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Ach, waren das Zeiten, als Skandale beim WDR noch darin bestanden, aus England zu reportieren und in Wirklichkeit im Studio nebenan zu sitzen. So jahrelang geschehen bis November 1984, da der Spiegel enthüllte: Toby Charles, der England-Korrespondent aus der Samstagssendung ​„Sport und Musik“, rief mitnichten von der Insel an, sondern per Ortsgespräch aus den BFBS-Studios in Köln-Marienburg. Was dem Gebührenzahler allerhand Telefongebühren sparte, sorgte damals für Ärger, Beschämung und Schadenfreude. 35 Jahre später wäre der Sender, der 2020 und 2021 den Vorsitz in der ARD innehat, froh über solche Bagatellen, steht er doch seit der „Umweltsau“-Affäre unter permanenter Beobachtung und muss einen Shitstorm nach dem anderen verkraften – „Spektakelpolarisierung“ für den Tübinger Medienprofessor Bernhard Poerksen, der sich im DLF eher „Erkenntnispolarisierung“ wünscht.

So wurde schon während der Proteste gegen die vorgeblich satirische Generationenbeschimpfung bekannt, dass der WDR auch, aber nicht nur wegen der erwarteten Erhöhung des Rundfunkbeitrags mit einer „kritischen Berichterstattung“ rechne und deshalb eine Kommunikationsberatung mit den Schwerpunkten Krisenkommunikation und öffentlich-rechtlicher Rundfunk beauftragt habe. Es habe laut Welt in der Ausschreibung geheißen, dass im Zuge der voraussichtlichen Gebührenerhöhung „auf politischer Ebene intensiv über den Auftrag und die Ausstattung des öffentlichen Rundfunks debattiert“ werden wird. Für die „Identitäts- und Legitimationsfragen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ solle eine Kommunikationsstrategie entwickelt werden. Nach einer öffentlichen europaweiten Ausschreibung habe die Agentur Media 5 aus München den Zuschlag bekommen. Der abgeschlossene Vertrag unterliege der Vertraulichkeit.

Da alles, was außerhalb der ARD-Sender für sie an Kommunikation kreiert wird, seit dem umstrittenen „Framing“-Manual Elisabeth Wehlings (vgl. zuerst! 04/2019) unter Rechtfertigungszwang steht, wird auch dieser Auftrag beargwöhnt – und das umso mehr, als die WamS von einem „Budget oberhalb einer halben Million Euro“ berichtet. Prompt zitierten die Kritiker aus dem jüngsten Geschäftsbericht des Senders und verwiesen darauf, dass allein Intendant Tom Buhrow ein Jahresgehalt von 406.700 Euro bezieht, wofür weitere 501.000 Euro den Pensionsrückstellungen zugeführt werden müssen. Die komplette Geschäftsführung (6 Mitglieder) des WDR erhält zusammen 1.546.900 Euro + 1.377.000 Pensionsrückstellungen – deren aktueller Barwert liegt bei 10.895.000 Euro.

Tom Buhrow. Quelle: https://www.tagesspiegel.de/images/wdr-loescht-satire-mit-kinderchor-intendant-tom-buhrow/25485176/2-format6001.jpg?inIsFirst=true

Da muss man dem Gebührenzahler eine Erhöhung erstmal erklären können: „Ich schlage eine Beraterfirma vor, die die Kosten unserer Öffentlichen Rechtlichen Sender auf den Prüfstand nimmt und Sparmaßnahmen und Streichungen vorschlägt“, lautet prompt ein Leserkommentar bei Focus. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff forderte Ende Januar gar, dass der WDR-Intendant nicht mehr als der Bundespräsident verdienen sollte: 214.000 Euro. „Während privat finanzierte Zeitungen auf den Auflagenrückgang mit Sparrunden, Stellenabbau, Fusionen und Einstellungen reagieren müssen, weil sie sonst pleite sind, dampft der GEZ-Koloß mit fröhlich spielender Bordkapelle unbeirrt weiter, spult sein Programm stumpf vor sich leerenden Zuschauerrängen ab, als ob nichts gewesen wäre, und fordert sogar dreist weitere Erhöhungen der Zwangsabgabe“, ärgert sich Dieter Stein in der Jungen Freiheit.

Denn bei dem Umweltsau-Vorfall handele es sich „nicht um den singulären Lapsus einiger inkompetenter WDR-Leute, sondern um die Spitze des Eisbergs, der zeigt, wie man innerhalb des Senders denkt“, erkennt Wolfgang Kaufmann in der Preußischen Allgemeinen. Das belegt nicht zuletzt der Tweet eines weiteren WDR-Mitarbeiters namens Danny Hollek: „Eure Oma war keine #Umweltsau. Stimmt. Sondern eine #Nazisau“. „Man kann den Gedanken für übertrieben halten, aber wenn im Zusammenhang mit der Großeltern-Generation Begriffe wie ‚Umweltsau’ und ‚Nazisau’ benutzt werden, dann erinnert das an ‚Judensau’“, empört sich Andreas Schnadwinkel im Westfalenblatt.

rechte Wut-Kampagne?

Prompt gehen die Zuschauer inzwischen auf die Barrikaden – und werden dafür weiter beschimpft. Deutlich wurde das vor allem an den Berichten der Mainstreammedien zur Demonstration, die aufgebrachte Zuschauer, Omas und andere Betroffene vor dem Funkhaus des WDR in Köln abhielten. Wechselweise wird von „Rechten“ und „Rechtsextremen“ berichtet, die vor dem Sendergebäude ihren Protest zu Protokoll gaben. Während viele Schlagzeilen eine „rechte“ Veranstaltung suggerieren, geben die eigenen Texte der nachfolgenden Berichte in keiner Weise diese Darstellung wieder. Meist wird schon im Vorspann oder zu Beginn des Artikels zugegeben, dass es lediglich um oberflächliche Eindrücke geht, dass es „augenscheinlich“ Rechte waren, dass „eine Gruppe“ nur „höchstwahrscheinlich“ der rechten „Szene zuzuordnen“ sei. Und ob der Anmelder der Demonstration „dem rechten Spektrum“ angehöre, „wisse man aber nicht“. Hier wird ganz klares, lupenreines Framing betrieben, als hätte es diesen ganzen Skandal nie gegeben, und der Eindruck erweckt, der komplette Proteststurm gegen das Video sei eine rechte Wut-Kampagne gewesen.

Demo-Schnappschuss. Quelle: https://philosophia-perennis.com/wp-content/uploads/2020/01/oma-nazisau.png

Dasselbe Framing wurde Tage darauf auch beim nächsten Skandal versucht. Der WDR hatte ein neues Format WDRforyou extra für „Geflüchtete“ auf Facebook und YouTube etabliert. Damit möchte man laut Selbstauskunft „Flüchtlinge, Einwanderer und alle Interessierten, informieren, unterhalten und Deutschland erklären. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen Integration, Migration und die Auswirkungen von modernen Völkerwanderungen.“ Viele Beiträge beschäftigen sich, auch in arabischer Sprache, damit, wie man sich am besten im deutschen Sozialsystem zurechtfindet, Abschiebungen verhindert oder wie eine Einbürgerung vonstattengeht. In einem weiteren Video informiert der Sender auf Deutsch mit arabischen Untertiteln über die Identitäre Bewegung IB und warnt Migranten, dass die IB angeblich gefährlich sei, denn sie fordert, abgelehnte Asylbewerber zurück in ihre Heimat zu bringen. Geltendes Recht als Gefahr zu denunzieren – darauf muss man erstmal kommen.

Und in dem inkriminierten aktuellen Video wird bspw. nicht nur damit geworben, dass hier in Deutschland mittlerweile sehr viele arabisch sprächen, sondern auch die Botschaft verkündet, dass in Deutschland, etwa in Düsseldorf und anderen Städten, noch reichlich Platz für Flüchtlinge sei. Die Amtsleiterin der Düsseldorfer Ausländerbehörde, Miriam Koch, sprach davon, dass die Seenotrettung ihre an Bord genommenen „Passagiere“ nach Deutschland bringen könne und auch für die 40.000 Migranten, die sich momentan in griechischen Lagern befinden, genug Platz in Deutschland sei. Analog dazu könne man sagen: „‚Es gibt zu wenige Missbrauchsopfer’, weil man doch viel zu viele Beratungsstellen eingerichtet hat – oder: ‚Es gibt zu wenig vergewaltigte Frauen’, weil man eine ganze Schar Psychologen ausgebildet hat, die diese betreuen sollen und nun auf Patienten warten“, empört sich der Theologe David Berger auf seinem Blog. „Na dann soll diese neue Zielgruppe doch die GEZ Gebühren künftig bezahlen“, befindet ein Facebook-Kommentar. „Ich finanziere Sendungen, die ich nicht lesen und verstehen kann“, ein weiterer.

„werteorientierter Journalismus“

Höhepunkt der Ereigniskette nach dem deutschrassistischen Handball-Skandal (vgl. zuerst! 03/2020) waren dann Ende Januar zwei Focus-Berichte, wonach das Magazin Monitor, das der sattsam bekannte Georg Restle leitet, einen Zeugen gekauft und ihn zu falschen Aussagen angestiftet haben soll. Die Geschichte dahinter ist kompliziert: der 26jährige Syrer Amed A. wurde von der Polizei NRW auf Grund einer Fahndungspanne fälschlicherweise für einen Dieb aus Mali gehalten, der von der Hamburger Staatsanwaltschaft gesucht wurde, weshalb er in der JVA Kleve zwei kurze Haftstrafen für Taten absitzen musste, die er nie begangen hatte – diese schwere Justizpanne klärt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag. Am 17. September 2018 kam er bei einem mutmaßlich selbst gelegten Zellenbrand ums Leben.

