freimaurerisches Buch jenseits des Ozeans eine Ausgabe der „Alten Pflichten“ heraus. Von den ersten Junto-Zusammenkünften an diskutierte Franklin praktische Vorschläge zur Verbesserung des alltäglichen Lebens. Als der Club eigene Räume bezog, wurden diese mit Büchern aus dem Besitz der Mitglieder eingerichtet und so die erste Leihbibliothek in Amerika etabliert. Sie gehört heute zu den ältesten kulturellen Institutionen in den USA und verfügt über einen Bestand von mehr als 500.000 Büchern und über 160.000 Handschriften.

Zugleich wird Franklin unter ungewöhnlichen Umständen sesshaft: in einer „Common-Law“-Ehe mit seiner ersten Liebe Deborah, die inzwischen geheiratet hatte, aber von ihrem Gatten mit Schulden zurückgelassen wurde. Franklin wiederum hatte einen Sohn aus einer seiner vielen „Liebschaften mit sozial niederen Frauen, die mir über den Weg liefen“. Das Paar bekam gemeinsam noch einen Sohn, der als Kind an den Pocken starb – seitdem gilt er als Vertreter einer Impfpflicht –, und eine Tochter. 1733 startete er sein erfolgreichstes literarisches Unternehmen: das Jahrbuch „Poor Richard´s Almanach“, das bis 1758 erschien. Es war in seiner Mischung aus häuslicher Philosophie und Ratschlägen für den Alltag nach der Bibel das bekannteste Werk in den Kolonien, eine daraus entstandene Spruchsammlung wurde in 145 Editionen nachgedruckt und ist bis heute in mehr als dreizehnhundert Auflagen verkauft worden. Darin finden sich Weisheiten wie „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“.

„Funken aus dem Schlüssel ziehen“

1736 gründete er sowohl die erste Feuerversicherungsgesellschaft als auch mit der Union Fire Company die erste Freiwillige Feuerwehr. 1737 wird er Oberpostmeister, später als stellvertretender Postminister auch Angehöriger der Kolonialverwaltung und zieht sich aus dem Geschäftsleben weitgehend zurück. Den Betrieb seiner Druckerei überließ der Privatier und „gentleman philosopher“ seinem Vorarbeiter, der ihm die Hälfte der Einnahmen überlassen musste. Anfang der 1740er Jahre gehörte er zu den Mitgründern der sich an der britischen „Royal Society“ orientierenden Gelehrtengesellschaft „American Philosophical Society“ und begann sich mit Leidenschaft mit Fragen der Naturwissenschaft, vor allem der Elektrizität, zu beschäftigen. Die von den Gelehrten zu diskutierenden Themen waren – wie vieles, was Franklin vorschlug – mehr an der Nützlichkeit als an der Theorie ausgerichtet. So sollten etwa Entdeckungen auf dem Gebiet der Nutzpflanzen, des Handels, der Geländevermessung, der Herstellung von Gütern, der Tierzucht und anderer praktischen Themen untereinander bekannt gemacht werden. Die Gesellschaft existiert bis heute.

zeitgenössische Darstellung vom Franklin-Experiment am 15. Juni 1752 mit seinem Sohn. Quelle: http://www.brieselang.net/benjamin-franklin.php

Besonders auf dem Gebiet der Luft- und Reibeelektrizität machte sich Franklin einen Namen, der ihn über die USA auch in Europa und in Deutschland bekannt machte. Er erkannte das Gewitter als Elektrizität und wies diese Annahme mit seinem berühmten „Drachenversuch“ nach: Er baute einen Drachen aus Zedernholzleisten, klemmte einen Eisendraht an die Spitze und an den Schweif seinen Hausschlüssel, in dem sich die Elektrizität sammeln sollte. Am 15. Juni 1752 zog das erhoffte Gewitter auf, und Franklin ließ seine fliegende Versuchsanordnung in den Himmel von Neuengland aufsteigen. Die Rechnung ging auf für den Tüftler: Er habe mit den Fingern Funken aus dem Schlüssel ziehen können, schwärmte er in der „Pennsylvania Gazette“.

Daraus entstand der Blitzableiter, der zuerst von Pfarrern genutzt wurde, die sich beim Schutz ihrer Kirchtürme nicht mehr allein auf ihr Gottvertrauen verlassen wollten. Der erste deutsche Blitzableiter wurde 1769 auf dem Hamburger Jacobikirchturm errichtet. Georg Christoph Lichtenberg war nicht nur ein Bewunderer Franklins, sondern machte seine wissenschaftlichen Errungenschaften über die Elektrizität in Deutschland populär und weitete sie aus. Zusammen mit Lichtenberg führte Franklin die nach der unitarischen Lehre gültige Bezeichnung von positiv und negativ zur Erklärung der Elektrizität ein. Für den deutschen Professor Lichtenberg war Franklin das Paradebeispiel des genialen Kopfes und Wissenschaftlers auch ohne akademische Laufbahn. Zweifacher Ehrendoktor in England, erhielt er von der Royal Society 1753 die Copley-Medaille, den „Nobelpreis des 19. Jahrhunderts“.

Seit dieser Zeit engagierte er sich auch explizit politisch. Bereits 1747 rief er zur Bildung einer Bürgermiliz auf: Allein ein Bund der Mittelschicht, der Händler, Ladenbesitzer und Farmer, könne die Kolonie retten. Bald schrieben sich einige zehntausend Freiwillige in die Register der von Franklin sorgsam geplanten Freiwilligenkompanien ein. Thomas, Sohn des Pennsylvania-Gründers William Penn, bezeichnete Franklin in einem Brief als „Volkstribun“ und klagte: „Er ist ein gefährlicher Mann und ich wäre froh, wenn er in einem anderen Land lebte, denn ich glaube, dass er von überaus ruhelosem Geiste ist.“

Sprecher für die Rechte der Amerikaner

1754 repräsentierte er Pennsylvania im Albany Congress, lebte zwischen 1757-62 und 1764-75 wieder in England: Erst als Repräsentant für Pennsylvania, später für Georgia, New Jersey und Massachusetts. Während seiner letzten Repräsentanten-Periode, die zeitgleich mit den Unruhen in den Kolonien war, durchlief er eine politische Metamorphose und wurde zum Zeitpunkt der Stamp Act Krise vom Anführer einer zerbrochenen ländlichen Partei zum gefeierten Sprecher für die Rechte der Amerikaner in London. Dieses sog. Stempelgesetz bestimmte, dass alle offiziellen Schriftstücke und Dokumente, aber auch Zeitungen, Karten- und Würfelspiele in den nordamerikanischen Kolonien mit Stempelmarken versehen werden oder auf eigens in London hergestelltem Papier mit einer Stempelprägung ausgefertigt sein mussten. So sollten die Kolonien finanziell an der Stationierung britischer Truppen in Nordamerika beteiligt werden, da die Kolonisten als Nutznießer dieses militärischen Schutzes für einen Teil der entstehenden Kosten aufkommen sollten. 1766 wird das Gesetz zurückgezogen.

Seite aus seiner Autobiographie. Quelle:  http://www.librarycompany.org/BFWriter/images/large/8.1.jpg

Franklin wechselte endgültig aus dem Lager der Loyalisten in das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter. Dieser Schritt brachte ihn in heftigen Gegensatz zu seinem im New Jersey als britischer Gouverneur residierenden Sohn William. In den Jahren des Unabhängigkeitskampfes gehörte Benjamin Franklin fortan zu den führenden Persönlichkeiten: Auslöser war die Affäre um die Hutchinson-Briefe, die Franklins Biograph Gordon S. Wood als das „außergewöhnlichste und aufschlussreichste Ereignis in Franklins politischem Leben“ bezeichnet. Thomas Hutchinson, Vizegouverneur von Massachusetts, hatte eine Reihe von Briefen an den britischen Außenminister geschrieben, sich darin für eine harte Haltung gegenüber den Kolonien ausgesprochen und insbesondere empfohlen, deren Freiheiten zu beschneiden, und sei es durch spezielle Steuern. Franklin sandte sie nach Massachusetts, um auf diese Weise zu belegen, dass das Verschulden für die Krise zwischen den Kolonien und dem Mutterland nicht etwa bei der britischen Regierung, sondern vielmehr bei Kolonialbeamten wie Hutchinson liege. Die Boston Tea Party 1773 ging unter anderem auf diese Indiskretion zurück.

1776 wurde er vom Kontinental-Kongress in den Ausschuss gewählt, der die Unabhängigkeitserklärung konzipierte. Außerdem wurde er zum Vorsitzenden des die entsprechende Pennsylvania-Verfassung ausarbeitenden Gremiums eingesetzt. Gesundheitlich angegriffen, beschränkte sich seine Rolle anfangs darauf, die Entwürfe Thomas Jeffersons durchzugehen und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Seine Änderungen sind in dem Dokument überliefert, das Jefferson als „Rohentwurf“ bezeichnete. Nach der Loslösung von Großbritannien machten sich die einzelnen Staaten an die Ausarbeitung von Verfassungen. In einer Zeit, als die englische Mischverfassung mit ihrer Balance zwischen Krone, Oberhaus und Unterhaus als das Ideal galt, sah die Pennsylvania Constitution lediglich ein Einkammersystem vor. Damit gilt sie heute als der demokratischste aller Verfassungsentwürfe jener Zeit. Insbesondere in Frankreich wurde die Idee mit großem Beifall aufgenommen und Jahre später in der Französischen Revolution umgesetzt.

einziges amerikanisches Universalgenie

Als Gesandter in Paris schmiedete er ab 1777 das Bündnis der USA mit Frankreich, erreichte die Gewährung eines Kredits von König Ludwig XVI und schloss mit Frankreich einen Handels- und Bündniskontrakt. Vor allem wünschten sich die bedrängten Amerikaner militärische Hilfe von Frankreich. Franklins Mission in Paris und Versailles zog sich bis 1785 hin. In Frankreich wurde er überaus wohlwollend aufgenommen und verband persönliches Wohlleben in der dekadenten Atmosphäre des Bourbonen-Hofes mit erfolgreicher diplomatischer Kleinarbeit für die Sache der Unabhängigkeit. Die Verpflichtung Steubens als amerikanischer Generalinspekteur ist ihm zu verdanken.

Nach der für die Amerikaner siegreichen Schlacht von Saratoga im Oktober 1777 gingen die Franzosen auf Franklins Vorschläge ein und schlossen im Februar 1778 einen Freundschaftsvertrag mit den Nordamerikanern. Das Eingreifen der Franzosen in den Unabhängigkeitskrieg trug wesentlich zum Zusammenbruch der britischen Position bei. Am 30. November 1782 unterschrieben britische Delegierte und die von Franklin angeführte amerikanische Delegation in Paris den Friedensvertrag, in dem Großbritannien die Unabhängigkeit seiner nordamerikanischen Kolonien anerkannte.

Unabhängigkeitserklärung mit Franklins Änderungen. Quelle: Von US_Declaration_of_Independence_draft_1.jpg: Thomas Jeffersonderivative work: Frank Schulenburg (talk) – US_Declaration_of_Independence_draft_1.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12862942

In den nächsten drei Jahren wirkte Franklin weiter als Gesandter in Frankreich, wo er sehr gefragt war, notierte ein Tagebuchschreiber, „und dies nicht nur bei seinen gelehrten Kollegen, sondern bei jedermann, der Zugang zu ihm erlangen kann“. Wohin auch immer er in seiner Kutsche reiste, bildeten sich Menschengruppen, die ihn hochleben ließen und einen Blick auf ihn werfen wollten. 1785 kehrte er, mittlerweile 79-jährig, nach Philadelphia zurück und wurde mit großem Pomp gefeiert. Er bekleidete bis 1787 das Amt eines Präsidenten von Pennsylvania und beteiligte sich, schon schwerkrank durch Blasensteine und Gicht, an der „Philadelphia Convention“, die endlich den lediglich losen verbundenen 13 ehemaligen Kolonien eine gemeinsame Verfassung geben sollte. Am 17. September 1787 unterzeichneten 39 von 42 anwesenden Delegierten, darunter auch Franklin, die neue Bundes-Verfassung der USA. Auf seinen Vorschlag geht die Unterteilung der Legislative in Senat und Repräsentantenhaus zurück. Im selben Jahr wurde er, inzwischen Witwer, 1787 Präsident der Gesellschaft gegen Sklaverei.

Bis zuletzt veröffentlichte Franklin Schriften zu diversen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Themen, korrespondierte mit vielen bekannten Zeitgenossen und schrieb seit 1771 an seiner letztlich unvollendeten Autobiographie. Er stirbt 84jährig in Philadelphia – als einziger Gründervater der USA, der neben der Verfassung auch die Unabhängigkeitserklärung und den Friedensvertrag mit dem Königreich Großbritannien unterzeichnete. Schon von der jungen Madame Tussaud wurde er als Wachsfigur portraitiert. Bis heute würdigen Ärzte seine Verbundenheit zur Medizin: Franklin gründete unter anderem das Pennsylvania Hospital und konstituierte aus Sorge um die Ausbildung nachfolgender Generationen ein College, aus dem die University of Pennsylvania hervorging. Er gilt vor Thomas Alva Edison als erstes amerikanisches Universalgenie.