Georg Restle. Quelle: https://www.dwdl.de/images/1532685414_georg-restle.jpg

Um zu beweisen, dass die Justiz möglicherweise eine Mitschuld an dem tragischen Tod des Syrers trifft, der wegen Gewalt-, Drogen- und sexueller Delikte selbst als „Problemfall“ galt, hatte das WDR-Magazin mit Jan-Hendrik H. gesprochen, der damals ebenfalls in dem Gefängnis einsaß, und ihm für das Interview 300 Euro gegeben. Wie es zwischen dem Zeugen und dem WDR abgelaufen sein soll, dokumentieren staatsanwaltschaftliche Vermerke und Vernehmungsprotokolle vom 10. Dezember 2018, die dem Focus vorliegen. Denn vier Tage zuvor trat Jan-Hendrik H. im ausgestrahlten Beitrag als Belastungszeuge gegen die Justiz für den TV-Sender auf: Knackpunkt war die Zeitangabe, wann der Brand ausbrach, wann er bemerkt wurde und wann die JVA-Vollzugsbeamten wie reagierten. Der Zeuge sagt der Justiz nun andere Uhrzeiten als er gegenüber dem Sender angab.

Als der Vernehmungsbeamte nachhakt und sich über die zeitliche Diskrepanz zwischen seinen Aussagen wundert, bricht es aus dem damals 22jährigen heraus: „Die haben die Aufnahme immer wieder neu gemacht mit verschiedenen Formulierungen. Ich denke mal das liegt daran, dass die die ganze Zeit auf mich eingeredet haben“, wird er in dem Protokoll zitiert. Die Sendung entspreche nicht den Tatsachen. „Ich bin echt sauer auf die…“ Auf die Frage, ob man ihm die Antworten in den Mund gelegt habe, erwidert der junge Ex-Häftling: „Ja, die haben mich mit ihren Ergebnissen konfrontiert und dann wurden die Sätze immer wieder neu formuliert und ich musste immer wieder verschiedene Sätze ins Mikrofon sprechen.“

Monitor hat diese Vorwürfe gegenüber Focus zurückgewiesen. Damit steht Aussage gegen Aussage, Fernsehbeitrag gegen Vernehmungsprotokoll. Am letzten Januar-Samstag nun widmete sich das WDR-Magazin Westpol erneut der Panne, die zur polizeilichen Verwechslung von Amed A. führte: Nach wie vor stehe eine „Vertuschung wegen ausländerfeindlicher Motive“ im Raum, behauptete eine „Westpol“-Sprecherin. Eine externe IT-Expertin, die ein „Portal über Polizeibehörden und ihre Informationssysteme“ betreibt, behauptete in diesem neuen Beitrag, dass die Polizei die Personalien in den Fahndungssystemen „Inpol“ und „Viva“ drei Tage nach der Verhaftung manipuliert habe.

JVA Lleve. Quelle: https://www1.wdr.de/unternehmen/der-wdr/unternehmen/anschuldigungen-focus-monitor-bild-104~_v-gseapremiumxl.jpg

Dies würde bedeuten, dass die Beamten alles daran gesetzt haben, den syrischen Flüchtling weiterhin in Haft zu halten, obschon man wusste, dass Amed A. unschuldig war. Als Zuschauer drängte sich der Eindruck auf, da sei ein rassistischer Polizeizirkel am Werk gewesen. Restle übrigens hatte in einem „Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus“ eine offengelegte Parteinahme nicht nur wahrhaftiger, sondern auch ehrlicher befunden – im Gegensatz zu einem von ihm konstatierten journalistischen „Neutralitätswahn“ (!). Der AfD-Medienpolitiker Thomas Ehrhorn MdB forderte vom WDR personelle Konsequenzen.

„Programmkürzungen? Her damit!“

Skandal als Programm, ist man mit Kaufmanns „Eisberg“-Perspektive beim Blick auf die WDR-Programmgeschichte fast versucht zu bilanzieren. Seit den 60er Jahren fühlten sich etwa Bundeswehr oder Abtreibungsgegner durch den Sender angegriffen. „Sowjetzonale Zersetzungspropaganda“, soll 1963 Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU) getobt haben. In den 1970ern kam es öfter vor, dass Interviewpartner in Live-Interviews zu viel Verständnis für die Rote Armee Fraktion zeigten. Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker nannte in der Kölner Stunksitzung einmal Erzbischof Joachim Meisner „Sakralstalinist“. Schnell hatte der WDR seinen Ruf als „Rotfunk“ weg. Tom Buhrow verspricht heute dagegen, dass die ARD alles dafür tun werde, „dass Deutschland kein Land der Echokammern wird, sondern eine Herzkammer der Demokratie in Europa und in der Welt bleibt.“

Jürgen Becker. Quelle: https://www.morgenweb.de/cms_media/module_img/273/136686_1_nocroparticledetail_img_00504595.jpg

Doch zwei jüngere Skandale von 2017 deuteten weitere Beweise für die Zustände beim Sender an. Zum einen konfrontierte der WDR im neuen 1Live-Videoformat „Ausgepackt“ eine Lesbe unkommentiert mit einer religiösen Homohasserin, die der Meinung war, dass Homosexualität eine Sünde ist und eine Krankheit, die man nicht ausleben müsse – ein rotgrüner Aufschrei war die Folge. Und er wollte zum anderen wegen angeblicher „formaler Mängel“ die gemeinsam mit Arte produzierte Antisemitismus-Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ ungesendet in der Versenkung verschwinden lassen – der Beitrag zeigte unter anderem, dass die Muslime die hauptsächlichen Träger des heutigen Antisemitismus auf unserem Kontinent sind. Hier nun war der Aufschrei von bürgerlich-konservativer Seite zu vernehmen.

Die Vorwürfe sexueller Belästigung gegen fünf Mitarbeiter im Frühjahr 2018, die zu zwei Suspendierungen führten, waren da nur der i-Punkt. Angesichts all dieser Umstände stellte am 20. Februar die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) ihr Gutachten zum Finanzbedarf der Sender vor. Dazu gab es ein Vorspiel: nach dem absurden Wahldebakel zum Thüringer Ministerpräsidenten sei die Angst umgegangen, so Boris Reitschuster auf Facebook, dass Thomas Kemmerichs (FDP) Veto genügt hätte, um die Gebührenerhöhung zu verhindern. Die vorgeschlagene Erhöhung um 86 Cent auf 18,36 Euro ab 2021, die jetzt beschlossen werden dürfte, ist den Intendanten aber nicht genug: Sie drohen mit Programmkürzungen. Susanne Baumstark gab auf achgut die beste Antwort: „Öffentlich-Rechtliche drohen mit Programmkürzungen. Her damit!“

Das Zeugnis vom Tübinger Stift bescheinigt ihm 1793 musterknabenhafte Qualitäten: „Gute Gesundheit, Größe über den Durchschnitt, angenehme Sprache, gefällige Gestik, gute Begabung, ausgeprägtes Urteilsvermögen, zuverlässiges Gedächtnis, leicht lesbare Schrift, gutes Betragen, anerkennenswerter Fleiß, reichliche Mittel.“ Später war es mit der Lesbarkeit seiner Schrift aber ein eigen Ding: bis heute konkurrieren vier Ausgaben mit zum Teil erheblich voneinander abweichenden Versionen seiner Texte.

Mit denen, die ihm der junge Kollege 1797 zur Prüfung vorlegt, kann Goethe wenig bis gar nichts anfangen. Zu einem huldvollen Rat reicht es jedoch allemal. Goethe empfiehlt seinem verschreckten Besucher, künftig „kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen.“ Mit anderen Worten: durchgefallen! Zu ehrgeizig, zu pompös, zu verstiegen. Auch Schiller, der den Landsmann zunächst fördert, ist von der Lyrik seines Bewunderers nicht angetan. Er nennt sie „subjektivistisch“, „überspannt“, „einseitig“, beklagt „ihren idealischen Hang“ und fürchtet, dass auch dieses „brave Talent“ wie so viele andere verloren gehen könnte.

Hölderlin. Quelle: Franz Carl Hiemer – Zeno.org, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6523184

Und irgendwie ging er ja auch verloren: weder der Weimarer Klassik noch der Romantik zuzuordnen, wurde er 1806 als Geisteskranker in die Klinik Tübingens eingewiesen und im Jahr darauf als unheilbar entlassen – obwohl ihm nach der Obduktion des Kopfes ein „sehr vollkommenes und schön gebautes Gehirn“ bescheinigt wurde. Bis zu seinem Tode lebte der Dichter 36 Jahre lang in einem umgebauten Stadtturm, gepflegt vom Tischler Zimmer, später von dessen Tochter Lotte. Manchmal schrieb er noch und unterzeichnete mit „Scardanelli“: Johann Christian Friedrich Hölderlin.

„Die Liebe ist ein Fest“

Geboren wurde er am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar. Er war zwei, als sein Vater, der Klosterhofmeister, starb, vier, als die Mutter wieder heiratete und dem neuen Mann nach Nürtingen folgte. Der Stiefvater, ein dem Leben zugewandter, dynamischer Weinhändler und späterer Bürgermeister, war Hölderlin ein liebevoller zweiter Vater. Allein auch dieser starb jung – kurz vor Hölderlins neuntem Geburtstag. Erzogen wurden Friedrich, die Schwester Heinrika und Halbbruder Karl durch Mutter und Großmutter – ein überaus „modern“ anmutendes Schicksal. Zwischen 1784 und 1788 besuchte Hölderlin die niedere Klosterschule in Denkendorf, dann die höhere in Maulbronn. „Der Mutter Haus“ in der Nürtinger Neckarsteige blieb auch während der Studienjahre Aufenthalt für die Ferien und in den darauf folgenden Jahren immer wieder Zufluchtsort für Hölderlin, der um seine Stellung in der Gesellschaft rang.

Im Oktober 1788 nahm Hölderlin das Studium der Theologie am Tübinger Stift auf. Seine Hochbegabung und sein Fleiß als Klosterschüler zahlten sich aus. Auch seine Kommilitonen waren, aus heutiger Sicht, Hochbegabte: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, die als Philosophen zu bahnbrechenden Theoretikern des Deutschen Idealismus wurden. Gemeinsam mit zwei älteren Studenten gründete er im März 1790 einen Dichterbund als ästhetische Gegenwelt zum Stiftsalltag. Man las Klopstock, Schubart, Goethe und Schiller; man schrieb selbst Gedichte, trug sie einander vor und kritisierte sich gegenseitig. Oft besungen wurde die Freundschaft. In Stäudlins „Musenalmanach fürs Jahr 1792“ wurden erstmals Gedichte von Hölderlin veröffentlicht.

Da er sich weigerte, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen, war er zunächst als Hauslehrer für Kinder wohlhabender Familien tätig, so 1793/94 bei Charlotte von Kalb in Waltershausen, wo er mit einer Hausangestellten ein Kind gehabt haben soll. 1794 besuchte er die Universität Jena, um dort Vorlesungen von Johann Gottlieb Fichte zu hören, und lernte während dieses Aufenthaltes neben Goethe und dem von ihm besonders verehrten Schiller auch Novalis und Isaac von Sinclair kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Im Mai 1795 verließ Hölderlin die Universitätsstadt fluchtartig, weil er glaubte, sein großes Vorbild Schiller enttäuscht zu haben, und wurde im Januar 1796 Hauslehrer beim Frankfurter Bankier Jakob Gontard.

Susettes Büste von Landolin Ohmacht. Quelle: https://www.liebieghaus.de/sites/default/files/media/image/sammlung_neuzeit_buestesusettegontard_ohmacht_6_0.jpg

Wie schnell der ledige, muttergeprägte Poet sich nun in Gontards Frau Susette verliebte, ist unklar; heftig war es in jedem Fall: „Lange tot und tiefverschlossen / Grüßt mein Herz die schöne Welt“, jubelt er in einem Gedicht. In einem Brief schrieb er: „Majestät und Zärtlichkeit, und Fröhlichkeit und Ernst, und süßes Spiel und hohe Trauer und Leben und Geist, alles ist in und an ihr zu Einem göttlichen ganzen vereint.“ Über die Natur des innigen Verhältnisses mit der vierfachen Mutter rätseln viele Biographen bis heute. Pierre Bertaux schreibt nach Ausbreitung einiger Dokumente: „Wer da noch an eine ‚platonische Liebe‘ … glauben will … dem sei es nicht verwehrt.” Dagegen Irma Hildebrand: „…dieses beglückende Zusammensein, ist … nicht von dieser Welt, es haben sich zwei Seelen, nicht zwei Körper gefunden.“ „Die Liebe ist ein Fest – es muss nicht nur vorbereitet, sondern auch gefeiert werden“, so Susette selbst in einem Brief.

„Er will die absolute Dichtung“

Ein Sommer ungetrübten, vollkommenen Glücks in dem westfälischen Städtchen Bad Driburg wird beiden geschenkt: Susettes Ehemann hat sie dorthin vor den napoleoni-schen Truppen in Sicherheit gebracht und hält selbst in Frankfurt die Stellung. Wieder zurückgekehrt, muss Hölderlin den Bediensteten spielen und Susette ihren Familien- und Repräsentationspflichten nachkommen. Anfangs kann er die Anspannung produktiv nutzen. Als „Diotima“, eine Figur, die einst Platon als Verkörperung des „lehrenden Eros“ in die Weltliteratur eingeführt hatte, besingt er die Geliebte in Gedichten („Herz! an deine Himmelstöne / Ist gewohnt das meine nicht“) und beginnt den „Hyperion“. 

Hyperion-Cover. Quelle: https://bilder.buecher.de/produkte/44/44520/44520229z.jpg

In dem Briefroman thematisiert er den Kampf des Helden um die Befreiung Griechenlands von der osmanischen Herrschaft und die Rolle seiner Geliebten, die er wiederum Diotima nennt. Sie liebt Hyperion und ermutigt ihn als Verkörperung seines Ideals voll-endeter Schönheit zugleich zur Ablösung von einseitiger Bindung an konkrete Einzelerscheinungen, um den Weg in eine höhere Dimension zu finden – sonst könne er seine Lebensaufgabe nicht erfüllen. Nach ihrem Tod, an dem er Mitschuld trägt, muss er sein Leben neu gestalten und findet Frieden in der Natur.

Griechenland wird im Folgenden zum zentralen Topos seines gesamten Werkes, zur geschichtsphilosophischen Utopie, denn nicht das reale Griechenland, das Hölderlin nie besucht hat, ist gemeint. Griechenland steht vielmehr für die Sehnsucht nach einem von Harmonie, Freiheit und Schönheit bestimmten ganzheitlichen Leben ohne die moderne Vereinzelung des Individuums. In seinen ab 1797 entstandenen Oden und Elegien orientiert sich Hölderlin auch formal an der Antike: Seine Oden dichtet er nach den strengen asklepiadeischen und alkäischen Odenmaßen, in seinen Elegien benutzt er das Distichon, das klassische elegische Versmaß.

Inhaltlich evoziert er ein Spannungsverhältnis zwischen einem harmonischen griechischen Weltzustand und der von Göttern verlassenen Gegenwart. Später kreist nicht nur sein episches und lyrisches, sondern auch sein dramatisches Werk (das Fragment „Der Tod des Empedokles“) in zunehmend verschlüsselterer Sprache um die Polarität von Griechenland und Gegenwart. Dabei mischen sich in seine Texte immer stärker Enttäuschung über die eigene Dichtung und Zweifel an seiner Rolle als „Verkünder“: „Er will die absolute Dichtung. Den absoluten, alles erneuernden Gesang. Einen Gesang, der den Riss in der Schöpfung heilt, die Entfremdung zwischen Menschen und Göttern aufhebt, der die im Geschichts- und Kulturprozess verlorene Ureinheit von Geist und Natur, Welt und Mensch neu gründet“, befindet Simon Demmelhuber im BR.

„gestohlene Momente geheimer Lust“

Im September 1798 wird das Verhältnis ruchbar, Jakob Gontard erteilt ihm Hausverbot. Hölderlin flieht ins benachbarte Homburg zu Sinclair. Es beginnt ein verzweifeltes und entwürdigendes Ringen der beiden Liebenden um Kontaktmöglichkeiten. Zunächst sind noch einige heimliche Treffen möglich, danach reicht es nur noch zum verängstigten Austausch von Briefen durch eine Hecke – Susette ist dauernd unter Beobachtung und kann sich keine Unregelmäßigkeiten erlauben. „So lieben wie ich Dich, wird Dich nichts mehr, so lieben wie Du mich, wirst Du nichts mehr“, schrieb sie ahnungsvoll.

Szenenbilder beider deutscher Hölderlin-Filme. Quelle: eigene Darstellung

Manche Biographen mutmaßen, er habe mit seinem schwärmerischen Überschwang die bis dahin verborgenen Gefühle einer empfindsamen Seele geweckt, und wissen von „gestohlenen Momenten geheimer Lust“. „Drei Stunden soll er für die Strecke von Bad Homburg nach Frankfurt gebraucht haben. Jeden ersten Donnerstag im Monat, so war es verabredet, machte er sich auf den Weg, zu fast noch nachtschlafender Zeit, denn wenn die Kirchturmglocken zehn Uhr schlugen, wollten sie sich sehen“, beschreibt Freddy Langer in der FAZ den Zustand, der beiden unerträglich ist – ihm zumal, weil er am selben Tag wieder zurück muss. Auf dem „Hölderlin-Pfad“, einem ausgeschilderten Regionalparkweg, kann man die Strecke seit 2008 nachwandern – 22 Kilometer hin, 22 Kilometer retour.

„Du bist unvergänglich in mir“

Nach zwei Jahren dann die endgültige Trennung, die noch unerträglicher ist und beide als gebrochene Menschen hinterlässt: „…denn die Hoffnung hält uns allein im Leben … Lebe wohl! Lebe wohl! Du bist unvergänglich in mir! und bleibst so lang ich bleibe“, schreibt Susette im Mai 1800. Im Jahr darauf nimmt Hölderlin eine Hauslehrerstelle in der Schweiz an, wird gekündigt und findet 1802 eine ähnliche Tätigkeit in Bordeaux. Im Juni reist er aus unbekannten Gründen zurück nach Deutschland, in angeblich so verwahrlostem und verwirrtem Zustand, dass Freunde ihn zunächst kaum wiedererkenn-en, als er Ende des Monats in Stuttgart eintrifft.

Spätestens hier muss ihn die Nachricht vom Tod der lungenkranken Susette erreicht haben, die sich seit der Trennung dem Leben verweigert haben soll und am 22. Juni 1802 in Frankfurt an den Röteln ihrer Kinder starb. Aber die Ereignisse dieses Monats sind in Hölderlins Leben bis heute unklar und werden von den Biographen auch verschieden beschrieben – einzig belegt ist gemäß dem Eintrag in seinem Pass, dass er am 7. Juni 1802 die Rheinbrücke bei Kehl überquerte. Was seitdem bis zu seiner Ankunft in Stuttgart geschah, liegt im Dunkeln und bietet Raum für viele Spekulationen. In den beiden deutschen Filmen „Hälfte des Lebens“ (1985, DDR) und „Feuerreiter“ (1997, BRD) hat er die tote Susette noch einmal in den Armen gehalten.