Seine beiden Amtszeiten vereinten mehrere Premieren. Als ehemaliger Regierender Bürgermeister Berlins war er der erste Bundespräsident, der zuvor an der Spitze eines Landes stand. Seine Wiederwahl am 23. Mai 1989 war die erste – und einzige –, bei der es nur einen Bewerber gab. Er war der erste Bundespräsident des vereinten Deutschlands und 1993 das erste Verfassungsorgan, das von Bonn nach Berlin zog: ins Schloss Bellevue; die Villa Hammerschmidt ist seitdem „nur“ noch zweiter Amtssitz. Zugleich war er der erste Bundespräsident mit mehr als einem Dutzend Ehrendoktortiteln und auch der erste, der zuvor mehrfach Präsident des Evangelischen Kirchentags war.

Aber Richard von Weizsäcker blieb weniger durch diese Premieren als vielmehr durch seine Rede zur Bundestags-Gedenkstunde vom 8. Mai 1985 in Erinnerung, in der er das Datum als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnete. Das war ein Paradigmenwechsel in Richtung der seit Jahrzehnten gängigen Deutung im Ostblock, die ihm viele Konservative nie verziehen. Die Rede fand allerdings überwältigende Zustimmung zumal im Ausland: Israel würdigte sie als „Sternstunde der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Sie ebnete den Weg für den Staatsbesuch Weizsäckers in Israel im Oktober 1985, dem ersten eines deutschen Bundespräsidenten – eine weitere Premiere.

RvW kurz vor seinem Tod. Quelle: https://www.welt.de/img/politik/deutschland/mobile136987577/2222506367-ci102l-w1024/Richard-von-Weizsaecker-gestorben-19.jpg

Und Weizsäcker blieb als sechster deutscher Bundespräsident auch in Erinnerung durch seine praktizierte bürgerliche Unabhängigkeit, die ihn nicht nur mit seiner Partei, sondern vor allem mit Kanzler Helmut Kohl fremdeln ließ – der Macht- und der Geistmensch waren sich zuletzt in „herzlicher Feindschaft verbunden“, meint Thorsten Denkler in der Süddeutschen Zeitung. So ließ Weizsäcker mit der Annahme seiner Wahl zum Bundespräsidenten traditionsgemäß seine Mitgliedschaft in der CDU ruhen, nahm sie aber nach dem Ende seiner Amtszeit auch nicht wieder auf. Er definierte den Wirkungskreis des Bundespräsidenten neu, indem er etwa 1983 eigensinnig und eigenmächtig Kontakte zur DDR-Führung am Kanzleramt vorbei pflegte und von Honecker empfangen wurde. 1989 gibt er gar einen großen Empfang aus Anlass des 75. Geburtstags des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD).

1997, ein Jahr vor Kohls historischer Wahlniederlage, setzte er im Spiegel zum Frontalangriff auf den Kanzler an und kritisierte ein System, das den Machterhalt auf „eine bisher nie gekannte Höhe der Perfektion getrieben“ habe. Er könne „in den täglichen Leitartikeln der Herald Tribune mehr an konzeptionellen Gedanken finden als in den Äußerungen unserer parteipolitischen Machtzentren“ und machte in der politischen Führung eine „weitverbreitete intellektuelle Schläfrigkeit“ aus. Kohl dürfte getobt haben.

Bruder begraben und Vater verteidigt

Richard wird am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Sein Großvater war der geadelte und 1916 in den erblichen Freiherrnstand versetzte württembergische Ministerpräsident Karl Hugo von Weizsäcker, sein Vater Ernst Diplomat und später Staatssekretär unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Seine Mutter Marianne war die Tochter des königlichen Generaladjutanten Friedrich von Graevenitz. Von seinen drei Geschwistern wird sich Carl Friedrich als Philosoph und Physiker ebenfalls einen Namen machen. Kindheit und Jugend verbringt er in Kopenhagen, Bern und Berlin, wo er 1937 sein Abitur ablegt. Anschließend reist er nach Oxford und Grenoble, um dort Vorlesungen über Philosophie und Geschichte zu besuchen.

RvW mit seinem Vater in Nürnberg. Quelle: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14939

1938 tritt er nach kurzzeitigem Einsatz im Reichsarbeitsdienst in den Militärdienst ein und erhält seine Ausbildung im traditionsreichen Potsdamer Infanterieregiment 9, wo sein Bruder Heinrich als Leutnant dient. Am 1. September 1939 überschritt die Einheit der Weizsäcker-Brüder im Rahmen des Überfalls auf Polen die polnische Grenze bei Bromberg. Einen Tag später fiel Heinrich während der Schlacht in der Tucheler Heide unweit von Richard, der ihn dann beerdigte. Diese Erfahrung wird ihn ebenso prägen wie seine Assistenz bei der Verteidigung seines Vaters zu den Nürnberger Prozessen: als SS-Brigadeführer war der Staatssekretär aufgrund seiner aktiven Mitwirkung bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer sieben-, später fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Richard bezeichnete das Urteil später immer als „historisch und moralisch ungerecht“.

Den Krieg übersteht er, zuletzt Hauptmann der Reserve, mit einer Verletzung im April 1945 in Ostpreußen. Über das, was er an der Ostfront erlebt hat, wollte er en Detail nicht reden und nicht schreiben. Wortreich entzieht er sich der Wiedergabe in seiner Biographie „Vier Zeiten“, um dann ein paar Seiten später von einem „Quasi-Mordbefehl“ an sein Regiment an der Ostfront zu berichten. Der Staatsmann Weizsäcker schrieb in seinen Erinnerungen, er sehe im Krieg „nichts als den grausamen Zerstörer des Lebens“.

Die nächsten fünf Jahre studiert er Jura und Geschichte in Göttingen. Nach dem Referendarexamen arbeitet Weizsäcker bis 1958 bei der Mannesmann AG in Gelsenkirchen, zuletzt als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung. In diese Zeit fallen sein Assessorexamen, seine Promotion, sein CDU-Eintritt und die Heirat mit Marianne von Kretschmann, mit der er vier Kinder hat, darunter den Münchner Kunstprofessor Andreas von Weizsäcker, den er 2008 begraben musste – er starb an Krebs. Anschließend arbeitet er vier Jahre als Geschäftsleiter eines Bankhauses im Ruhrgebiet und weitere vier als Geschäftsführender Gesellschafter bei Böhringer in Ingelheim. Später zeigt er sich geschockt, dass das Unternehmen Substanzen an Dow Chemical lieferte, aus denen der im Vietnamkrieg eingesetzte Giftstoff Agent Orange hergestellt wurde. Als im November 2019 sein Sohn Fritz, ein Berliner Chefarzt, von einem 57jährigen Pfälzer ermordet wurde, gab der als Grund seine Verbundenheit mit dem vietnamesischen Volk an und die Tätigkeit von Weizsäckers in der Geschäftsführung von Boehringer Ingelheim – offenbar ein linker Apo-Veteran aus der Vietnambewegung.

Richard mit Fritz ca. 1987. Quelle: https://ais.rtl.de/masters/1291222/1024×0/ALK77SSN7E6SXUCAOQHAZXATJA.jpg

1962 wird Weizsäcker nicht nur Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages, sondern nahm in einem Beitrag für die Zeit auch die Ostpolitik Willy Brandts vorweg. Seit 1964 Kirchentagspräsident, lehnt er ein Jahr später eine Bundestagskandidatur ab, für die ihn der rheinland-pfälzische CDU-Fraktionschef Helmut Kohl vorgeschlagen hatte: ein politisches Mandat lasse sich nicht mit seiner Funktion als Kirchentagspräsident vereinbaren. 1966 wird er, wiederum auf Kohls Vorschlag, Mitglied des CDU-Bundesvorstands, dem er bis 1984 angehört. Zwei Jahre später wurde Weizsäcker, erneut von Helmut Kohl, zum ersten Mal als CDU-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen, unterlag aber in der Kampfabstimmung im CDU-Auswahlausschuss deutlich mit 20 zu 65 Stimmen gegen den damaligen Verteidigungsminister Gerhard Schröder.

1969 zog er in den Bundestag ein, dem er bis 1981 angehörte. 1971 wurde Weizsäcker, nun von Rainer Barzel, zum Vorsitzenden der CDU-Grundsatzkommission berufen, doch erst sieben Jahre später konnte das neue Parteiprogramm nach vielen Diskussionen beschlossen werden. Während der Debatten über die Ostverträge hält Weizsäcker zwei viel beachtete Reden im Bundestag, die dazu beitragen, dass die CDU/CSU-Opposition durch Stimmenthaltung die Ratifizierung ermöglicht – Weizsäcker sprach später von einem „furchtbaren Kampf“. Und als seine Parteifreunde etwas später die KSZE-Schlussakte von Helsinki kippen wollten, sei ihm seine eigene Fraktion „wie von Sinnen“ vorgekommen. 1973 unterlag er Karl Carstens in einer Kampfabstimmung um den Vorsitz der Unionsfraktion und wurde Fraktionsvize. Im selben Jahr nimmt er für die CDU an der ersten Reise einer Parlamentarierdelegation in die Sowjetunion teil.

„Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte“

Bei der Wahl des deutschen Bundespräsidenten 1974 war Weizsäcker Unionskandidat – im Bewusstsein, aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung nur „Zählkandidat“ zu sein; gewählt wurde Walter Scheel (FDP). 1976 gehörte er Kohls für die Bundestagswahl aufgestelltem Schattenkabinett an. 1979 war Weizsäcker CDU-Spitzenkandidat in Berlin und holte mit 44,4 % der Stimmen zwar den Wahlsieg, doch die Koalition aus SPD und FDP wurde fortgesetzt. Als es 1981 zu vorgezogenen Neuwahlen in Berlin kam, war Weizsäcker Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Bei diesen Neuwahlen wurde er nach 48,0 % der Stimmen zum Regierenden Bürgermeister gewählt und stand bis 1984 einem Senat vor, der zunächst als Minderheitsregierung und erst ab März 1983 als Koalition mit der FDP fungierte. Zu seinen innenpolitischen Herausforderungen gehörten Hausbesetzungen wie in Kreuzberg – bei der praktischen Umsetzung von Räumungen profilierte sich Innensenator Heinrich Lummer.

Als Regierender Bürgermeister traf Weizsäcker US-Präsident Ronald Reagan (M.) bei dessen Berlin-Besuch im Juni 1982. Mit dabei war auch der damalige Kanzler Helmut Schmidt.
Quelle: https://www.welt.de/img/politik/deutschland/mobile136980091/8311624667-ci23x11-w780/Richard-von-Weizsaecker-wird-90-3.jpg

Zum zweiten Mal als Unionskandidat für das Bundespräsidentenamt benannt, gewann Weizsäcker am 23. Mai 1984 gegen die von den Grünen vorgeschlagene Schriftstellerin Luise Rinser. Weizsäcker sah nach eigenen Angaben seine Hauptaufgabe nicht in bloßen Repräsentationspflichten, sondern in der Begegnung mit Menschen; dazu gehören auch Jugendliche, Randgruppen oder Staatskritiker. Auf seinen vielen Reisen kümmert er sich besonders um die Probleme der Entwicklungsländer; so als Schirmherr der Welthungerhilfe. Zudem setzt er sich für eine Aussöhnung mit dem Ostblock ein, regt Gespräche mit der DDR an und plädiert dafür, die Reformprozesse in Gorbatschows Sowjetunion ernst zu nehmen.

Die Schonungslosigkeit und Offenheit, mit der von Weizsäcker dann zum 40. Jahrestag der Kapitulation die Ursachen analysierte, die zum Krieg, zum Holocaust, zur Vertreibung und zum geteilten Europa führten, und daraus Konsequenzen für die Gegenwart zog, war bis dahin für eine öffentliche Rede eines bundesdeutschen Staatsoberhauptes ohne Beispiel. Mit den Worten „Es gab keine ‚Stunde Null‘, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn“ zog Weizsäcker die Summe aus vierzig Jahren westdeutscher Nachkriegsgeschichte. Der 8. Mai sei nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen. „Wir alle, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, sagte Weizsäcker damals. Zu seinen auffälligen Auslassungen zählt die Verantwortung der alten Oberschichten, zu denen seine Vorfahren gehörten: Kein Wort verlor er über deren Anteil am Untergang der Weimarer Republik.

Die Rede erschien auch als LP. Quelle: https://www.discogs.com/de/Richard-Von-Weizs%C3%A4cker-Bundespr%C3%A4sident-Richard-Von-Weizs%C3%A4cker-Am-8-Mai-1985-Vor-Dem-Deutschen-Bun/release/9705802

Stattdessen sagte er: „Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen.“ Der Text wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, in einer Auflage von über zwei Millionen Exemplaren an interessierte Bürger verteilt und erschien auf Tonträgern, traf aber auch auf erheblichen Widerstand. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Lorenz Niegel und 30 weitere Abgeordnete blieben der Rede fern. 1995 wurde der Appell „8. Mai 1945 – gegen das Vergessen“ in der FAZ veröffentlicht, dem sich mehr als 200 Unterzeichner anschlossen, darunter Alfred Dregger, Heinrich Lummer und Alexander von Stahl. Die Unterzeichner sprechen sich gegen ein Geschichtsbild aus, das nur auf „Befreiung“ fixiert sei, denn dies könne nicht „Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein“.

„teilen lernen“

Der Höhepunkt seiner zweiten Amtsperiode war die Wiedervereinigung. Im Gegensatz zu Kohl gehörte Weizsäcker zu den Warnern vor einem überstürzten Prozess: Deutschland müsse zusammenwachsen, nicht zusammenwuchern, sagte er. Seine mahnenden Worte sind in einer Phase der Macher jedoch missverstanden worden. Zwar sprach er sich, naheliegend, vehement für Berlin als Bundeshauptstadt aus, prägte am 3. Oktober auf dem Festakt zur Wiedervereinigung in Berlin aber auch die Worte „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen“. Er mahnte zur Behutsamkeit im Umgang mit den Bürgern der ehemaligen DDR und einem wirklichen Lastenausgleich. In einer Rede vor dem Bundesverband der deutschen Industrie räumt Weizsäcker 1992 Fehler der Politik bei der Finanzierung der deutschen Einheit ein.

 Weizsäcker am 3. Oktober 1990 mit Kanzler Kohl (2. v. r.), dessen Frau Hannelore und Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Quelle: https://www.welt.de/img/politik/deutschland/mobile136980096/5901628847-ci23x11-w780/30-Jahre-Wahl-Helmut-Kohls-zum-Kanzler.jpg

Im selben Jahr sorgt er bei Politikern aller Parteien für das, was man heute „Shitstorm“ nennen würde. Er kritisiert in einem Zeit-Interview den Zustand der Parteien und warf der „Politikerschicht“ vor, sie erliege einer „Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge“. Zugleich attackierte er seine Politikerkollegen als „Generalisten mit dem Spezialwissen, den politischen Gegner fertig zu machen.“ Prompt wurde ihm vorgeworfen, zur Politikverdrossenheit beizutragen. Doch er beharrte darauf, dass sich bestimmte Themen, darunter etwa Arbeitslosigkeit, nicht dazu eigneten, „parteipolitisch instrumentalisiert“ zu werden.

Noch lange beharrt er darauf, Kohls Koalition habe „auf Anhieb keine glückliche Hand mit der von ihr angekündigten geistig-moralischen Wende“ gehabt, weshalb er dieses Manko offenbar selbst zu kompensieren trachtete. Er begnadigte ehemalige RAF-Terroristen, warb in der Debatte über die Änderung des Grundrechts auf Asyl dafür, Quoten und Kontingente für Einwanderung zu schaffen, und rief zu mehr Sachlichkeit im Wahlkampf bei der Auseinandersetzung mit der PDS auf. Auch drang er darauf, dass Europa mit einer Stimme spricht. Dabei klang mitunter Kapitalismuskritik durch, wenn er mit Blick auf die EU forderte: „Es gilt, die Wall-Street-Abhängigkeit zu mildern.“

2011 bei der Verleihung des Internationalen Willy-Brandt-Preises mit Gerhard Schröder und dessen Ehefrau Doris Schröder-Köpf. Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/gallery136980110/Das-Leben-Richard-von-Weizsaeckers-in-Bildern.html

Nicht zufällig ist er nach dem Ausscheiden aus dem Amt 1994 ein weltweit gesuchter Ansprech- und Interviewpartner geblieben. Der Uno-Generalsekretär berief ihn in die Kommission zur Reform der Weltorganisation, zwischen Tokio und Aspen bemühen sich Stiftungen und Kuratorien um seine Mitgliedschaft. Der geschliffen formulierende Staatsmann zählt mit seinem vornehmen Auftreten zu den herausragenden Repräsentanten der Zivilmacht Bundesrepublik. Von der französischen Deutschland-Kennerin Brigitte Sauzay stammt das Urteil, Weizsäcker sei unter den Politikern der Bundesrepublik „derjenige, der die Aura und das Charisma des Deutschland von ehedem am meisten bewahrt hat“.

Weizsäcker starb am 31. Januar 2015 im hohen Alter von 94 Jahren und wurde nach einem Staatsakt in Berlin-Dahlem begraben. Gewürdigt wurden seine Intelligenz, Lauterkeit und Souveränität, aber auch seine Besonnenheit, wenn es darum geht, Urteile zu fällen oder Entscheidungen zu treffen. „Aber was ihn wirklich zur Integrationsfigur macht, ist seine Glaubwürdigkeit“, weiß Dönhoff. Er war kein Volkstribun, wollte Menschenmassen nicht entflammen, sondern zum Nachdenken zu bringen. Dazu besaß er die seltene Gabe, ohne Leerformeln und Phrasen zu formulieren.

Grabstätte. Quelle: https://www.n-tv.de/panorama/Fritz-von-Weizsaecker-findet-seine-letzte-Ruhe-article21432580.html

Keiner der bisherigen Bundespräsidenten entsprach so genau dem Idealbild, das die Bürger von einem Staatsoberhaupt haben, wie Richard von Weizsäcker: Wenn man einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen könnte, würde dabei kein anderer als er herauskommen, schrieb Gräfin Dönhoff. „In den zehn Jahren seiner Amtszeit wusste er in diesem Amt ohne Macht wie kaum ein anderer die Macht der Rede zu nutzen und wurde allein dadurch zum wohl politischsten Präsidenten der Bundesrepublik“, meinte Margarethe Limberg im DLF und nannte ihn einen „Glücksfall für die Bundesrepublik“. Gar „Bundeskönig“ nannte ihn Oliver Das Gupta in der Süddeutschen Zeitung: „Er hat Deutschland gut getan“. Das kann man getrost unterschreiben.

Der schwarze Stuttgarter Innenminister ruft angesichts der Corona-Pandemie zur Denunziation auf. Sein grüner Ministerpräsident applaudiert. Die AfD warnt dagegen vor Blockwarten.
Meine neue Tumult-Kolumne zum Verbreiten.

Nicht nur die Geschichte des Films, sondern vor allem die seiner damals unerwähnten realen Protagonistin beleuchtet schlaglichtartig die Verhältnisse des zweiten deutschen Staates. Sanije Torka wurde 1944 in Brandenburg als Tochter ukrainischer Ostarbeiter geboren, die sie jedoch kurz nach der Geburt vor einem Jugendamt ablegten. Von diesem Zeitpunkt an spielte sich Sanijes Kindheit zwischen Pflegeeltern und Heimen ab: Ihre Eltern hat sie nicht kennen gelernt, ihren richtigen Namen erst spät erfahren. Sie begann eine Lehre als Schlosserin im Lokomotivbau Babelsberg, machte später eine Schauspielausbildung.

Sie trifft Hartmut, heiratet ihn, bekommt 1964 Sohn Maik. Ein Jahr später flieht Hartmut in den Westen. Sanije will hinterher: „Ich habe mein Kind zur Adoption freigegeben. Maik störte“, sagte sie Bild. Sie wird ihren Sohn nie wiedersehen – ihre „größte Schuld“, meinte sie 2007 rückblickend. Auf der Flucht in den Westen wird sie geschnappt, kommt in den Knast – und nach nur sechs Monaten wieder frei, weil sie sich für die Stasi als Inoffizielle Mitarbeiterin verpflichtete. Sie tingelt als Sängerin mit verschieden Show-Bands durch die Interhotels und Nachtbars der DDR, tritt im Fernsehen auf, bekommt sogar Filmrollen – und bespitzelte Kollegen.

Die Journalistin Jutta Voigt führt mit ihr 1976 ein Interview, das nie veröffentlicht wird: „Sanije war all das, „was man in der DDR nicht sein sollte: hemmungslos, wild, ungebärdig“, sagte sie dem Kinokalender. 1978 wird der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zufällig Kenntnis von dem Text erhalten und ihn drehbuchreif schreiben. Altmeister Konrad Wolf, der Bruder des DDR-Geheimdienstchefs Markus Wolf, fragte Kohlhaase, der ihm schon 1968 „Ich war neunzehn“ geschrieben hatte, nach einer Geschichte, die zum politischen Frühling passte, in der sich die Kulturszene nach Walter Ulbrichts Ablösung an der SED-Parteispitze durch Erich Honecker wähnte. Kohlhaase erinnert sich an die Außenseiterin aus dem Künstlermilieu, am Rand der Gesellschaft, und verfilmt den Stoff als Co-Regisseur unter dem Titel „Solo Sunny“ gemeinsam mit Wolf; Jutta Voigt ist im Vorspann als „Beraterin“ genannt.

Sanije Torka und Sunny. Quelle: eigene Collage

Möglich wurde der Film durch eine Weisung des neuen stellvertretenden Kulturminister Klaus Höpcke an die Filmbranche Mitte der siebziger Jahre, in ihren Werken mehr den Alltag der Bürger zu berücksichtigen – auch in seinen schwierigen Aspekten. Als der Streifen im Februar 1980 kurz nach dem ostdeutschen Kinostart an der Berlinale teilnahm, bekam er den Kritikerpreis und die unbekannte Renate Krößner in der Titelrolle vom Fleck weg den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Sie habe sich ganz nach vorn gespielt, befand Renate Holland-Moritz damals im Eulenspiegel: „Wache Intelligenz, Aufrichtigkeit, Naivität, Verletzbarkeit und ein Hauch vom Kellerkind der Berliner Hinterhöfe machen ihre Sunny zu jener Persönlichkeit, von der die Filmheldin träumt“. Der Streifen wurde zu einem Kultfilm, wie es seit Heiner Carows „Legende von Paul und Paula“ (1973) keinen mehr gegeben hatte – und bis zum Ende der DDR auch keinen mehr geben sollte. Am 10. April vor 40 Jahren kam er in die bundesdeutschen Kinos.

„Ich schlafe mit jedem“

Erzählt wird die Geschichte von Schlosserin Ingrid „Sunny“ Sommer, die sich einen Traum erfüllt, indem sie von einer Kapelle als Sängerin engagiert wird und den ungeliebten Job kündigt. Der Name „Sunny“ kann als versteckte Hommage an den Vornamen des realen Vorbilds gelesen werden. Doch sie fühlt sich nicht wohl in dem Programm namens „Kunterbunt und immer rund“, das von einem schmierigen Conférencier in den Kulturhäusern der DDR-Provinz präsentiert wird. In der Truppe gibt es Reibereien und Frustration, die Avancen des Saxophonisten weist sie zurück, gegen die herablassenden Ansagen des Conférenciers protestiert sie. Sie ist nicht als Frau aus der Produktion ausgestiegen, um nun als Sängerin genau dieselbe Gängelung zu erleben. Aber mit einer solchen Einstellung macht sie sich keine Freunde – einen „schillernden, ambitionierten und verzweifelten Charakter“ erkennt Thorsten Funke auf critic.

Als eines Tages der Saxophonist kurzfristig ersetzt werden muss, springt ein Diplom-Philosoph für ihn ein, der seine Dissertation über den Tod mit Nebenjobs als Musiker finanziert. Er ist, mit seinem wenig lebensbejahenden Thema, genauso Außenseiter im zukunftsorientierten DDR-System wie die auf den Augenblick fixierte Sunny. Prompt kommen beide zusammen: Es werden die Lebensrollen von Krößner und Alexander Lang, denn beide Schauspieler verließen wenige Jahre später die DDR. Sunny wird aus der Gruppe geschmissen und geht wieder zurück in ihren alten Beruf, in dem sie, natürlich, nicht glücklich ist. Einen Mann wirft sie schon mal hochkant aus Bett und Wohnung hinaus, und zwar – die Pointe wurde zu einem geflügelten Wort – „ohne Frühstück und auch ohne Diskussion“: Kohlhaase hat neben Witz auch viel Trotz und Lakonie in die Dialoge gemixt.

Szenenbild. Quelle: https://bilder.fernsehserien.de/epg/5de/5de1f16fdc3d1a3dd12ae502db194c1ca28c9c3d_b-w-784.jpg.webp

Als ihr schließlich auch ein Soloauftritt in einer Bar nicht weiterhilft, ist Sunny am Ende und unternimmt mit Medikamenten einen Selbstmordversuch. Eine Krise, die ihr nochmal Kraft für einen neuen Anlauf gibt: Nach langem Suchen findet sie junge Gleichgesinnte, mit denen sie eine neue Band aufbauen will. Die letzten Worte des Films, mit denen sie sich bei den Musikern vorstellt, wurden legendär: „Ich komme auf die Annonce wegen der Sängerin. Ich würde es gern machen. Ich schlafe mit jedem, wenn es mir Spaß macht. Ich nenne einen Eckenpinkler einen Eckenpinkler. Ich bin die, die bei den ‚Tornados‘ rausgeflogen ist. Ich heiße Sunny.“ Matthias Dell erkennt im Freitag „ein Sittenbild der in die Jahre gekommenen DDR, in der das Warten kein Ende nimmt“.

Nicht nur Krößner und Lang glänzten, auch die Nebenrollen des Films waren zum Teil prominent besetzt. So spielten neben Krößner ihr Lebensgefährte Bernd Stegemann, der später auch in die BRD ging, der erste Solotänzer des Friedrichstadtpalastes Rolf Pfannenstein und sogar der Regisseur Lothar Warneke mit. Den bösen der beiden Saxophonisten gibt Klaus Brasch, der Bruder des Schriftstellers Thomas Brasch und Sohn des ehemaligen stellvertretenden DDR-Kulturministers Horst Brasch. Als Mitglied einer Nomenklatura-Familie hatte er sich wie sein Bruder zum Rebellen entwickelt, „und etwas von seinem Zorn spürt man der Vehemenz an, mit der er seine Figur zu einem Ekelpaket macht“, befand Andreas Platthaus in der FAZ. Brasch beging, kurz nach der Premiere und noch vor der Berlinale, am 3. Februar 1980 durch Medikamentenmissbrauch Selbstmord – was für eine Duplizität. „So ist ‚Solo Sunny‘ auch zu einem Requiem auf eine Schauspielergeneration in der DDR geworden, die an der sozialistischen Wirklichkeit verzweifelte“, meint Platthaus – obwohl am Schluss des Films das Individuum triumphierte. Gar von einem „Schicksalsfilm“ schreibt Tanja Stern auf ihrem Blog.