Hölderlin kehrt zurück nach Nürtingen, stürzt sich in Arbeit, übersetzt Sophokles und Pindar, beginnt einen großangelegten Zyklus vaterländischer Gesänge (u.a. „Der Rhein“). Und er schreibt noch manches Gedicht wie die Elegie „Brot und Wein“: „So komm! Dass wir das Offene schauen, / Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist“ – dieser Wunsch blieb ihm ewig versagt, zumal mit Susette. Sein Freund Sinclair, der inzwischen Hessen-Homburger Regierungschef geworden war, verschafft ihm 1804 eine Stelle als Hofbibliothekar; das Gehalt zahlt Sinclair aus eigener Tasche. Für den Homburger Landgrafen Friedrich V. entstand unter anderem der Gesang „Patmos“. Doch er spürt offenbar, dass sich sein Leben wandeln wird, und schleudert „Hälfte des Lebens“ aufs Papier, die laut Rüdiger Görner „wohl am intensivsten interpretierten vierzehn Zeilen deutschsprachiger Lyrik“. Das Gedicht wurde vielfach vertont und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Das Gedicht im Taschenbuch für das Jahr 1805. Quelle: Von Friedrich Hölderlin – hoelderlin.de, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3351330

Als Sinclair 1805 wegen Hochverrats verhaftet und auch gegen den angeblich verwickelten „württembergischen Untertanen“ Hölderlin ermittelt wurde, bricht der seit der Jahrhundertwende als Hypochonder eingeschätzte Dichter zusammen. Zwar verlaufen die Vorwürfe im Sand, doch ein Gutachten eines Homburger Arztes vom April 1805 besagt, Hölderlin sei zerrüttet und sein Wahnsinn in Raserei übergegangen. Im August 1806 schrieb Sinclair an Hölderlins Mutter, er könne für seinen Freund nicht mehr sorgen.

Am 11. September 1806 wurde Hölderlin mit Gewalt von Homburg nach Tübingen ins Universitätsklinikum gebracht und galt von diesem Zeitpunkt an seinen Zeitgenossen als wahnsinnig. Nach einer 231-tägigen Zwangsbehandlung, mit deren Durchführung der Medizinstudent und spätere Dichter Justinus Kerner beauftragt wurde, folgte dann im Mai 1807 der Umzug ins Turmstübchen der Tischlerfamilie Zimmer, die vor allem seinen „Hyperion“ bewunderte. Hier lebte er bis zum 7. Juni 1843 – übrigens auch das Todesjahr Jakob Friedrich Gontards, der nicht wieder heiratete und 41 Jahre Witwer blieb. Von einem „vollständigen Rückzug auf die eigene, verworrene Innenwelt“ weiß sein Biograph Martin Glaubrecht.

„bis an die Grenzen der sagbaren Welt“

Hölderlin schrieb noch gelegentlich, spielte Klavier und genoss die Besuche des ihn verehrenden Dichters Wilhelm Waiblinger. Dem ist auch die erste romantische Stilisierung des kranken Hölderlin zu verdanken. Als Wahnsinniger tritt er in Eduard Mörikes Roman „Maler Nolten“ auf, als wahnsinniger „Freund Holder“ in Justinus Kerners „Reiseschatten“. 1826 erfolgte die Publikation einer ersten Werksammlung durch Gustav Schwab und Ludwig Uhland, jedoch ohne direkte Mitwirkung Hölderlins an der Herausgabe.

Zwischen 1829 und 1837 wurde der Dichter als „Tübinger Attraktion“ zunehmend Opfer zahlreicher, von ihm nicht selten als störend empfundener Besuche von Fremden und Reisenden. Insbesondere diesen Fremden gegenüber verhielt er sich oftmals sehr befremdlich und in geradezu schauspielerischer Weise „verrückt“. In einem Gedichtfragment heißt es: „Ach! wehe mir! / Es waren schöne Tage. Aber / Traurige Dämmerung folgte nachher“. Hölderlins Werk wurde von der zweiten Generation der Romantiker (Brentano, Schwab, Uhland) geliebt, geriet im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts aber mehr und mehr in Vergessenheit. Erst um die Jahrhundertwende besann man sich im Umkreis Stefan Georges – in eher mystifizierender Weise – auf den „großen Seher für sein volk“ (George); aber auch Nietzsche hatte ihn hoch geschätzt.

Hölderlin-Turm. Quelle: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/Der-Hoelderlinturm-am-Tuebinger-Neckar,1562592039140,bildergalerie-tuebingen-hoelderlin-100~v-16×9@2dL-6c42aff4e68b43c7868c3240d3ebfa29867457da.jpg

Abseits einer eher konservativen Hölderlin-Rezeption – die Ode „Der Tod fürs Vaterland“ war während der beiden Weltkriege besonders populär – haben sich auch dezidiert Linke wie Georg Lukács und Peter Weiss oder Anarchisten wie Gustav Landauer mit ihm befasst. In der neueren deutschen Lyrik finden sich viele Beispiele einer produktiven Auseinandersetzung, so die mittlerweile zu modernen Klassikern gewordenen Gedichte „Latrine“ von Günter Eich, „Variation auf ‚Gesang des Deutschen‘ von Friedrich Hölderlin“ von Peter Rühmkorf, „Hölderlin in Tübingen“ von Johannes Bobrowski und „Tübingen, Jänner“ von Paul Celan. Obwohl Hölderlins hymnischer Stil in der deutschen Literatur einmalig geblieben ist, hat seine prägnante und häufig fragmentarische Lyrik auch Heym, Trakl oder Bachmann beeinflusst. Brechts Bearbeitung der „Antigone“ des Sophokles beruht auf Hölderlins Übertragung.

Bis heute frappieren an diesem ruhelosen Sucher vor allem zwei Dinge. Zum einen der Versuch, die Antike als Ideenlabor für die Vision und Verkündigung einer umfassenden Erneuerung der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, ästhetischen und künstlerischen Verhältnisse zu benutzen. Angesteckt von den Idealen der Französischen Revolution träumt er von einer Zukunft ohne Staatlichkeit, ohne Unterdrückung und Bevormundung. Zum anderen die Wucht und Geschmeidigkeit der oft kaskadenhaft rhythmisierten rauschenden Sprache bis ins Textbild hinein. Einen „herzwilden, daseinsfrommen Klang“ erkennt Demmelhuber und das „Gefühl, als gehe es in jeder Zeile, mit jedem Wort um Leben und Tod, um absolut alles, um einen kühnen Aufbruch bis an die Grenzen der sagbaren Welt und darüber hinaus.“ Für diesen Aufbruch sollten wir, die offenbar nicht mehr aufbrechen können und wollen, dem posthum vielfach geehrten Genius heute noch dankbar sein.

Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) bekam sich in seinen Erinnerungen kaum ein: „Bei der Lektüre der Selbstbetrachtungen des Mark Aurel hatte ich jedoch zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses Buch ein für mein weiteres Leben richtungsweisendes Buch werden würde. Meine unmittelbare Empfindung war: So will ich auch werden. Einige Jahre später habe ich das Buch mit in den Krieg genommen. Vor allem die beiden Tugenden, die Mark Aurel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt, sprachen mich auf der Stelle an: die innere Gelassenheit und die bedingungslose Pflichterfüllung. Wobei ich damals allerdings noch nicht so weit war, zwischen dem Prinzip der Pflichterfüllung und der Pflicht selbst zu unterscheiden.“ Der so Gewürdigte starb am 17. März 180 gerade 58jährig in Vindobona (Wien) an einer Seuche.

Er war zwei Jahrzehnte zuvor Kaiser geworden – wie seine Amtsvorgänger durch Adoption. In den knapp zwanzig Jahren seiner Herrschaft hat er manches wieder eingeführt, was seine Vorgänger abgeschafft hatten, etwa die Sklavenfolter. Er nahm die Christenverfolgung wieder auf und begann nach fünfzig Friedensjahren, zur Festigung des Reiches erneut massiv Kriege zu führen. Seine wichtigste Aufgabe sah er in der Abwehr der Barbaren im Nordosten und in Kleinasien. So verbrachte Mark Aurel sein letztes Lebensjahrzehnt vorwiegend im Feldlager und verfasste hier die „Selbstbetrachtungen“, die ihn der Nachwelt als Philosophenkaiser überliefert haben und von manchen der Weltliteratur zugerechnet werden.

Mark Aurel. Quelle: Bibi Saint-Pol, own work, 2007-02-08, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84488018

Geboren wurde Marcus Aelius Aurelius Verus am 26. April 121 in Rom, wo er eine behütete Kindheit verbrachte. Seine beiden Großväter waren Konsuln, die Schwester seines Vaters war mit Kaiser Antoninus Pius verheiratet. Als er acht Jahre alt war, starb sein Vater. Der junge, wahrheitsliebende und sehr ernsthafte Marc Aurel fiel bereits Kaiser Hadrian auf, der seine Erziehung überwachte und ihn unterrichten ließ. In Rhetorik etwa von Marcus Cornelius Fronto, mit dem er einen regen, teilweise erhaltenen  Briefwechsel führte. Unter seinen Lehrern war auch Junius Rusticus, der ihn mit der stoischen Philosophie bekannt machte. Seitdem lebte Marc Aurel nach dieser Lehre, nächtigte schon als Zwölfjähriger auf unbequemer Bretterunterlage, nur durch ein von der Mutter noch mit Mühe verordnetes Tierfell gepolstert.

Sicherer Blick für Stellenbesetzungen

136 wurde er von Hadrian adoptiert und als sein Nachfolger vorgesehen. Zwei Jahre später, nach Hadrians Tod, begann der zum Kaiser erhobene Antoninus Pius schon bald, einen Teil seiner Aufgaben an den 17jährigen abzugeben. Bereits im Jahr darauf wurde Marc Aurel Caesar, 140 Konsul. Nach einer ersten, wieder gelösten Verlobung heiratete er 145 Faustina, die Tochter des Kaisers. Aus dieser Ehe gingen insgesamt 13 Kinder hervor, die in der Mehrzahl allerdings noch im Kindesalter starben. Durch die Adoptivverbindung war Kaiser Antonius zugleich Schwiegervater und Adoptivvater. Er war ihm ein Vorbild als Herrscher, Marc Aurel bewunderte hauptsächlich seine Mildtätigkeit gegenüber dem Volk und seine Ausdauer, aber auch seine Haltung gegenüber der Masse, aus der er sich nicht prunkhaft heraushob.