Bindung nur zum Anderssein

Wirklichkeitsnähe strahlten neben der Geschichte mit ihren Konflikten auch die Drehorte aus: „In der Malmöer Straße in Prenzlauer Berg fand das Drehteam Raum und Atmosphäre der Sängerin Sunny, die Gegend steht auf Abriß. Lange wird es diese Sorte Berlin nicht mehr geben“, schrieb Regine Sylvester im Magazin. Und natürlich trug die Musik zur starken Wirkung des Streifens bei: Komponiert von Günther Fischer, wurden alle Titel von Regine Dobberschütz („Modern Soul Band“) eingesungen. Das Titelthema, das laut Stern die „lakonische Poesie des Filmes aufzunehmen scheint und so zu einem Stück Zeitgeist wird“, können die meisten Ü 50er aus der DDR wenn nicht mitsingen, dann mindestens noch mitsummen oder -pfeifen. Der Film war Dobberschütz‘ größter Erfolg; auch sie verließ später die DDR und leitete bis 2013 gemeinsam mit Eugen Hahn den Jazzkeller Frankfurt.

Dobberschütz-Platte. Quelle: https://www.discogs.com/de/Regine-Dobbersch%C3%BCtz-Solo-Sunny-/release/6167388

Wahrscheinlich ist es Wolfs „Renommee als antifaschistisch-linientreuer Künstler zu verdanken, dass ‚Solo Sunny‘ überhaupt das Licht des DDR-Kinos erblickte“, vermutet Tanja Stern – es sollte Wolfs letzter Film werden, 1982 starb er. Nach der Wende wird Krößner für ihre Darstellung der Kneipenwirtin Uschi Klamm in Adolf Winkelmanns Fußballdrama „Nordkurve“ noch den Bundesfilmpreis und für ihre Theres Spitzer in der Fernsehserie „Bruder Esel“ auch den Adolf-Grimme-Preis erhalten. Einen direkten Nachfolger hatte der Film nicht – wohl aber einen indirekten. 2009 dokumentierte die Leipziger Regisseurin Alexandra Czok das Leben der inzwischen 62-jährigen, aber immer noch charismatischen Sängerin Sanije Torka in einer Justizvollzugsanstalt in Berlin.

Dort saß die laut Voigt „Film-Sunny hoch drei“ eine zweijährige Haftstrafe wegen Ladendiebstahls ab. Nach dem Mauerfall geriet sie in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das plötzlich ungewohnte Leben ohne jegliche Herausforderungen ließ sie vereinsamen, doch durch die Leidenschaft zu klauen gewann sie ihre Lebensfreude wieder: Torka wurde zur passionierten, ja studierten Ladendiebin, wie sie selbst behauptet. „Sie ging jeden Tag in die Staatsbibliothek und las: Ladendiebstahl als Kind, Ladendiebstahl in der Schwangerschaft, Ladendiebstahl im Alter … Später überprüfte sie wie jeder gewissenhafte Meisterschüler die Theorie an der Praxis“, meint Kerstin Decker im Tagesspiegel.

Szenenbild. Quelle: https://www.theater-heilbronn.de/programm/extras/stueck-detail.php?SID=309

Eine echte Bindung hat sie nur zum Anderssein. Da Wein ihr Sodbrennen bereitete, stieg sie – wenn man so will aus gesundheitlichen Gründen – auf Wodka und Korn um; diese jedoch ergaben eine törichte Mischung in Kombination mit den Schlaftabletten, die sie nahm, und so ließen sich Depressionen und die dazugehörige Medikation nicht lange bitten. Bis 2012 schickt ihr Wolfgang Kohlhaase etwas Geld. „Heute habe ich kaum Geld, nur eine Freundin und keine Verwandten“, so Torka zu Bild. Sie lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg, die Miete muss das Amt zahlen. Und sie ist krank, ein Nachbar begleitet sie manchmal zum Arzt. „Zusammengefasst war mein Leben eine Tragödie“, bilanziert die wahre Solo Sunny: Eine Unvollendete, die nie ins normale Leben fand. Individualismus macht eben einsam. Die große Sehnsucht einer kleinen Frau hat sich nur im Film erfüllt.

Er war sogar Bundespräsident Theodor Heuss eigens eine Antwort an Zeit-Chef Richard Tüngel wert. Darin heißt es, die „geistreiche Intelligenz dieses wendigen Mannes“ wolle niemand bestreiten. Er selbst aber sei „spießig oder altmodisch genug, ihn für eine von der moralischen Seite her … verhängnisvolle Erscheinung zu halten“. Hintergrund: als am 29. Juli 1954 der Text „Im Vorraum der Macht“ des „wendigen Mannes“ erschien, räumte die Zeit-Politikchefin, Marion Gräfin Dönhoff, erst ihren Schreibtisch und versuchte dann von außen alles, um Tüngel vom Sessel zu beißen, was diesen zu einem Beschwerdebrief an Heuss animierte. Antwort hin oder her: 1955 war Dönhoff am Ziel und Tüngel weg – und das wegen eines beschäftigungslosen Juristen.

Sein Name: Carl Schmitt. Er sei „der Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen Karriere nutzt. Wann immer die Nationalsozialisten Menschen beiseite räumen wollten, der eitle Professor aus dem Sauerland lieferte ihnen die passende rechtliche Begründung“, gab Thomas Darnstädt im Spiegel eine der wohl vernichtendsten Beurteilungen ab. „Ein rechter Denker, gewiss“, befindet Alexander Cammann in der Zeit und ergänzt allerdings: „den man sinnvoll liberal rezipieren konnte, wenn man intellektuell eigenständig genug blieb.“ Herfried Münkler bringt in der Welt das verbreitete Angst-Lust-Faszinosum um den Mann auf den Punkt: „Man muss mit Schmitt nicht inhaltlich einverstanden sein, um von seiner Art des Denkens fasziniert zu werden. Nicht selten haben sich in der alten Bundesrepublik darum Linke wie Rechte gleichzeitig auf ihn berufen.“

Carl Schmitt am Kamin in seinem Haus am Brockhauser Weg 10 in Plettenberg. Quelle: http://www.plettenberg-lexikon.de/personen/schmittplett.htm

Als Jurist prägte Schmitt eine Reihe von Begriffen und Konzepten, die in den wissenschaftlichen, politischen und allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind, neben der bis heute vielfach rezipierten „Freund-Feind-Unterscheidung“ etwa die „Verfassungswirklichkeit“. Als politischer Philosoph polarisiert die „verhängnisvolle Erscheinung“ heute mehr denn je, ja wird gar als Vordenker von Antiliberalismus, Präsidialismus und Autoritarismus gegeißelt: „Die Interpretationen von Schmitts Politischer Theologie nehmen in dem Maße zu, wie die von Adornos Negativer Dialektik abnehmen“, resümierte Thomas Assheuer in der Zeit. Der wohl bekannteste und zugleich umstrittenste deutsche Staats- und Völkerrechtler mindestens der ersten Hälfte, ja vielleicht des gesamten 20. Jahrhunderts starb geistig umnachtet am 7. April vor 35 Jahren.

Als Zensor in München

96 Jahre zuvor, am 11. Juli 1888, war er in Plettenberg als zweites von fünf Kindern eines Krankenkassenverwalters zur Welt gekommen. Der Junge wohnte im katholischen Konvikt in Attendorn und besuchte dort das staatliche Gymnasium. Nach dem Abitur studierte Schmitt auf dringendes Anraten eines Onkels Jura, obwohl er sich zunächst für Philologie entschieden hatte, und traf zum Sommersemester 1907 in Berlin ein. Es sei eine faszinierende Frage, „wie anders die Fachgeschichte der Germanistik, wie anders aber auch die deutsche Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn es diesen Onkel nicht gegeben hätte“, mutmaßt Ernst Osterkamp in der FAZ. Kolportiert wird bis heute, dass Schmitt das Milieu der Hauptstadt körperliche Übelkeit bereitet habe. Schon ein Jahr später wechselte er an die Universität München und setzte dann sein Studium in Straßburg fort. 1910 promovierte er mit einer Arbeit über Schuld und Schuldarten, vier Jahre später habilitierte er sich.

1915 absolvierte Schmitt das Assessor-Examen und trat als Kriegsfreiwilliger in das Bayerische Infanterie-Leibregiment in München ein. Er sah aber nur durch ein Fenster in der Münchner Maxburg statt auf die Front: als Unteroffizier im stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armeekorps leitete er bis 1919 ein Subreferat, das sich mit Genehmigung oder Verbot der Ein- und Ausfuhr politisch brisanter Schriften, der Beobachtung der Friedensbewegung und der Verbreitung feindlicher Propagandatexte befasste. Kurz gesagt: er war Zensor. Einen Antrag von Thomas Mann, Einsicht in ein verbotenes Buch nehmen zu dürfen, lehnt er ab, aus Sicherheitsgründen. Dann besorgt er sich das Buch selbst und liest es heimlich. Er galt als Vielleser.

Carl Schmitt (rechts) und Ernst Jünger auf dem Lac de Rambouillet (1941). Quelle: https://www.stopptdierechten.at/2018/07/20/demokratie-durch-ausscheidung-des-heterogenen-zur-freiheitlichen-rezeption-von-carl-schmitt-teil-1/

Im selben Jahr heiratete Schmitt die vermeintliche kroatische Adelstochter Pawla Dorotić, die er zunächst für eine spanische Tänzerin hielt. Parallel dazu unternimmt er lyrische und belletristische Versuche und gehört der sog. „Schwabinger Bohème“ an, war mit Hugo Ball, später Ernst Jünger befreundet. Es sei eine Tendenz seiner Zeit, „das Kleine hinauf, das Große hinab auf ein zulässiges Erreichbares zu ziehen“, schreibt er schon 1913 in den „Schattenrissen“. Schmitts Tagebuch kündet von Armut und Schulden auf der einen und von Ruhmesfantasien eines grenzenlos Ehrgeizigen auf der anderen Seite. Für Jens Hacke hat er „einen für seine Zeit nicht untypischen bürgerlichen Selbsthass verinnerlicht“.

Schon kurz nach der Habilitation veröffentlicht Schmitt in rascher Folge weitere Texte, etwa die „Politische Romantik“ (1919) oder „Die Diktatur“ (1921). Durch seine sprachmächtigen und schillernden Formulierungen – ein Resultat seiner Lese- und Schreibleidenschaft – wurde er auch unter Nichtjuristen schnell bekannt. Schmitt inszenierte seine Texte poetisch-dramatisch, versah sie häufig mit mythischen Bildern und Anspielungen und war überzeugt, dass „oft schon der erste Satz über das Schicksal einer Veröffentlichung entscheidet“ – das könnte so auch in einem Journalismus-Lehrbuch stehen. Viele dieser Eröffnungssätze, allen voran „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, werden noch heute gerühmt. „Die Kühnheit der Formulierung lässt die Mühseligkeit kleinteiliger Problembearbeitung hinter sich, aber gerade darin haftet ihr etwas zutiefst Unpolitisches an“, weiß Münkler. Dabei sind seine Veröffentlichungen bis auf wenige Ausnahmen eher längere Essays denn theoretische Schriften.

Nach einer Lehrtätigkeit an der Handelshochschule München 1920 nahm Schmitt 1921 einen Ruf an die Universität Bonn an. Als sich Dorota, unter für ihn durchaus peinlichen Umständen, als Hochstaplerin entpuppt, wird die Ehe vom Landgericht Bonn 1924 zivilrechtlich annulliert, nicht aber kirchlich aufgehoben. Seit er, als Katholik, im Jahr darauf seine frühere Studentin Duška Todorović, eine Serbin, geheiratet hatte, blieb er bis zu deren Tode 1950 daher exkommuniziert. Aus dieser zweiten Ehe ging die Tochter Anima hervor, sein einziges Kind, das er noch um zwei Jahre überleben sollte.

„Vernichtung des Heterogenen“

In seine Bonner Zeit fällt zum ersten eine verstärkte Zuwendung zum Jungkatholizismus und zum Kirchenrecht („Politische Theologie“, 1922). Als Katholik war er von einem tiefen Pessimismus gegenüber Fortschrittsvorstellungen oder der Technisierung geprägt: „Schmitt beflügelt das tragische Lebensgefühl, wonach es ganz natürlich ist, dass in der Geschichte kein Rosenwasser versprüht, sondern Blut vergossen wird“, meint Assheuer. Schmitts unmittelbare zeitgenössische Erfahrung war nach 1918 geprägt von Kriegsniederlage, Ordnungsverlust, Untergang: Novemberrevolution, Münchner Republik, Kapp-Putsch, die Freikorps-Morde, die Ruhrbesetzung. Er dachte national, empfand Versailles und Völkerbund als Farce und betrachtete die junge Weimarer Republik als schwachen Staat, zerrieben von unterschiedlichen Interessengruppen und Weltanschauungsparteien. Aus dieser Haltung heraus artikulierte Schmitt früh und fast schon manisch die eigene Sehnsucht nach Ordnung.

Als Dozent. Quelle: https://www.welt.de/img/kultur/mobile167031781/9412507787-ci102l-w1024/Carl-Schmitt-Jurist-D.jpg

In die Bonner Zeit fallen aber auch seine erste explizit politische Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1924) sowie sein bedeutendstes wissenschaftliches Werk, die „Verfassungslehre“ (1928). Als Essenz seiner politischen Theorie kristallisiert sich der Begriff der Dezision heraus, der Entscheidung, die er der Deliberation vorzieht, der Beratschlagung. Für den Bereich des Politischen, das eine besondere Stellung im Verhältnis zur Gesellschaft habe, sei dies die Unterscheidung von Freund und Feind. Durch die Abgrenzung gegenüber, ja durch den Konflikt mit einem äußeren Feind gelinge die Festigung der Gruppe nach Innen. Sollte dennoch einmal der Frieden ausbrechen, so handele es sich um die trügerische Ausnahme vom Krieg, dieser „äußersten Realisierung der Feindschaft“. Ihn schlug die Erbsündenlehre in den Bann, die ihm den Ursprung von Gut und Böse offenbarte, das Entweder- Oder existenzieller Entscheidung und die Wahrheit über den „Menschen im Ganzen“. Das biblische Gebot der Feindesliebe, so behauptet Schmitt, beziehe sich einzig und allein auf die private Sphäre, nicht aber auf den politischen Widersacher.

Auch der Konflikt mit einem inneren Feind sei denkbar: „Zur Demokratie gehört (…) notwendig erstens Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“ Gleichartigkeit wird bei ihm zum zentralen Kennzeichen von Demokratie; das machte ihn nach links anschlussfähig. „Die endlosen Aushandlungsprozesse und Kompromissbildungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Akteuren haben ihn auch ästhetisch abgestoßen“, so eine These Münklers zu Schmitts Liberalismuskritik. Die Weimarer Republik sah Schmitt als labiles politisches System, das den Deutschen von fremden Mächten übergestülpt worden sei. Wie für Spengler verkommt auch für ihn der Staat zur Beute der Parteien, die fern vom Volk hinter verschlossenen Türen ihre Geheimpolitik betrieben.

In der „Verfassungslehre“ unterzog er die Weimarer Verfassung einer systematischen juristischen Analyse und begründete eine neue wissenschaftliche Literaturgattung, die sich neben der klassischen Staatslehre als eigenständige Disziplin des Öffentlichen Rechts etablierte. Dem Pluralismus partikularer Interessen, der für ihn der Egoismus gesellschaftlicher Interessensgruppen war, setzte er die Einheit des Staates entgegen, die für ihn durch den vom Volk gewählten Reichspräsidenten repräsentiert wurde, und sieht die Homogenität von Repräsentant und Repräsentierten als Voraussetzung echter Demokratie, die für ihn eine Präsidialdemokratie sein muss. Der Staat hatte stark zu sein, um die Politik des Souveräns durchzusetzen.

Originalausgabe. Quelle: http://www.bard.edu/library/arendt/pdfs/Schmitt-Verfassungslehre.pdf

Denn im Parlament stünden sich die verschiedenen Weltanschauungsparteien unversöhnlich gegenüber, es gebe nur noch Meinungs- und Interessenfronten, aber keinen Platz für Argumente, keinen Willen zum wirklichen Gespräch, schon gar nicht zur Einigung. Die politischen und sozialen Gegensätze in der Massendemokratie können nicht mehr über den Parlamentarismus integriert werden, so der Analytiker, der über „organisierte Unentschiedenheit“ schimpft. Der Souverän sollte über dem Recht, ja über der Verfassung stehen; seine Entscheidung schafft die Norm, wie Gott dem Moses die Gesetzestafeln diktierte. Das kann nur missverstehen, wer autoritär und totalitär, „totalen Staat“ und „totalen Krieg“ verwechselt.

„Alle wollen dasselbe“

1928 wechselte Schmitt nach Berlin, zuerst an die Handelshochschule, von 1933 – 1945 an die Friedrich-Wilhelms- (heute Humboldt-)Universität, und entwirft hier die Denkgebäude, die ihn laut dem Frankfurter Staatsrechtshistoriker Michael Stolleis als „Mephisto des Staatsrechts“ erscheinen lassen. „Sicher zielte Schmitt nicht auf den völkischen Führerstaat“, ist sich Stolleis gewiss. Doch fast alles, was Schmitt dachte, glaubte, schrieb und redete, gab das perfekte wissenschaftliche Unterfutter für das nun folgende Kapitel Deutschlands her. „Alle wollen dasselbe, deshalb wird in Wirklichkeit keiner überstimmt, und wenn er überstimmt wird, so hat er sich eben über seinen wahren und besseren Willen getäuscht“ – diesen an Jean-Jacques Rousseau angelehnten Satz schrieb Schmitt schon in seinem ersten Berliner Jahr. Er hätte auch von Stalin gesagt werden können. So waren für Schmitt Bolschewismus und Faschismus zwar „wie jede Diktatur antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch“.

Anfangs positionierte sich der Mussolini-Bewunderer, der im Kabinett Schleicher Minister ohne Geschäftsbereich geworden war, gegen Hitler, den er als dumm und lächerlich bezeichnete. Nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 präsentierte sich der „Märzgefallene“ Schmitt dagegen als überzeugter Anhänger der neuen Machthaber – ob aus Opportunismus oder innerem Antrieb, ob als Problem der Theorie oder des Charakters, ist bis heute umstritten. Münkler betont den Charakter: „intellektueller Hochmut in Verbindung mit dem Karrierestreben eines ehrgeizigen Außenseiters haben Schmitt zeitweilig in engste Nähe zum Regime gebracht, und deren Ausdruck war seine Rechtfertigung der Morde an dem SA-Führer Röhm sowie dem ehemaligen Reichskanzler Schleicher“.

Am 11. Juli 1933 berief ihn Hermann Göring in den Preußischen Staatsrat – ein Titel, auf den er zeitlebens besonders stolz war. Noch 1972 soll er gesagt haben, er sei dankbar, Preußischer Staatsrat geworden zu sein und nicht Nobelpreisträger. Zudem wurde er Herausgeber der Deutschen Juristenzeitung und Mitglied der Akademie für deutsches Recht. Schmitt erhielt sowohl die Leitung der Gruppe der Universitätslehrer als auch die Fachgruppenleitung Hochschullehrer im NS-Rechtswahrerbund. Er entwickelte die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken, der zufolge jede Ordnung ihre institutionelle Repräsentanz im Entscheidungsmonopol eines Amtes mit Unfehlbarkeitsanspruch findet. Diese „amtscharismatische Souveränitätslehre“ mündete in eine Propagierung des Führerprinzips und der These einer Identität von Wille und Gesetz („Der Wille des Führers ist Gesetz“), womit Schmitt seinen Ruf bei den Machthabern festigte.

Juristenzeitung 1934. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d9/Kopf_F%C3%BChrer_sch%C3%BCtzt_das_Recht.jpg

Mehr als 40 Aufsätze in diesem Ton hat der Parteigenosse Nummer 2098860 zwischen 1933 und 1936 veröffentlicht. Allein sie halfen ihm nichts – eine Intrige beendete 1936 seine politische Vita, in deren Folge er alle Ämter in den Parteiorganisationen verlor. Der Mann, der sich nur allzu gern als „Kronjurist des Dritten Reiches“ hofieren ließ, war für den Hitler-Staat nicht viel mehr als ein nützlicher Idiot. Niemand könne sagen, der Staatsrechtsprofessor habe die Nazis an die Macht gebracht, gesteht Darnstädt. „Nichts von dem, was das NS-Regime angerichtet hat, wäre ohne Schmitt anders gelaufen“, muss Kolleis zugeben. Doch auch als Hochschullehrer versuchte er weiter, zum Stichwortgeber des Regimes zu avancieren. Das zeigt etwa sein 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entwickelter Begriff der „völkerrechtlichen Großraumordnung“, den er als deutsche Monroe-Doktrin verstand. Dies wurde später zumeist als Versuch gewertet, die Expansionspolitik Hitlers völkerrechtlich zu fundieren: als sei die Deutung wichtiger als die Bedeutung – ein Phänomen, das ihm -zigfach widerfuhr.

„keine Kriegsgefangenen getötet“

Am 26. September 1945 verhafteten ihn die Amerikaner und internierten ihn bis zum 10. Oktober 1946 in verschiedenen Lagern, teilweise in Einzelhaft. Anlässlich der Nürnberger Prozesse wurde er von Chef-Ankläger Robert M. W. Kempner als „potentieller Angeklagter“ verhört. Zu einer Anklage kam es jedoch nicht, weil er eine Straftat im juristischen Sinne nicht feststellen konnte: „Wegen was hätte ich den Mann anklagen können?“, begründete Kempner diesen Schritt später. „Er hat keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, keine Kriegsgefangenen getötet und keine Angriffskriege vorbereitet“, zitiert ihn Darnstädt im Spiegel.

Schmitt gehörte zu den wenigen, die ihre Liaison mit dem Nationalsozialismus die akademische Karriere gekostet hat: Ende 1945 war er ohne alle Versorgungsbezüge aus dem Staatsdienst entlassen worden. Um eine Professur bewarb er sich nicht mehr, das wäre wohl auch aussichtslos gewesen. Stattdessen zog er sich in seine Heimatstadt Plettenberg zurück, wo er weitere Veröffentlichungen unter Pseudonymen vorbereitete und noch vierzig Jahre lebte. 1952 konnte er sich, schon verwitwet, eine Rente erstreiten, aus dem akademischen Leben aber blieb er ausgeschlossen: Eine Mitgliedschaft in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wurde ihm verwehrt.

An die schriftstellerische Produktivität der Weimarer Jahre hat er nicht mehr anschließen können – die Republik war wohl zu sicher, um von ihm unsicher geschrieben zu werden. „Aber Schmitts Schweigen hat die von ihm ausgehende Faszination eher erhöht. Man kann darin eine neue Variante der zuvor bereits gepflegten Strategie der Selbstverrätselung sehen“, feixt Assheuer. In seinen letzten Jahren sieht Münkler „einen verbitterten, eifersüchtigen, gelegentlich bösartigen Mann, der mit der Fassung ringt“. Doch die Probleme, über die Schmitt nachgedacht hat, blieben und haben nach seinem Tode noch an Brisanz gewonnen – und er wieder an Attraktivität angesichts der zunehmenden Kritik an kosmopolitischen Weltentwürfen und der Frustration über die aufs Akademische beschränkte Wirkung deliberativer Politikkonzeptionen.

In Schmitts Tradition: Botho Strauss. Quelle: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13681004

Zeitlebens lehnte Schmitt einen naiven Universalismus der Menschenrechte und die irrealen Träume vom Erfolg des Völkerbunds als illusorisch ab und hielt etwa „Weltfrieden“ für einen unpolitischen Begriff, der keine Feindschaft mehr zuließ: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Das liberale Denken hatte aus Schmitts Sicht verlernt, sich mit den harten politischen Realitäten auseinanderzusetzen. Die teilweise kultisch gefeierte belgische Politologin und Postmarxistin Chantal Mouffe darf als prominenteste linke Schmitt-Adeptin gelten: die Verleugnung der antagonistischen Natur der Gesellschaft und die Delegitimierung von Konflikt wirkten zutiefst depolitisierend, schreibt sie. Aber Schmitt wärme auch „die Sehnsucht nach ‚Herrschaft und Heil‘ wie auch den literarischen Anti-Judaismus eines Martin Walser“, so Assheuer, die „Gespenster seines Raumdenkens“ spukten in Peter Handkes Hass auf die UN „ebenso wie im gespreizten Elitismus eines Botho Strauß“.

Schmitt war immer schneller als die Politik – egal, welche; vielleicht liegt seine Renaissance vor allem darin begründet. „Er hatte immer die passenden Ideen schon parat und immer eine griffige Formulierung drauf“, meint Darnstädt. Manche seiner Sätze lesen sich bis heute quälend: „Was war eigentlich unanständiger: 1933 für Hitler einzutreten oder 1945 auf ihn zu spucken?“ Gesinnungstreue Schüler betrachten Schmitts faschistische Jahre als lässliche Sünde: Wer groß denkt, dürfe auch groß irren. Sein Denkstil beeinflusste daneben zahlreiche namhafte Publizisten und Juristen, allen voran den Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, dem das an Schmitt angelehnte sogenannte „Böckenförde-Diktum“ zu verdanken ist, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne.

Schmitts Grab. Quelle: http://www.plettenberg-lexikon.de/personen/schmittplett.htm

Ob er Antisemit war, wird bis heute kontrovers diskutiert. Abgesehen von seiner analytischen Brillanz, der schlagenden Verbindung von Bild und Begriff sowie seiner im Wortsinn ungeheuren Formulierungsgabe bleibt er präsent in der geheimnisumwitterten Rolle des Verfemten, die ihn „im ausgebombten Bewusstsein der jungen, nicht nur katholischen Intelligenz attraktiv“ machte, befand Assheuer: Schmitt sei der „fremde Gast“ in der Bundesrepublik, der „lebende Legitimitätsvorbehalt gegen das parlamentarische System“ gewesen. Und Schmitt bleibt präsent wegen Statements wie diesem: „Es gibt Verbrechen gegen und Verbrechen für die Menschlichkeit. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden von Deutschen begangen. Die Verbrechen für die Menschlichkeit werden an Deutschen begangen.“ Solche Sätze beißen. Jeden.