Im Jahr 146 wurden ihm die tribunizische Amtsgewalt und die Befehlsgewalt über die Grenzlegionen verliehen. Bis zum Antritt der eigenen Herrschaft 161 konnte er sich umfassend auf die Anforderungen des Amtes einstellen, sich in die Verwaltungsstrukturen des Römischen Reiches einarbeiten und alle wichtigen Bewerber und Inhaber einflussreicher Ämter kennenlernen. Er erlangte dabei angeblich einen so sicheren Blick für die menschliche und aufgabenbezogene Eignung der Amtsträger und Postenkandidaten, dass Antoninus Pius sich schließlich in allen Stellenbesetzungsfragen auf das Urteil des Marcus gestützt haben soll.

Auf Drängen Marc Aurels erhielt auch sein Adoptivbruder Lucius vom Senat die Titel  ‚Caesar‘ und ‚Augustus‘ verliehen. Da auch die Prätorianer nichts gegen eine Doppelherrschaft einzuwenden hatten, wurden Marc Aurel und Lucius Verus gemeinsam zum Imperator ausgerufen. Unter den beiden Herrschern behielt Marc Aurel die Führungsposition. Mit der Ernennung von Lucius Verus, der 164 auch noch sein Schwiegersohn wurde, hatte er die Möglichkeit einer späteren Usurpation verhindert und einen ergebenen Helfer bei seinen Regierungsgeschäften gewonnen, zumal als Leiter wichtiger Militäroperationen: Durch die lange kampflose Zeit hatte das römische Heer an Schlag- und Widerstandskraft verloren. Beide standen einer im Vergleich zu den vorhergehenden Friedensjahrzehnten veränderten Situation gegenüber, als 162 – 166 die Parther die Ostgrenze des Römischen Reiches in Frage stellten und von 168 an die Germanen im Donauraum die Nordgrenze – die „Markomannenkriege“ dauerten über Marc Aurels Tod hinaus.

Mark und sein Sohn Commodus ziehen mit gefangen genommenen Quaden und Markomannen in Vindobona ein. Quelle: [http://www.bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=14822714 ÖNB, Bildarchiv Austria, Pk 783a, 10]

Innere Belastungen ergaben sich aus einer verheerenden Tiberüberschwemmung bereits in der Anfangsphase der Regierungszeit Mark Aurels und aus einer Pestepidemie, der sog. „Antoninischen Pest“, die an 166 nahezu das ganze Römische Reich, auch die dicht besiedelte Hauptstadt Rom heimsuchte und über 24 Jahre wütete. Allerdings handelte es sich bei der Seuche nach neueren Forschungen nicht um die Pest im medizinischen Sinne, sondern um einen besonders virulenten Stamm entweder der Pocken oder der Masern. Lucius Verus fiel ihr 169 zum Opfer, auch Marc Aurels Tod selbst könnte auf sie zurückzuführen sein.

Stärkung der Benachteiligten

In seine Regierungszeit fielen erste Anzeichen einer aufkommenden Krise des Römischen Reiches. Von seiner Glanzzeit hatte nur die schmale Oberschicht, das heißt rund 1% der 60 Millionen umfassenden Gesamtbevölkerung, tatsächlich profitiert: Senatoren, Ritter, lokale und provinziale Eliten (Dekurionen) und Beamte, die an das Kaisertum gebunden waren. Ein sozialer Aufstieg war nur beim Militär möglich, eine Mittelschicht gab es nicht. Große Bevölkerungsgruppen wie etwa die Landbewohner (plebs rustica) profitierten wenig oder gar nicht von der wirtschaftlichen Blüte, ganze Landstriche waren verarmt.

Sein Regierungshandeln konzentrierte Mark Aurel auf die inneren Strukturen des Römischen Reiches, vor allem auf die Situation der Schwachen und Benachteiligten wie  Sklaven, Frauen und Kindern. Mehr als die Hälfte seiner überlieferten Gesetzgebungsakte zielten auf die Verbesserung der Rechtsstellung und die Freiheitsfähigkeit dieser Bevölkerungsgruppen. In gleicher Richtung hat er auch als oberstes Rechtsprechungsorgan des Reiches gewirkt: er erhöhte die Anzahl der Gerichtstage pro Jahr auf 230 Tage für Verhandlungen und Schlichtungstermine. Als er gegen die Germanen ins Feld zog, setzte er seine richterliche Tätigkeit vor Ort fort; die Prozessbeteiligten musste zur Verhandlung im Feldlager anreisen.

Mit dem Ausbleiben größerer Kriege ging auch die Zahl der Sklaven zurück, so dass es vielen Landgütern an Arbeitskräften fehlte und weniger Steuereinnahmen zu verzeichnen waren. Andererseits wurde die Staatskasse durch die hohen Ausgaben für die Erstellung von Repräsentationsbauten belastet sowie durch das Gewohnheitsrecht, die „plebs urbana“, die Bevölkerung der Stadt Rom, mit Getreidelieferungen und Lustbarkeiten (panem et circensis) zu versorgen. Der Import von Luxusprodukten aus dem Fernen Osten wie Seide, Glas oder Delikatessen musste mit Edelmetall bezahlt werden und bildete einen ständigen Verlustposten. Die ökonomischen Probleme wurden noch vergrößert durch Zahlungen, die Marc Aurel aus seiner Privatkasse – er hatte persönliche Einnahmen aus seinen Domänen, Bergwerken und Steinbrüchen – an die Bevölkerung leistete sowie durch Schuldenerlass. Die Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung lag hauptsächlich darin, dass die Erzeugung von Verbrauchsgütern mit den steigenden Bedürfnissen der sich ständig vermehrende Bevölkerung nicht Schritt hielt – eine konsequente staatliche Wirtschaftspolitik gab es nicht.

Mark Aurels originale Reiterstatue, heute im Hof des Konservatorenpalastes der Kapitolinischen Museen. Quelle: MatthiasKabel – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6737797

Allerdings wird dem Kaiser auch Zurückhaltung in der eigenen Lebensführung nachgesagt, zur Kriegsfinanzierung leistete er seinen Beitrag, indem er eine Vielzahl wertvoller Gegenstände aus kaiserlichen Besitzständen versteigern ließ. Außerdem lehnte er Siegprämien als Sonderzahlung für Soldaten mit dem Hinweis darauf ab, dass solche Zahlungen den Eltern und Verwandten der Legionäre abgepresst werden müssten.

„Was weint ihr um mich?“

Nachdem sich der syrische Statthalter Avidius Cassius zum Kaiser proklamiert hatte und sich Marc Aurel nicht unterwerfen wollte, musste der gegen seinen ehemaligen General marschieren. Zu einem Bürgerkrieg kam es nicht, da Cassius von zwei Männern aus den eigenen Reihen erschlagen und sein Kopf an den Kaiser gesandt wurde. Der weigerte sich ihn anzusehen, ordnete die Bestattung an und bedauerte den Tod des fähigen Feldherrn. Zugleich ließ er seinen Sohn Commodus aus Rom kommen, erhob ihn zum seinem designierten Nachfolger (princeps iuventutis) und reiste über Athen zurück, wo er für die vier großen, traditionsreichen Philosophenschulen – die Platonische Akademie, das Aristotelische Lykeion, die Stoa und den Epikureismus – je einen Lehrstuhl stiftete. Auf dieser Reise starb Mark Aurels Ehefrau Faustina im Alter von 46 Jahren, der man Untreue gegenüber ihrem Gatten nachsagte. 177 machte er Commodus dann zum gleichberechtigten Mitkaiser (Augustus). Der sollte keine gute Entwicklung nehmen: er liebte Gladiatorenkämpfe und trat auch selbst im Kolosseum auf, vornehmlich als Herkules, worüber man gerne spottete. Der schrankenlose Autokratie wollte wie ein Gott verehrt werden, litt unter Größenwahn und wurde später erdrosselt.

Obwohl sich die spätere christliche Überlieferung insgesamt dem positiven Urteil über den Kaiser anschloss, kam es in der Regierungszeit Mark Aurels zu den härtesten Christenverfolgungen seit Nero. So erließen Kaiser und Senat 177 in Gallien ein Dekret, wonach zum Tode verurteilte Verbrecher künftig zu Billigpreisen als Gladiatoren in der Arena eingesetzt werden durften. In Lugdunum (Lyon) machten sich daraufhin Teile der Bevölkerung daran, Christen aufzuspüren und sie im Zusammenwirken mit den örtlichen Zuständigen aburteilen zu lassen, sofern sie ihrem Bekenntnis nicht abschworen: seit Trajan erlitt die Todesstrafe, wer sich öffentlich zum Christentum bekannte. Als deutliche Verschärfung gegenüber der trajanischen Praxis hat allerdings zu gelten, dass Mark Aurel gestattete, aktiv nach Christen zu fahnden, statt nur auf private Anzeigen zu reagieren.