Bis heute genießt er das nahezu einmalige Privileg, nur durch seinen Vornamen bekannt zu sein, und noch heute kennen die wenigsten seinen vollständigen Namen Raffaello Santi da Urbino. Über vier Jahrhunderte hinweg blieb er vorbildhaft für Generationen von Künstlern. An den Akademien gelehrt und vor allem im 19. Jahrhundert unter anderem von Goethe propagiert, galt Raffael als Vollendung der Renaissance, seine Kunst als Inbegriff der „Klassik“ und er lange als größter Maler aller Zeiten – vor seinen Zeitgenossen Michelangelo und Leonardo da Vinci. Am Karfreitag 1483 geboren, starb er am 6. April 1520, seinem 37. Geburtstag, ebenfalls einem Karfreitag.

Bereits am Tag danach begann die mythische Überhöhung des jung verstorbenen Künstlers. „Man spricht hier nur vom Tod dieses Mannes, der am Ende seiner siebenunddreißig Lebensjahre sein erstes Leben beendete. Sein zweites Leben aber, das seines Ruhmes, der weder der Zeit noch dem Tod unterliegt, wird ewig sein, wegen seiner Werke und auch wegen der Anstrengungen der Gelehrten, die in seinem Lob schreiben und denen es nicht an Themen fehlen wird“, schrieb der römische Gesandte Grossino an Isabella d’Este, die Herzogin von Mantua. „Die Natur hatte Angst, als Raffael lebte, vor seinem Sieg; als er starb, dass sie sterbe mit ihm“, steht in Latein auf dem antiken Sarkophag im Pantheon in Rom, in dem er auf eigenen Wunsch bestattet wurde.

Selbstporträt 1506. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35440864

Zu seinem Ende existieren drei Versionen. Nach der einen starb er an einem Aderlass zur Kurierung von der Syphilis, die er sich – zwar klein, aber freundlich, gut aussehend und vor allem bei Frauen beliebt – bei seinen zahlreichen Affären zugezogen haben soll – einen „galanten Schönling“ nennt ihn Kia Vahlland. Nach der anderen verschied er nach einem archäologischen Aufenthalt in Sumpfgebieten um Rom an Malaria. Und nach der dritten, dramatischsten raffte ihn die Pest dahin: die damals üblichen Beerdigungsrituale wurden stark abgekürzt, um den Leichnam Raffaels schnellstens in Rom beizusetzen. Möglicherweise sollte so eine Ansteckung verhindert werden. Dass er sich durch seine rastlose geistige und körperliche Tätigkeit im Übermaß überanstrengt hatte, gilt heute als eher fraglich.

„Frucht dieser Kultur“

Der Sohn des Goldschmieds Giovanni Santi, der auch als Maler arbeitete, kam in Urbino zur Welt, der Idealstadt des kunstverliebten Herzogs Federico da Montefeltro, wie die Kunsthistorikerin Lorenza Mochi Onori im DLF erklärt: „Es war der Ort und der Hofstaat den Baldassare Castiglione in seinem Buch über den ‚Cortigiano‘, den Höfling, beschrieben hatte. Hier gab es eine der reichsten Bibliotheken der damaligen Zeit. In Urbino hatte Raffael ein vielseitiges Repertoire künstlerischer Ausdrucksformen vor Augen. Um Raffael zu verstehen, muss man diese Architekturen sehen, diese Landschaften erleben. Raffael ist die Frucht dieser Kultur.“

Durch seinen Vater bekam er früh Kontakt zu gebildeten Humanistenkreisen und erhielt schon als Kind die erste Ausbildung in der Malerei – Henning Klüver nennt Giovanni im DLF einen „hochtalentierten und stilsicheren Künstler“. Als Hofmaler arbeitete er an Entwürfen für die Hochzeitsfeier von Herzog Guidobaldo und Elisabetta Gonzaga. Doch bereits 1491 verstarb Raffaels Mutter, 1494 sein Vater. Der erst elfjährige Knabe trat als Schüler in die Werkstatt des Pietro Vanucci ein, genannt Perugino. Der galt als großer Maler, war er doch von Papst Sixtus IV. nach Rom gerufen worden, um bei der Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle mitzuwirken, wo er die Schlüsselübergabe an den heiligen Petrus malte. Perugino unterhielt zwei Werkstätten, eine in Florenz und eine in Perugia, wo der junge Raffael lernte.

Die sixtinische Madonna. Quelle: https://www.kunstkopie.de/a/raffael.html&mpos=999

Er zeigte bereits als 17jähriger großes Talent: es gelang ihm, sich so weit an den Stil Peruginos anzunähern, dass eine Unterscheidung der Werke oft nur mit Mühe gelingt. Er stellte bald seinen Lehrer in den Schatten, dessen Figuren von oft manieristischer Anmut sind, mit süßlichen Farben gemalt, im Rhythmus etwas monoton und wie abgezirkelt. Prompt wurde er in dem ältesten seiner überlieferten Verträge, einer Abmachung zwecks eines Altarwerkes in Città di Castello, magister (Meister) genannt. Er unterzeichnete gemeinsam mit dem Maler Evangelista da Pian di Meleto einen Vertrag mit einem Wollhändler für ein Altarbild für die Familienkapelle – Raffaels erstes belegtes Werk, das allerdings durch ein Erdbeben 1789 weitgehend zerstört und in mehrere Teile zerlegt wurde. Immerhin 33 Dukaten brachte es ein.

Nach der „Londoner Kreuzigung“ und „Die Krönung Mariä“, die in eine irdische und eine himmlische Zone gegliedert sind und von geometrischen Grundformen, vor allem Kreisen, beherrscht werden, vollendete Raffael 1504 sein frühes Meisterwerk „Die Vermählung der Maria“. Das Gemälde ist nicht mehr durch ein Übereinander von Zonen, sondern durch eine deutliche perspektivische Tiefenstaffelung gekennzeichnet und übertraf damit Perugino. Im selben Jahr ging der junge Meister mit einem Empfehlungsschreiben des urbinischen Hofes nach Florenz, wo schon Michelangelo und Leonardo da Vinci Berühmtheit erlangt hatten.

Die Fresken der Stanzen

Er freundete sich mit dem mächtigen Taddeo Taddei an, in dessen Palast er wohnte, und wurde mit dem Maler Fra Bartolomeo bekannt, der ihn mit dem fundamentalistischen Christentum des 1498 hingerichteten Girolamo Savonarola in Kontakt brachte. Auch während seiner Florentiner Zeit waren die Madonnenbilder, die er schuf, hoch geschätzt. Raffael, der nun intensiv die Werke Leonardo da Vincis studierte, schuf in Florenz etwa 15 Madonnen, die zu seinen besten zählen. Auf Empfehlung seines Onkels Donato Bramante, der unter Papst Julius II. mit dem Neubau des Petersdoms und des Vatikans beauftragt war, kam Raffael schließlich 1508 nach Rom.

Die Schule von Athen. Quelle: https://www.kunstkopie.de/a/raffael/die-schule-von-athen-1-1.html

Hier erhielt er den Auftrag, die päpstlichen Gemächer, die so genannten Stanzen, mit Fresken zu schmücken. Julius II. beauftragte einige Maler für dieses Projekt, doch nachdem ihn das Talent Raffaels so beeindruckte, entließ er alle anderen und wählte Raffael als einzigen Künstler für diese Arbeiten aus. Auch der auf Julius II. folgende Papst Leo X. war von seinen Arbeiten fasziniert und bezeugte Raffael seine Gunst. So entstanden zwischen 1509 und 1517 seine berühmtesten Werke, begonnen mit der berühmten „Schule von Athen“, einer Darstellung der philosophischen Wissenschaften. Das Zentrum bilden Platon und Aristoteles, um die sich die anderen Philosophen wie Pythagoras, Heraklit, Sokrates oder Diogenes gruppieren. Während seiner Arbeiten im Vatikan lernte Raffael Michelangelo kennen, der zu dieser Zeit mit der Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle befasst war. Auch der Stil Michelangelos beeinflusste Raffaels Arbeiten seit dieser Zeit.

Die Wandgemälde der Stanzen preisen die Künste, die Religion und die Philosophie und gelten als absolute Meisterwerke der Hochrenaissance, in denen zudem religiöse Inhalte mit aktuellen politischen Ereignissen verknüpft sind. Diese vielschichtige Ikonographie geht auf Anregungen des Papstes zurück, der seine religionspolitischen Vorstellungen auch in der Kunst zum Ausdruck bringen wollte. Die durchdachten Eingriffe Raffaels in die vorgegebenen Themen bringen das humanistisch geprägte kulturelle Klima des Roms seiner Zeit auf außergewöhnliche Weise zum Ausdruck. Daneben entwarf Raffael die Kartons für die Apostelteppiche in der Sixtinischen Kapelle.

 Raffael-Wandteppich in der Sixtinischen Kapelle. Quelle: https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2020-02/sonderschau-raffael-wandteppiche-in-der-sixtinischen-kapelle.html

Die Fresken der Stanzen stellen einen Höhepunkt der europäischen Malerei dar. Das Wahre, Gute und Schöne ergänzen einander und führen zur Verschmelzung von antikem und christlichem Denken. In den klaren und ausdrucksvollen Bildern entsprechen sich Form und Inhalt nahezu vollkommen. Am 13. Januar 1509 bestätigte Raffael den Erhalt von 100 Dukaten für die begonnene Arbeit an den päpstlichen Gemächern. Aber auch etliche berühmte Persönlichkeiten ließen sich vom Meister porträtieren- neben den Päpsten auch Graf Castiglione oder Kardinal da Bibbiena.

Nachdem Raffael 1511 den ersten Teil der fertiggestellten Deckenfresken Michelangelos zu Gesicht bekam, entschloss er sich, seinen eigenen Stil zu verändern, indem er die Darstellung seiner Figuren zunehmend dynamischer werden ließ und er ihnen mehr Größe und Würde verlieh. Im selben Jahr wurde er formell zum scriptor brevium ernannt: Das Amt des Brevenschreibers sollte sicherstellen, dass Raffael dem Papst ein treuer Mitarbeiter blieb, denn es galt als Ehrung und Pfründengarantie. Um das finanzielle Auskommen des Künstlers zu sichern, war es mit einem festen Gehalt verbunden. 1512 entstand dann sein berühmtestes Madonnenbild, die Sixtinische Madonna, die heute in der Gemäldegalerie von Dresden bewundert werden kann und deren zauberhafte Putten am unteren Bildrand zahllose Zitate der Populärkultur auf allen möglichen Gegenständen der heutigen Zeit nach sich zogen.

Lieblich und harmlos

Zwei Jahre später wurde Raffael zum Architekten und Bauleiter der neuen Peterskirche ernannt. Unter seiner Leitung wurde allerdings nur der Unterbau begonnen. Als Architekt schuf er den Grundriss der Kathedrale auf Basis eines lateinischen Kreuzes, während sein Vorgänger noch ein griechisches Kreuz vorgesehen hatte. Erhalten blieben zahlreiche weitere Entwürfe und Architekturzeichnungen Raffaels aus dieser Zeit. Er vollendete jedoch den Hof von San Damaso im Vatikan und fertigte mehrere Pläne zu Privatgebäuden an. Raffael intensivierte sein Antikenstudium und bereitete die Rekonstruktion des antiken Rom vor. Zudem war der Künstler für alle Projekte des Papstes in der Stadt verantwortlich, wodurch seine eigene malerische Produktion litt. Seine Aufgaben als Bauleiter und Aufseher ließen ihm kaum Zeit, seine späten Malwerke selbst anzufertigen, so dass er seine Aufträge überwiegend von seinen Mitarbeitern, vor allem Raffaellino del Colle und Giulio Romano, ausführen ließ. Nach seinem Tod erlosch auch seine Schule – im Gegensatz zur Werkstatt seines Vaters, die er gemeinsam mit Pian de Meleto weitergeführt hatte.

Chigi-Kapelle in Rom. Quelle: https://www.daskreativeuniversum.de/raffael-biografie/

In Briefen an seinen Onkel in Urbino sprach Raffael von Heiratsplänen. Er war lange Zeit verlobt mit Maria da Bibbiena, einer Nichte des von ihn porträtierten Kardinals. Sie starb in seinem Todesjahr. Seine Geliebte Margharita Luti, eine Bäckerstochter aus Rom, ist unter dem Namen Fornarina bekannt – Raffael verewigte sie in mehreren seiner Werke. Sie soll bis zu seinem Tod in seinem Haus in Rom gelebt haben. Vor seinem Tod entstanden noch der Amor- und Psyche-Freskenzyklus sowie die Fresken der vatikanischen Loggien, die biblische Szenen darstellen und als „Bibel Raffaels“ bezeichnet werden. Raffaels letztes eigenhändig gemaltes Werk war die Verklärung Christi, die sich heute in der Pinakothek des Vatikans befindet und nie vollendet wurde.