Markomannenkriege: Mark Aurel begnadigt Germanenhäuptlinge. Quelle: Tetraktys, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4584819

178 brachen Mark Aurel und Commodus zum zweiten Markomannenkrieg auf. Auf diesem Feldzug, auf dem zugleich die „Selbstbetrachtungen“ entstanden, starb der Kaiser dann zwei Jahre später in Vindobona, nach Tertullian auch im Lager Bononia bei Sirmium. Seinen Sohn mahnte er angeblich, den Feldzug bis zum Sieg fortzusetzen, verweigerte dann, um das eigene Ende zu beschleunigen, das Essen und Trinken und verschied bald darauf. Seinen klagenden Freunden soll er der Überlieferung nach entgegnet haben: „Was weint ihr um mich? Weint um die Pest und das Sterbenmüssen aller!“ Sein Leichnam wurde in Rom verbrannt, seine Asche im Mausoleum Kaiser Hadrians, der späteren Engelsburg, beigesetzt. Ihm zu Ehren ließ der Senat eine Ehrensäule, die Mark-Aurel-Säule, errichten, die heute auf der Piazza Colonna steht. Die bekannteste Darstellung des Philosophenkaisers ist sein bronzenes Reiterstandbild auf der Piazza del Campidoglio, das seit der Einführung des Euro auf der 50-Cent-Münze der italienischen Version dieser Währung abgebildet ist.

vernunftgeleitetes Menschenbild

Laut dem Historiker Cassius Dio, einem Zeitgenossen, hat Mark Aurel als Kaiser besser geherrscht als irgendjemand sonst in einer vergleichbaren Machtstellung, nach seinem  Tod habe der Abstieg in ein Zeitalter von „Eisen und Rost“ begonnen. Als charakteristische Eigenschaften wurden ihm in der Historia Augusta aus dem 4. Jahrhundert – die aber eher auf ein erzieherisches Musterbeispiel als auf historische Wirklichkeitstreue deute – Mäßigung, Gleichmut, Selbstbeherrschung und Verantwortung zugeschrieben. Für Niccolò Machiavelli sei er zu Lebzeiten wie auch nach dem Tod hoch verehrt worden, weil er die Herrschaft als rechtmäßiger Erbe angetreten habe, sie also weder den Soldaten noch dem Volk zu verdanken hatte, und darum beide zu zügeln in der Lage gewesen sei, ohne sich je Hass oder Verachtung zuzuziehen. Neben Helmut Schmidt beriefen sich auch Friedrich II., Anton Tschechow oder der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky auf seine Ideale.

Die oft aphoristischen, auf Altgriechisch verfassten Selbstbetrachtungen, die des Kaisers Weltbild im Selbstdialog für die eigene Orientierung, Selbstvergewisserung und Lebenspraxis offenbaren, zeigen, dass für sein Denken und Handeln die Einordnung in und die Übereinstimmung mit der „Allnatur“ leitend waren – „Verkaisere nicht!“ lautet das Ruf: „Hüte dich, dass du nicht ein tyrannischer Kaiser wirst! […] Ringe danach, dass du der Mann bleibest, zu dem dich die Philosophie bilden wollte.“ Zu überzeugen und das Vernünftige und Gerechte auch gegen Widerstände durchzusetzen, sah er einerseits als seine Aufgabe; wo ihn aber gewaltsamer Widerstand am Vollzug hinderte, galt es die Gelegenheit zur Einübung einer anderen Tugend zu nutzen: der unbekümmerten Gelassenheit. Denn ohne sie, ohne die Übereinstimmung mit dem eigenen Schicksal, kann der Stoiker sein höchstes Ziel, das Glück der Seelenruhe, nicht erreichen.

Selbstbetrachtungen, hier aus dem Europäischen Literaturverlag. Quelle: https://www.buecher.de/shop/marc-aurel/selbstbetrachtungen/-/products_products/detail/prod_id/49718008/

Den Weg dahin kann nur der leitende Teil der Seele bahnen – das Hegemonikon, mit dem es ständig zu prüfen gilt, worauf es wirklich ankommt, was zu tun und was als unnötig oder überflüssig zu lassen ist. Dabei war sich Mark Aurel bewusst, dass die Fülle der Bedingtheiten aller Daseinsumstände dem eigenen Erkennen nicht restlos erschlossen werden kann und dass es in dem den Menschen umgebenden Wirkungsgefüge Zufälle gibt, die für das Individuum nicht vorhersehbar sind: „Versuche, die Menschen zu überzeugen, handle aber auch gegen ihren Willen, wenn der Geist der Gerechtigkeit es so verfügt.“ Als Mensch und Philosoph ist ihm die Vorstellung eines elitär geführten Staat sympathisch, „in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Bürger achtet.“

Ob es einen eigenständigen Beitrag Mark Aurels zur Philosophie gibt und worin der besteht, ist in der Forschung umstritten: „Die Größe des Kaisers liegt nicht darin, Neues oder Eigenes gelehrt zu haben, sondern darin, dass er sich den Lehren der Philosophie zeit seines Lebens offen gehalten, sich ihnen auch als Herrscher verpflichtet gefühlt und sie deshalb ständig ins Gedächtnis gerufen hat“, heißt es bei Joachim Dalfen. Seine oft ambivalente Rhetorik, sein eher unorthodoxes, ja naturhaftes Religions- und Gottverständnis sowie sein mehrschichtiges, vernunftgeleitetes Menschenbild lassen ihn irgendwie zeitlos wirken. Alexander Demandts Fazit lautet: „Zum Thema Philosophie gibt’s Bücher wie noch nie. Zum Thema Weisheit ist Fehlanzeige seit Marc Aurel.“

Was für ein Skandal: „um unsere Sicherheit und Freiheit von den Apartheid- Muslimen des real existierenden Islam zurückzuerobern“, rief die Ex-DDR-Bürgerrechtlerin Angelika Barbe im Juni 2018 zu einem AfD-Frauenmarsch in Berlin auf. Ihr Aufruf stand unter dem Motto „Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen“. Es war in den Nachrevolutionsjahren der „Frauen-Zeitung“ vorangestellt, die von einer Ikone der Frauenbewegung begründet und herausgegeben wurde: der Sächsin Louise Otto-Peters, die am 13. März 1895 in Leipzig starb.

Das sei einseitig, kulturchauvinistisch, ja rassistisch, beeilte sich der Vorstand der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. mitzuteilen, die vom Referat für Gleichstellung von Frau und Mann der SPD-regierten Stadt Leipzig gefördert wird. Es ginge zwar um einen gesellschaftspolitischen Kampf, aber keinen „gegen das vermeintlich Fremde“. Denn „Worte sind niemals wertfrei“ schob der Vorstand gar unter Rückgriff auf Victor Klemperer nach. Das Statement zeugt vom wütenden Protest gegen die vermeintlich rechte Vereinnahmung einer Linken – zu deren Lebzeiten diese politische Kategorie noch gar nicht auf der Agenda stand.

L. Otto-Peters. Quelle: https://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauenbewegung/35309/louise-otto-peters

Denn Otto-Peters, die laut Klara Zetkin auch „eine Gefangene ihrer Klasse” blieb, trieb etwa anderes um: als der spätere Revolutionär Robert Blum fragte, ob Frauen das Recht hätten, sich an Politik zu beteiligen, antwortete Louise in einem vielbeachteten Leserbrief prompt „Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht allein ein Recht, sie ist eine Pflicht der Frauen.“ Dabei war sie überzeugt, dass Frauen nur dann freie Menschen sein und ihre Rechte durchsetzen könnten, wenn sie wirtschaftlich auf eigenen Füßen stünden. Sie sollten „nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet“ sein, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen: „„Jeder Emancipationsversuch, der auf einer andern Basis ruht, ist – Schwindel.“

„Lerche des Völkerfrühlings“

Ihr Engagement war ihr ganz und gar nicht in die Wiege gelegt: als jüngste Tochter eines Gerichtsdirektors gehörte sie zum gebildeten Mittelstand. Am 26. März 1819 wurde sie als Louise Otto in Meißen geboren und erhielt nach einer Biographin schon früh Zugang zu Literatur und Geschichte: „Sie saß noch auf dem Schoß der Mutter, als diese ihr schon aus Schillers Werken vorlas oder ihr von den griechischen Freiheitskämpfern erzählte.“ Als sie älter wurde, brachte man sie in Kontakt mit den Werken des „Jungen Deutschlands“. Für Mädchen ihrer Zeit war der Schulbesuch nur bis zur Konfirmation möglich. Diese Zurücksetzung ihres Geschlechts empfand sie früh als Unrecht und ließ die Konfirmation ein Jahr hinausschieben, um länger lernen zu können. Ihre Eltern starben kurz nacheinander an Tuberkulose, als sie 16 Jahre alt war; 22jährig verlor sie auch ihren Verlobten. Die Werbung eines reichen Adligen schlug sie aus.

Durch ihr Erbe zunächst finanziell abgesichert, wandte sie sich früh dem Schreiben zu und verfasst zuerst Gedichte, die im Meißner gemeinnützigen Wochenblatt gedruckt wurden. Ein Aufenthalt bei einem Schwager 1840 in Oederan, der eine Weberei besitzt, konfrontiert sie mit dem Elend der Fabrikarbeiter. Ihr Mitleid und ihre Empörung ob dieser Ausbeutung lässt sie Partei ergreifen: „Ich blickte entsetzt in einen Abgrund. Lange bevor ich etwas von Socialismus und Communismus gehört und gelesen, stellte ich die Frage: warum denn die Einen in Unwissenheit, Armuth und Entbehrung dahin leben müßten und die Andern sie dafür noch verachten dürften, ja von ihrer Arbeit den eignen Mammon mehren dürften.“ Ihr Gedicht „Die Klöpplerinnen“ erscheint im Oederaner Stadtanzeiger und löst wegen seines sozialkritischen Inhalts Empörung aus.

Otto-Peters erster Roman. Quelle: https://books.google.de/books?id=K3RDAQAAMAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Für alle Biographen liegt in dem Erlebnis der Schlüssel zu ihrem politischen Engagement. „Ich habe jetzt ein Ziel, einen Lebenszweck: die literarische Laufbahn. Ich strebe nicht nach Ruhm und Ehre, aber nach Einfluss aufs Ganze“, schrieb sie 1843 in ihr Tagebuch und trat seitdem mit Romanen und journalistischen Beiträgen an die Öffentlichkeit. Ihr erster Roman hieß „Ludwig der Kellner“, insgesamt wird sie, teilweise unter dem Pseudonym Otto Stern, 60 Bücher veröffentlichen, darunter 28 meist mehrteilige Romane, aber auch Erzählungen, Novellen, historische Reflexionen, Streitschriften und Essays, dazu unzählige publizistische Texte. In allen Arbeiten warf sie zwei Forderungen mit großem Nachdruck immer wieder auf: Erstens, die Arbeitswelt für Frauen zu öffnen und zweitens, die Lebensbedingungen für Frauen zu verbessern.