Durch seine hohen menschlichen Tugenden, seine Grazie, Schönheit, Bescheidenheit und seine vortrefflichen Sitten gehöre er nicht zu den normal Sterblichen, sondern zu den sterblichen Göttern, die den Nachgeborenen in dauerhafter Erinnerung bleiben, meint sein Biograph und Zeitgenoss Giorgio Vasari. Die von Raffaels Kunst und Person ausgehende Faszination hielt nahezu vier Jahrhunderte an, bevor sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verblassen begann, etwa genau zu der Zeit, als Michelangelo zum Inbegriff des in Konflikte verstrickten Genius und zum Symbol tragischer Größe wird.

Denn der galt neben dem Renaissance-Titanen Leonardo als kolossaler, universaler, während Raffael neben ihnen immer wie ein Leichtgewicht erschien, feiert er doch mit seinen Werken vor allem die Schönheit und Harmonie, in den Marienbildnissen die Zartheit und Poesie. Für seine Rezeption sollte das nicht nur von Vorteil sein. Heute wird Raffael vielfach als „lieblich“ und „harmlos“ abgetan: „Seine Madonnen wirken einfach zu vollendet, die immer wiederkehrende Dreieckskomposition aus Maria mit dem Kind, der gefällige Dreiklang aus rotem Kleid, blauem Mantel und hellem Inkarnat scheint zu perfekt“, befindet Nicola Kuhn im Tagesspiegel.

Raffaels Grab. Quelle: CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2118119

Doch Raffaels Entwicklung verdeutlicht nach Ansicht Vasaris, dass es ein Künstler trotz ungünstiger Voraussetzungen durch Mühen, Studien und Fleiss („fatica, studio, e diligenza“) zu großem Ansehen und Können bringen könne, wenn er sich die richtigen Beispiele suche, die ihm helfen, seinen Stil zu verbessern. Raffael habe nicht wie ein Künstler, sondern wie ein Fürst gelebt und gezeigt, wie die Maler freundlich und höflich miteinander umgehen könnten, obwohl dies ihrer Wesensart widerspreche. Eine solche Harmonie und Einheit habe es in keiner anderen Zeit gegeben.

Sehr geehrter Herr Gniffke,

„Die AfD hat genauso einen Anspruch auf eine faire Berichterstattung wie jede andere Partei auch“, sagten Sie am 25. Oktober noch als ARD-Aktuell-Chef bei einer Dresdner Podiumsdiskussion, der ich selbst beiwohnte. „Wir haben zu einem professionellen, sachlichen Umgang mit der neuen Partei gefunden, die nun in unserer Berichterstattung gilt“, sagten Sie als SWR-Intendant am 27. März der Jungen Freiheit. An beidem ist nach der vorgestrigen Berichterstattung, wieder einmal, zu zweifeln.

Zum Hintergrund: ich lud am 30. März 15.56 Uhr die SWR-Hörfunk- und Fernsehredaktion zu Zeiten von Homeoffice, virtuellen Konferenzen etc. ein, über die reale AfD-Fraktionssitzung am 31. März 10.00 Uhr mit den beiden Initiativen „Verfassungsklage an M. Aras“ und „Fragenkatalog an T. Schopper“ zu berichten. Ihr Redakteur M. Pfalzgraf sagte 20.11 Uhr zu und war am Morgen auch mit Team vor Ort, führte ein Interview mit Fraktionschef Bernd Gögel und machte Schnittbilder.

Schnittbild. Screenshot: https://www.ardmediathek.de/swr/player/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzEyMjEwNjk/sendung-19-30-uhr-vom-31-3-2020

Heraus kam in der SWR-Aktuell-Sendung ein Minutenstück zum Parteiausschluss von Stefan Räpple MdL, den das Landesschiedsgericht am Abend zuvor beschlossen hatte. Kein Wort über die (am Nachmittag verworfene) Verfassungsklage, die den unerträglich autokratischen Zustand anprangerte, die permanente demokratische Kontrolle der Regierung durch das Parlament nicht zuzulassen – offenbar nimmt der SWR diesen Zustand als normal wahr. Und auch kein Wort über den Fragenkatalog zur Corona-Situation, mit dem die größte Oppositionsfraktion im Südwesten eine transparente, tagesaktuelle Teilhabe am Informationsstand der Landesregierung einforderte, um ihrer Kontrollfunktion gerecht zu werden und zu prüfen, ob die Landesregierung tatsächlich zum Wohl der Bevölkerung agiert.

Damit hat Ihr Sender mustergültig alle Klischees bedient, die ihm, neben den anderen öffentlich-rechtlichen Anstalten, seit Jahren vorgeworfen werden. Zum Ersten haben Sie nach dem Prinzip der Medialisierung eine Neben- zur Hauptsache gemacht: Ein Parteiausschluss isoliert, eine Mehrheitsklage dagegen kollektiviert und normiert. Das betrifft auch und erst recht die Fragen an Bernd Gögel, die sich bestenfalls tertiär um die Person Räpple drehten. Zum Zweiten haben Sie nach dem Prinzip der Mediatisierung den Einzel- zum Normalfall erhoben: die Person Räpple wird als fraktionsentscheidend gezeigt, nicht der kollektive sachpolitische Wille der anderen Fraktionäre.

Und zum Dritten haben Sie nach dem Prinzip der „instrumentellen Aktualisierung“ (Kepplinger 2011) genau jene Sachverhalte gehypt, die ihrem politischen, oder besser politisch korrekten, Verständnis entsprechen, und die anderen, mehrheitlich dem Land und seiner Bevölkerung nutzenden durch Verschweigen abgewertet. Das ist nicht nur hochgradig unseriös, sondern manipulativ, desinformativ und letztlich destruktiv: Sie wollen den Südwesten und seine Bürger nicht einen, sondern seine Spaltung vorantreiben, indem sie Ausgrenzung befördern – ein Schema, das der SWR nach Auskunft meiner Kollegen von Anbeginn betreibt: die AfD findet auf sachpolitischer Ebene nicht statt, sondern nur auf moralischer Metaebene. Das kündet von der Heraufkunft der Schmitt‘schen Freund-Feind-Unterscheidung im Journalismus und kann nicht Aufgabe eines bürgerfinanzierten Senders sein. Erst recht nicht, und dieser Verdacht liegt sehr nahe, einen privaten Feldzug gegen einen Politiker zu führen, dessen Protestaktionen gegen sich man vielleicht nicht gutheißt.

Anmoderation. Screenshot: https://www.ardmediathek.de/swr/player/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzEyMjEwNjk/sendung-19-30-uhr-vom-31-3-2020

Sehr geehrter Herr Gniffke, dass ich nach gerade vier Wochen Arbeit als Pressesprecher ob solcher Unkollegialität verschnupft bin, können Sie diesen Zeilen entnehmen: Sie haben bewiesen, dass die altehrwürdige Theorie der Nachrichtenwerte (vgl. zuletzt Maier/Ruhrmann/Klietsch 2007 und Maier/Stengel/Marschall 2010) nicht nur funktionalisiert, sondern leider auch ideologisiert, ja moralisiert werden kann. Das hat mit einem Grundversorgungsauftrag „Information – Bildung/Beratung – Unterhaltung“ rein gar nichts mehr zu tun – aber umso mehr mit einem Pädagogisierungs-, ja eingebildeten Indoktrinationsauftrag. Den hatten Sie nicht, den haben Sie nicht und den werden Sie auch nie haben. Also befleißigen Sie sich gefälligst all- statt einseitiger Information; die habe ich in meiner aktiven Zeit als Fernsehjournalist und Mediendozent von meinen Redakteuren, Volontären und Studenten selbst eingefordert. Die Manipulierbarkeit des Menschen endet an der Wahrheit. Unser Land braucht Sinn, keinen publizistischen Unsinn.

Mit verhältnismäßig freundlichen Grüßen

Dr. Thomas Hartung

Pressesprecher

Selbst in seinem letzten Spiegel-Interview teilte der mittlerweile schwer Lungenkrebskranke nach allen Seiten aus. Erst kritisiert er das Privatfernsehen: „Die glauben, es reicht, eine schöne Frau oder einen jungen Mann vors Mikrofon zu stellen und sie Sätze voller hanebüchener Ahnungslosigkeit sagen zu lassen.“ Doch auch mit der ARD geht er hart ins Gericht: Ein Sündenfall sei die Beteiligung der Parteien bei der Gründung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gewesen. Diesen „fleischgewordenen Proporz“ werde man aus den Anstalten nie wieder herauskriegen.

Der so vom Leder zog, gehörte als „Mister Tagesthemen“ zu den bekanntesten Journalisten Deutschlands: 700 Mal ging er mit dem Informationsformat auf Sendung, dessen Zuschauerzahl er binnen zweieinhalb Jahren von zwei auf vier Millionen verdoppelte. Seine „souveräne, einem Verkündungsstil abholde Form der Moderation, seine kritisch-distanzierte auf den Punkt formulierte Sicht der Tagesereignisse und seine unauffällige Professionalität“ hätten die Hauptnachrichtensendung so populär gemacht, lobte ihn die Jury der Eduard-Rhein-Stiftung bei einer Preisverleihung 1987.

Hajo Friedrichs. Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/hannsjoachimfriedrichs105_v-vierspaltig.jpg

Am 28. März 1995 erliegt er 68-jährig seiner Erkrankung – einen Tag nach dem Erscheinen „seiner“ Spiegel-Ausgabe. Ein „begehrter Junggeselle“ sei er den größten Teil seines Lebens gewesen, habe erst zum Lebensende in eine intakte Familie eingeheiratet, erinnert sich sein langjähriger Freund und Kollege Hermann Schreiber im NDR. „Dieser Sonntagsjunge hat den Sinn seines Sterbens in seinem Leben gefunden.“ Der Sonntagsjunge heißt Hanns Joachim „Hajo“ Friedrichs, gab dem bedeutendsten deutschen Journalistenpreis seinen Namen – und müsste heute erleben, wie seine Ideale von Preisträgern und Kollegen in den Schmutz gezogen werden.

„cool bleiben, ohne kalt zu sein“

Friedrichs wurde am 15. März 1927 im westfälischen Hamm geboren und wuchs gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Martin auf. Nach der Absetzung seines Vaters als Amtsbürgermeister des ehemaligen Amts Pelkum durch die Nationalsozialisten folgte eine unstete Zeit – Entwurzelung sei der Preis für ein Journalistenleben, wird er später sagen. Sein Kriegsabitur am Hennebergischen Gymnasium im thüringischen Schleusingen wurde nicht anerkannt. Er war Luftwaffenhelfer, Arbeitsdienstmann und Soldat und geriet noch kurz in Kriegsgefangenschaft. In Herford legte er ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg sein Abitur ein zweites Mal ab.

1949 beginnt er ein Redaktionsvolontariat bei der Tageszeitung Telegraf in Berlin und reist zu einem Fortbildungskurs zum Thema „Parlamentarische Demokratie“ nach London, wo er einen ersten Text für die BBC über Berlin schrieb. Die journalistischen Maximen Charles Wheeler, Friedrichs‘ Lehrmeister und Mentor bei der BBC, prägten ihn zeitlebens, wie er in seiner Autobiographie schrieb und auch in seinem letzten Interview betonte: dass ein seriöser Journalist Distanz zum Gegenstand seiner Betrachtung halten und sich „nicht gemein machen [soll] mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“

Charles Wheeler. Quelle: https://media1.faz.net/ppmedia/aktuell/feuilleton/659356736/1.671813/default/ein-mann-der-alten-schule.jpg

Bis zuletzt verteidigt er diese journalistischen Tugenden. Moderne Formen wie den Sensationsjournalismus lehnt er ab. Es sei nicht Aufgabe eines Moderators, die Leute zur Betroffenheit zu animieren. In England habe er „gelernt, zu informieren und zu erhellen, also aufzuklären, und dieses Verständnis von Journalismus hat mich vor allerlei Dummheiten geschützt.“ Im Herbst 1950 verpflichtete ihn der Sender für drei Jahre als Nachrichtenredakteur bei seinem Deutschen Dienst, „so eine Art Nachhilfeunterricht für Diktaturgeschädigte“. 1954 ist er dann auch erstmals im deutschen Fernsehen zu sehen – anlässlich einer Live-Übertragung der Feierlichkeiten zu Churchills 80. Geburtstag. 1955 kam Friedrichs in die Heimat zurück, erhielt eine Stelle beim damaligen NWDR in Köln als Korrespondent und Reporter und moderierte auch das Regionalmagazin „Hier und Heute“.

Friedrichs Berichte fielen auf, sein Ton war anders: lockerer, normaler als das häufig noch gepeitscht klingende Nachkriegsdeutsch anderer Reporter. 1964 wechselte er zum ZDF und ging für fünf Jahre als USA-Korrespondent nach Washington, bevor er 1969 die Nachrichtensendung Heute zu moderieren begann. Ab 1972 arbeitete er ein Jahr lang als Vietnam-Korrespondent. Nach seinem ersten Besuch in Saigon wäre er am liebsten für immer geblieben, erzählt er später. Der Reporter erlebt die Höhepunkte des Vietnamkrieges hautnah – die traumatischen Bilder suchen ihn noch Jahre später heim. Nach Vietnam sei er allerdings nicht wegen des Krieges gegangen. Die Kriegsberichterstattung habe ihn nie sonderlich gereizt, sondern vielmehr die Besonderheiten des Landes und seiner Bewohner.