Bereits 1846 kam ihr bedeutendster sozialkritischer Prosatext „Schloss und Fabrik“ heraus, in dem sie die bittere Not der Industriearbeiter und deren Aufbegehren beschrieb und der zu den wichtigsten Romanen des Vormärz zählt. Er konnte zunächst nur zensiert erscheinen und durfte erst nach einer Audienz beim sächsischen Innenminister Freiherr von Falkenstein und der Veränderung der verbotenen Stellen veröffentlicht werden. Ihre 1847 erschienene Gedichtsammlung „Lieder eines deutschen Mädchens“ trug ihr den Namen „Lerche des Völkerfrühlings“ ein.

„Mitwirkung zum Umsturze“

1848 produzierte sie einen kleinen Skandal mit der „Adresse eines Mädchens an den hochverehrten Minister Oberländer, an die von ihm berufene Arbeiterkommission und an alle Arbeiter“. Darin fordert sie von der bürgerlichen sächsischen Regierung, bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht zu vergessen und für die Kommission auch Frauen zu benennen – heute würde man von Frauenquote sprechen. In persönlichen Gesprächen mit Ministern wies Louise auf das Recht der Frauen auf Erwerbsarbeit und auf die dafür notwendige Kinderbetreuung hin. In dieser Zeit organisierte sie Versammlungen, unterstützte die Gründung von Dienstmädchenvereinen und empfing Abordnungen von Arbeitern.

Frauen-Zeitung. Quelle: https://frauenmediaturm.de/wp-content/uploads/2018/06/Frauenzeitung-480×640.jpg

Die Revolution begrüßte sie mit Begeisterung, doch bald war sie enttäuscht von den Kämpfern für Freiheit und Gleichheit: „Wo sie das Volk meinen, da zählen die Frauen nicht mit.“ Die Frauen müssten selbst ihre Rechte fordern, sonst würden sie vergessen – so Ottos Überzeugung. Deshalb gründete sie 1849 eine „Frauen-Zeitung“. Das verschärfte die Aufmerksamkeit der sächsischen Zensurbehörde: Hausdurchsuchungen und Verhöre folgten, 1851 wurden die von ihr mitbegründeten Dienstboten- und Arbeiterinnenvereine aufgrund des preußischen Vereinsgesetzes verboten.

„Insbesondere hat es das Blatt sich zur Aufgabe gestellt, auf das weibliche Geschlecht einzuwirken und es der Mitwirkung zum Umsturze geneigt zu machen, zu welchem Behufe auf die Notwendigkeit einer sogenannten Emancipation des weiblichen Geschlechts aufmerksam gemacht wird“, hieß es in einem Schreiben des sächsischen Innenministers. Als ultimativer Schlag aus Dresden galt die „Lex Otto“: das eigens dazu geänderte sächsische Pressegesetz untersagte Frauen die Herausgabe von Zeitungen. Otto wich mit der Redaktion nach Gera aus, bevor 1852 ein endgültiges Verbot durch ein ähnliches preußisches Gesetz erfolgte.

Seit der Revolution mit dem Publizisten August Peters bekannt, der eine Festungsstrafe absitzen muss, feierten beide 1852 im Gefängnis von Bruchsal Verlobung. 1858 heiraten sie und ließen sich zuerst in Freiberg, dann in Leipzig nieder. Hier sind beide maßgeblich an der Redaktion der seit 1861 sechsmal wöchentlich erscheinenden Mitteldeutschen Volks-Zeitung beteiligt – August hatte bereits das Erzgebirgische Industrie- und Familienblatt – Glück auf sowie den Leipziger Generalanzeiger gegründet. Louise leitet das Feuilleton der Volks-Zeitung und publiziert selbst zu Frauenthemen. Neben anderem verfasste sie den Text der Oper „Theodor Körner“, die der Komponist Wendelin Weißheimer eigens zum 50. Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig komponiert hatte.

Karrierehöhepunkt „Allgemeiner Deutscher Frauenverein“

Bereits 1864 stirbt ihr Mann, vermutlich an den Spätfolgen der Haft; die Ehe bleibt kinderlos. Im Jahr darauf, nach der Mitbegründung des Leipziger Frauenbildungsvereines mit ihr als Vorsitzende, erlebt sie im Oktober den Höhepunkt ihrer politischen Karriere. Auf der Gesamtdeutschen Frauenkonferenz in Leipzig gründet Otto-Peters zusammen mit Auguste Schmidt und Marie Löper-Houselle den „Allgemeinen Deutschen Frauenverein“ (ADF) und läutet damit den Beginn der organisierten deutschen Frauenbewegung ein. Die Ziele des Vereins sind insbesondere die Rechte der Frau auf Bildung, Erwerbsarbeit und Zugang zum Universitätsstudium. Otto-Peters wird Vorsitzende und tritt dafür ein, dass ausschließlich Frauen Mitglied im ADF werden können. Nach fünf Jahren hatte der Verein bereits um die 10.000 Mitglieder. Die Generalversammlungen wurden jährlich an verschiedenen Orten in Deutschland abgehalten. Aus ihnen gingen oftmals örtliche Vereinsgründungen hervor. Dadurch konnte ein deutschlandweites Netz aufgebaut werden, das 1889 schon mehr als 20 Mitgliedsvereine zählte.

ADF-Dokumente. Quelle: eigene Darstellung

Parallel zur Gründung kam das Vereinsorgan „Neue Bahnen“ heraus, ein Zweiwochenblatt, das Otto-Peters 30 Jahre lang als Mitherausgeberin verantworten sollte. 1866 erscheint ihre Schrift „Das Recht der Frauen auf Erwerb“. Erstmals leidet sie trotz weiterer produktiver Schriftstellerei an materiellen Sorgen: die Zeitungsgründungen ihres verstorbenes Mannes hinterließen Schulden. Belegt sind in den Jahren 1869, 1870 und 1874 bis 1876 jeweils Ehrengaben von 300 Mark von der Deutschen Schillerstiftung. 1869 vertrat sie den ADF mit einem Redebeitrag auf dem Philosophenkongress in Frankfurt. Darüber hinaus nahm sie an Schriftstellerkongressen teil und wurde 1874 Ehrenmitglied des Wiener Grillparzer-Vereins und 1892 des von ihr mitgegründeten Leipziger Schriftstellerinnen-Vereins.

Schon seit 1873 wollte sie das Amt der Vorsitzenden des Frauenvereins abgeben, jedoch erfolglos. Entgegen ihrer Überzeugung sah sie sich 1885 entsprechend der herrschenden Gesetzeslage gezwungen, auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung des ADF nicht nur seiner Umwandlung in eine Genossenschaft zuzustimmen, sondern auch beschließen zu lassen, dass verheiratete Frauen künftig nur noch mit Zustimmung ihres Ehemanns Mitglied werden durften. Volljährige unverheiratete Frauen konnten weiterhin selbstständig entscheiden.

„Führerin auf neuen Bahnen“

Ab Ende der 1880er Jahre ließen ihre Arbeiten nach, drei Jahre vor ihrem Tod legte sie das leitende Amt des Leipziger Frauenbildungsvereins nieder. 1894 übergab sie dann auch die meisten Aufgaben im ADF an Auguste Schmidt. In diesem Jahr allerdings kann sie noch einen großen Erfolg ihrer Arbeit erleben: bei der Eröffnung der ersten Gymnasialkurse für Mädchen in Leipzig hat sie zu Ostern ihren letzten öffentlichen Auftritt. Außerdem wurde sie bis zu ihrem Tod von einer Ärztin betreut, die mit einem Stipendium des AdF an einer Schweizer Universität ausgebildet worden war.

Lehnert-Denkmal. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Denkmal_Luise_Otto-Peters.JPG

Schon seit 1900 erinnert in Leipzig ein von Adolf Lehnert geschaffenes Denkmal an die „Führerin auf neuen Bahnen“. Am noch erhaltenen Geburtshaus in Meißen wurde aus Anlass ihres 100. Geburtstags 1919 eine Erinnerungstafel angebracht und in Leipzig per Notlösung eine Straße nach ihr benannt: In einem frisch eingemeindeten Ortsteil gab es eine Petersstraße, eine Sackgasse, deren Name ergänzt wurde. Auch in mehreren anderen sächsischen Städten tragen Straßen ihren Namen, ebenso Schulen und Pflegeheime. Als EMMA in ihrer ersten Ausgabe im Februar 1977 die Reihe „Unsere Schwestern von gestern“ startete, war sie die erste, die in dieser Serie über feministische Pionierinnen porträtiert wurde. Der Grund war einfach: Louise Otto-Peters „war zu Beginn der Neuen Frauenbewegung die einzige, deren Namen wir kannten“, erinnert sich Alice Schwarzer.

1993 schließlich wurde in Leipzig die Louise-Otto-Peters-Gesellschaft gegründet, die nicht nur Leben und Werk der Namensgeberin erforscht und in der Öffentlichkeit bekanntmacht, sondern seit 2015 auch einen frauenpolitischen Gedächtnispreis vergibt. Letzte Preisträgerin war die Rapperin Sookee, die in ihrer Musik unter anderem auf die „Wirkmächtigkeit von stereotypen Geschlechterrollen“ aufmerksam mache und Aktionen gegen das Castingformat Germany’s Next Topmodel unterstützt. Ihre Tracks klängen aber „häufig wie eine Vorlesung aus einem Soziologie-Grundstudium“, kritisiert Florian Reiter im Vice Magazin. Ob das die Namensgeberin gut gefunden hätte, darf bezweifelt werden.