Anschließend wurde ihm die Leitung des aktuellen sportstudios übertragen, das er 101 Mal moderierte – übrigens gegen den Widerstand des damaligen Vorsitzenden des Verwaltungsrats, Helmut Kohl. Friedrichs erinnert sich noch Jahrzehnte später an den launischen Machtmenschen: Als „kleiner Provinzreporter“ habe er den späteren Kanzler nach einer Landtagswahl mit seinem miserablen Wahlergebnis konfrontiert. Das habe Kohl ihm nie verziehen, meint Friedrichs. Auch mit der „nervigen Besserwisserei“ von Helmut Schmidt hat der Journalist seine Schwierigkeiten. „Das ist ein komischer Vogel. Ich hab den Schmidt bestimmt 20 Mal interviewt. Das war immer ganz knapp und cool“, sagt er dem Spiegel. „Das müssen Sie anders fragen“, soll Schmidt immer wieder arrogant geantwortet haben. 1981 kehrt der Fernsehjournalist ins ZDF-Studio New York zurück, wo er gemeinsam mit Dieter Kronzucker das erfolgreiche Magazin Bilder aus Amerika entwickelt.

„Es war schön bei Ihnen“

Im Oktober 1985 wechselt Friedrichs als „Erster Moderator“ zu den neu konzipierten Tagesthemen der ARD, die er abwechselnd mit Ulrike Wolf und später mit Sabine Christiansen moderierte. Er sah das als seine letzte Etappe, „von meinen Wünschen her ist das der Abschluss meines beruflichen Lebens“. Mit seiner sonoren Stimme wird er schnell zum Publikumsliebling, der auch von Kollegen geschätzt wurde. 1986 schrieb er im Medium Magazin, das Sprachgefühl sei die Hauptanforderung an einen Journalisten und „das Darstellen komplizierter Zusammenhänge in einfachem, gutem Deutsch ist nicht erlernbar.“ 1988 wandelte er auf den Spuren seines Tagesschau-Kollegen Wilhelm Wieben, der für Falcos „Jeany“ einen Newsflash aufnahm, und kooperierte mit Udo Jürgens: Friedrichs sprach den Prolog zu dem Lied „Gehet hin und vermehret Euch“, das sich angesichts der Zunahme der Weltbevölkerung kritisch mit der Sexualmoral der katholischen Kirche auseinandersetzte.

Jürgens‘ Blaues Album. Quelle: https://media.real-onlineshop.de/images/items/1024×1024/555b098a0caeb4cc7c277a8fffd02428.jpg

Er verkündete als erster „Seit heute wissen wir‘s: Barschel hat gelogen“, aber auch am 9. November 1989 um 22.42 Uhr: „Die Tore in der Mauer stehen weit offen“. Danach setzte der nächtliche Massenansturm auf die Grenzübergänge ein. Am 27. Juni 1991 moderierte Friedrichs letztmalig die Tagesthemen und wurde von Ulrich Wickert, bis dahin Fernsehkorrespondent in Paris, abgelöst. Grund dafür soll ein internes Kompetenzgerangel mit der damaligen ARD-Aktuell-Leitung gewesen sein. Seine Abschiedsworte mit rollendem R – „Es war schön bei Ihnen, all‘ die Jahre“ – wurden legendär. Es habe keinen einzigen Tag gegeben, an dem er ungern in die Redaktion gekommen sei, resümiert Friedrichs im Spiegel: „Viele Leute haben Berufe, die sie nur ausüben, um Geld zu verdienen. Sehen Sie sich doch mal in der U-Bahn um, morgens.“

Er habe sich immer verstanden als „Mensch, der mit am Esstisch sitzt, der ein bisschen mehr weiß, weil er die Fähigkeit hat, unbefangen in die Welt zu gucken und das, was er entdeckt, so wiederzugeben, dass die Leute ihm glauben“, bilanzierte er. In den folgenden Jahren war der ehemalige Anchorman unter anderem im ZDF als Moderator der erfolgreichen Tier- und Naturdokumentation Wunderbare Welt zu erleben, einem 45-minütigen Format der National Geographic Society. Friedrichs kümmerte sich aber auch bei RTL um die Ausbildung von Nachwuchsjournalisten, war als Berater beim Fernsehsender Vox tätig und schrieb seine humorvolle Autobiographie „Journalistenleben“, die zum Bestseller wurde und die er seiner langjährigen Lebensgefährtin Ilse Madaus widmete, die er 1994 kurz vor seiner Krebsdiagnose auf Sylt geheiratet hatte: „Ich habe 50 kriegsfreie Jahre erlebt, das ist schon mal was“. Sabine Christiansen verkündete Deutschland den Tod ihres großen Kollegen.

Seine letzte Ruhe fand er auf dem Friedhof Nienstedten in Hamburg Altona. Anlässlich der Trauerfeier würdigte NDR-Intendant Jobst Ploog Friedrichs als „Vorbild für eine ganze Generation von Journalisten“. Er habe eine im deutschen Fernsehen neue Form der Nachrichtenvermittlung geprägt, sein Stil überragende fachliche Kompetenz mit einem Hauch feiner Ironie verbunden. Nach seinem Ableben gründete seine Frau gemeinsam mit einem guten Dutzend Freunden einen Verein, der alljährlich herausragende und verdiente Fernsehjournalisten auszeichnet. Erster Preisträger des „Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus“, der seit 2002 mit 5.000 Euro dotiert ist, war 1995 der ARD-Auslandskorrespondent Thomas Roth.

„eingebracht in diesen Kampf“

Doch spätestens seit der Verleihung des Preises 2018 an Anja Reschke, ebenso selbst- wie sendungsbewusste Moderatorin von Panorama und Zapp, weil sie „Haltung ohne Arroganz, Toleranz ohne Beliebigkeit und Stehvermögen ohne Sturheit“ zeige, ist das Image des Preises ramponiert. Denn die 47-jährige fühlt sich eben nicht ausgezeichnet, weil sie sich mit keiner Sache gemein macht, sondern wegen ihrer „Haltung“. In ihrer Dankesrede, auf der Panorama-Seite dokumentiert, erklärt sie allen Ernstes, Friedrichs geflügeltes Wort würde „seit Jahren falsch zitiert“, sein Satz sei „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden.

Reschke zur Preisverleihung. Quelle: https://bilder.t-online.de/b/84/86/14/92/id_84861492/610/tid_da/-panorama-moderatorin-anja-reschke-erhaelt-den-hanns-joachim-friedrichs-preis-.jpg

Es sei Friedrichs, so Reschkes These, allein darum gegangen, wie man es schaffe, auch schlimme Meldungen vorzutragen und dabei sachlich zu bleiben. „Es ging in dieser Frage und in der Antwort nicht darum, ob man sich als Journalist neutral verhalten müsse.“ Das müsse man nämlich ganz und gar nicht, so ihre Schlussfolgerung, und so habe es sicher auch Friedrichs gehalten, den sie zwar persönlich nicht mehr kennengelernt habe, der aber „durchaus ein engagierter Mann war“. Natürlich müssten Journalisten, so ihre Schlussfolgerung, korrekt recherchieren und ausgewogen berichten. Dennoch sei nun die Zeit gekommen, sich tatsächlich „gemein (zu) machen mit einer Sache“, und zwar mit „einer guten“. Und diese Sache sei die deutsche Verfassung.

Denn wenn „politische Gruppierungen“ mit „Kampagnen, verbalen Entgleisungen und bewussten Grenzüberschreitungen“ das Grundgesetz anzugreifen versuchen, müssten auch Journalisten sich „mit dem Kampf für das Grundgesetz und die Menschenwürde gemein machen“. Da die Demokratie, die Pressefreiheit, nie so offen infrage gestellt worden sei wie jetzt, hätte sicher auch Hanns Joachim Friedrichs sich eingebracht „in diesen Kampf“, endet sie. Dass sie sich zu wissen anmaßt, ob und wie er sich heute verhalten würde, ist nicht das Problem. Wohl aber, dass ihr gar nicht in den Sinn kommt, ob er vielleicht auch den gleichen Weg gegangen wäre wie etwa Eva Hermann. Das nachträgliche Umdeuten von Äußerungen Verstorbener, die sich dagegen nicht mehr wehren können, hat jedoch hierzulande Tradition.

Die Breitseite kam aber nicht unvorbereitet. Denn schon im legendären Spiegel-Interview sprach Friedrichs auch über Dinge, mit denen er sich sehr wohl gemein gemacht hatte, weil er sie für gut hielt: die SPD und ihre Vordersten. Er hätte es einmal „im Visier gehabt“, Oskar Lafontaines Regierungssprecher zu werden, wenn dieser 1990 Kanzler geworden wäre. Und so plädierte Martin Hoffmann bereits 2011 in einem inzwischen verschwundenen Blog-Beitrag dafür, dass Friedrichs „Objektivitäts-Dogma“ umgewandelt werden sollte in ein „Transparenz-Dogma“. Drei Jahre später ist für Eugen Epp der Journalist als objektive Instanz nicht realistisch „und in letzter Konsequenz womöglich auch gar nicht erstrebenswert“. Moderner, publikumsfreundlicher Journalismus „braucht eine ergebnisoffene Recherche ebenso wie klare Standpunkte“, schrieb er in Message, der Zeitschrift für Journalismus.

Epps Text ist heute noch abrufbar. Quelle: https://www.message-online.com/specials/objektivitaet-im-journalismus-ende-einer-illusion/

Im Mai 2017 zog Anton Sahlender, Leseranwalt der Mainpost, nach: „Medien dürfen sich grundsätzlich mit Sachen oder Entwicklungen gemein machen, wenn sie die (beispielsweise im Sinne unseres Grundgesetzes) für gut halten und sie dürfen sich gegen solche wenden, die sie für schlecht halten.“ Auch der umstrittene Wiener Journalist Armin Wolf sekundierte Reschke und meinte, dass Friedrichs immer wieder Position bezogen habe, etwa zu Wunderbare Welt, die er im Spiegel so beschrieb: „Die Sendung hat eine grüne Botschaft: Wenn der Mensch sich weiter so bemüht, dann kriegt er das auch noch kaputt.“ Und erst recht sekundierte Georg Restle, Chef des ARD-Politmagazins Monitor, in seinem „Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus“. So sei im Gegensatz zu dem von ihm konstatierten journalistischen „Neutralitätswahn“ (!) die offengelegte Parteinahme nicht nur wahrhaftiger, sondern auch ehrlicher.

„Axt an die Wurzel der Pressefreiheit“

Damit wird Techniken das Wort geredet wie dem Verschweigen nicht passender oder dem Exponieren erwünschter Details oder Informationen, der Verwendung tendenziell  ab- oder aufwertender Formulierungen oder auch dem häufigeren Ein- oder Nichteinladen politischer Gesprächspartner. „Wer sich so leichthändig und ganz bewusst mit scheinlogischen Begründungen vom journalistischen Handwerk verabschiedet und stattdessen der bevormundenden Haltungsschreiberei das Wort redet, legt damit, zugunsten des eigenen Sendungsbewusstseins, die Axt an die Wurzel der Pressefreiheit“, zürnt Gerhard Strate im Cicero. Er maße sich und der journalistischen Zunft an, zu bestimmen, welche Haltung die einzig „richtige“ wäre. Raymond Unger befand gar drastisch: „Systemtreue Künstler sind wie systemtreue Medien ein Zeichen dafür, dass der Kontrollmechanismus freier Gesellschaften versagt“.

Doch wenn Systemtreue plötzlich als Paradebeispiel für die moralische Selbstbeweihräucherung der Öffentlich-Rechtlichen gleich einem „Helden der Sowjetunion“ erscheint, weil sie Themen mit Meinungen und Meinungen mit moralischen Bewertungen verschmilzt, formiert sich ein Gesinnungsjournalismus, der abweichende Meinungen skandalisiert und jedem den Preis deutlich macht, der für Nonkonformismus zu zahlen wäre. Ein solcher Journalismus ordnet nicht mehr ein und berichtet über Tatsachen, sondern wertet und verurteilt. Und wenn die Zustimmung ausbleibt, sind Haltung und Politik halt nicht richtig erklärt worden. Damit liegt aus Sicht der Reporter der Fehler beim Empfänger der Nachricht, nicht beim Sender. Was für ein Berufsverständnis, das überdies der Bürger finanziert.

N. Wappler. Quelle: https://medienwoche.ch/wp_website/wp-content/uploads/2019/04/MW-Wappler-Interview_20190425.jpg

Die Ex-MDR-Programmdirektorin Nathalie Wappler hatte als designierte neue SRF-Direktorin in der NZZ am Sonntag eine spezielle Idee, mit dem Problem umzugehen: „Wir müssen ein Programm machen, das informiert, aber nicht polarisiert. Wir müssen keinen Meinungsjournalismus machen. Wenn wir in einem Beitrag einen Politiker zu Wort kommen lassen und wenn der Journalist dann den Eindruck erweckt, er wisse es besser, provoziert das einen Vertrauensverlust.“ Dieser Vertrauensverlust dürfte in Deutschland inzwischen irreparabel sein. Die Beschädigung des Hajo-Friedrichs-Preises war ein Mosaikstein auf dem Weg dahin. Daran ändert auch die Preisvergabe 2019 an die zwei vermeintlich unpolitischen Wissenschaftsjournalisten Mai Thi Nguyen-Kim (WDR) und Harald Lesch (ZDF) nichts. Denn Lesch hatte sich bereits monatelang als AfD-Gegner und Vertreter der Klimalobby positioniert.

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