„Schwarzfahren“ sei eine rassistische Metapher, ein sichtbarer Sarotti-Mohr bereits „Alltagsrassismus.“ Linksgrüne Umerziehungsversuche ideologisieren inzwischen selbst die Farbenlehre. Meine aktuelle „Tumult“-Kolumne.

Selbst sein Sterben könnte eine Szene aus einem seiner Filme sein. Nur wenige Minuten vor seinem Tod erzählte er der Krankenschwester, dass er gerade gerne Skifahren würde. Sie entgegnete, sie habe nicht gewusst, dass er Skifahrer sei. Er antwortete daraufhin: „Bin ich nicht – aber ich würde es lieber tun als das hier.“ Wenige Minuten später kam die Schwester zu ihm zurück und entdeckte, dass er friedlich im Sessel eingeschlafen war. So geschehen am 23. Februar 1965 nach einem Herzinfarkt im Alter von 74 Jahren im kalifornischen Santa Monica. Der Name des verhinderten Skifahrers: Arthur Stanley Jefferson. Als „Stan Laurel“ wurde der Komiker, Drehbuchautor, Regisseur und Produzent weltberühmt und gilt bis heute hinter Charlie Chaplin als weltweite Nr. 2 aller Filmclowns.

Wenigstens die Karriere war ihm in die Wiege gelegt: Seine Eltern arbeiteten beide am Theater – der Vater als Regisseur und Manager, die Mutter als Schauspielerin. Stan wird am 16. Juni 1890 im englischen Ulverston geboren und lebt, weil seine Eltern vielbeschäftigt waren, häufig bei seiner Großmutter. Bereits als Knirps konnte er gemeinsam mit einigen Schulkameraden die gesamte Nachbarschaft mit seiner Hobby-Theater-Truppe „Stanley Jefferson Amateur Dramatic Society“ begeistern. Im Alter von elf Jahren zog Stan mit seiner Familie nach Glasgow, wo er auf der Rutherglen Academy seinen Schulabschluss machte.

Stan Laurel. Quelle: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtagjunisechszehn-100~_v-gseapremiumxl.jpg

Sein Vater riet ihm aus Erfahrung zwar dazu, eine kaufmännische Ausbildung zu machen und einen Beruf in diesem Bereich zu ergreifen, doch Laurel zog es auf die Bretter, die auch für ihn die Welt bedeuteten. Als 15-Jähriger stellte Stan erneut ein kleines Bühnenprogramm zusammen. Als er es in der Music Hall vorstellte, war zufällig auch sein Vater anwesend, der immer noch die Hoffnung hatte, dass Stan in seine Fußstapfen treten würde. Nachdem er merkte, welche Talente in seinem Sohn schlummerten und welche enorme Wirkung das Programm auf das begeisterte Publikum hatte, wollte er Stan den Weg zur Schauspielerei nicht mehr verstellen. Sein Bühnendebüt gab Stan 16-jährig am „Pickard‘s Museum“ in Glasgow. Weitere professionelle Auftritte hatte er dann zwei Spielzeiten lang als Alleinunterhalter bei der Pantomimen-Truppe „Levy and Cardwell‘s Juvenile Pantomimes“, wo er zeitweise auch unter seinem Vater arbeitete.

Zwischen Slapstick und Pathos

Mit seinem Solo-Programm wurde er von dem berühmten Theaterproduzenten und Tourneeveranstalter Fred Karno entdeckt, der schon mit Charlie Chaplin gutes Geld verdient hatte. Eines Tages lehnte Chaplin eine Hauptrolle ab, die dann Stan Laurel übernahm. Ein Zwischenfall, der in der Zukunft noch weitere Male eintreffen sollte: Stan Laurel als Ersatzmann für den großen Chaplin. Die beiden teilten sich häufig sogar ein Hotelzimmer. Nachdem die Karno-Truppe 1910 erstmals durch die USA tourte, führte der Weg 1912 wieder nach Amerika und erwies sich für beide als zukunftsweisend: Chaplin wurde von Hollywood wegengagiert, Karno geriet wegen platzender Verträge und Flops durch schnell zusammengeschusterte Shows in große Schwierigkeiten, und plötzlich stand auch Stan auf der Straße.

Er blieb in den USA und gründete mit dem Ehepaar Alice und Baldwin Cooke – letzterer übernahm später kleine Rollen in 25 Laurel-und-Hardy-Filmen – zwischen 1916 und 1918 das „Stan Jefferson Trio“, mit dem er immerhin Achtungserfolge erzielte. Das leichte Leben fand ein jähes Ende, als die australische Schauspielerin Mae Charlotte Dahlberg 1918 den Weg des ausgelassenen Trios kreuzte. Stan verliebte sich Hals über Kopf, konnte Mae aber nicht heiraten, da diese bereits in Australien einen Mann hatte, der in eine Scheidung nicht einwilligte. Sie war es, die den Künstlernamen „Stan Laurel“ (= Lorbeer) auswählte, und so war der Weg zum Film eigentlich nur noch eine Frage der Zeit.

Laurel mit Mae. Quelle: https://de.findagrave.com/memorial/29443759/mae-dahlberg#view-photo=154231198

In dem mäßigen Debüt „Nuts In May“ spielt er einen Irren und wurde bei der Premiere von Carl Laemmle, dem „Universal“-Boss, vom Fleck weg für ein Jahr engagiert. Doch schon nach wenigen Filmen hatte Universal Probleme, kündigte Stans Vertrag und verpflichtete ihn nur ab und zu für einzelne Kurzkomödien. Das Glück wollte es, dass er bei einem solchen Engagement auf den Produzenten Hal Roach traf, mit dem er 1918 fünf Filme drehte, darunter auch an der Seite des Komikers Larry Semon, dessen Starallüren eine weitere Kooperation verhinderten. Einer dieser Streifen war „The Lucky Dog“, in dem er erstmals mit dem ehemaligen Filmvorführer Oliver Hardy vor der Kamera stand. Erwähnenswert ist noch die Persiflage „Schlamm und Sand“, die es auf den Rudolf-Valentino-Erfolg  „Blut und Sand“ abgesehen hatte. Der von Stan verkörperte Haupt-Charakter trägt den Namen Rhubarb Vaselino; solche Parodien liebte er.

Nach dem er 1923 wieder mit Hal Roach arbeitete, folgte 1924 und 1925 ein Dutzend Kurzfilme für den Produzenten und Regisseur Joe Rock, darunter „Dr. Pyckle and Mr. Pryde“. In diesen Jahren nagte Stan beinahe am Hungertuch und trug viele Streitigkeiten mit Mae aus – fand aber in „Get ‘Em Young“ und „On the Front Page“ endgültig zu seinem eigenen Stil, nachdem er vorher unschlüssig zwischen dem hektischen Slapstick eines Larry Semon und dem langsamen Pathos eines Harry Langdon hin- und hergependelt war.

Mae Laurel, die bis dahin mehrere Filmauftritte an Stans Seite absolviert hatte, tauchte in diesen Werken nicht mehr auf. Die dominante und charakterlich schwierige Künstlerin bestand darauf, in allen Filmen ihres Lebensgefährten mitzuwirken, obwohl sie beim Publikum nicht beliebt war. Stattdessen erhielt sie von Rock eine Abfindung unter der Bedingung, sich wieder nach Australien zurückzuziehen – was sie 1925 tat. 1926 dann traf Stan wieder auf Oliver Hardy, als er zum dritten Mal mit Roach kooperierte.

tiefe menschliche Tragik

Im selben Jahr heiratete er seine erste Frau; die Ehe hielt neun Jahre. In sozialer Hinsicht war ihm aber von Anbeginn kein Glück beschieden. Er hatte drei Brüder und eine Schwester, die eine gebrochene Familie bleiben sollten. Sein jüngster Bruder starb, kein Jahr alt, am plötzlichen Kindstod, sein ältester Bruder nahm sich später das Leben, der dritte kam an einer Überdosis Lachgas um, als er sich einer Zahnbehandlung unterzog. Zu allem Übel starb auch noch sein Sohn aus seiner ersten Ehe kurz nach der Geburt; Laurel ertränkte seinen Schmerz im Alkohol und wurde zum Trinker.

Laurel & Hardy. Quelle: http://www.tenri-kw.de/wp-content/uploads/2018/11/Publicity-with-Derby.jpg

„Wie es häufig der Fall ist, lag hinter den Auftritten des Komikers eine tiefe, menschliche Tragik. So war der Tod ein ständiger Begleiter und das machte ihm schwer zu schaffen“, meint der Blogger Michael Bürklin. Stan wird noch viermal heiraten, darunter zweimal dieselbe Frau. Außerdem hat er eine außereheliche Affäre mit der französischen Schauspielerin Alice Ardell, die drei Ehen überdauerte. Eine Tochter, wie der Sohn aus seiner ersten Ehe, wird sein einziges Kind bleiben.

Stan hat sich nie über sein Innenleben geäußert, er war geprägt vom Viktorianischen Zeitalter, also jemand, der seine Gefühle nicht ausstellt: „Es gibt da diese Aura von Einsamkeit, der immer um ihn liegt, auch von Unsicherheit. Er hat also lieber die falsche Frau geheiratet als alleine zu sein, er brauchte einfach eine Frau in seinem Leben“, erklärt der irische Biograph John Connolly. In künstlerischer Hinsicht dagegen zieht er mit dem zwei Jahre jüngeren Amerikaner Oliver Hardy das große Los. Dabei scheint es auch im Leben so gewesen zu sein, dass ihre Unterschiedlichkeit sie verbunden hat.

Oliver Hardy war der bessere Filmschauspieler, trotz seines Gewichts der bessere Tänzer zumal. Ein Heben der Augenbraue sagt bei ihm manchmal alles. Stan hingegen kam aus dem Vaudeville-Theater, er beherrschte die großen Gesten für die letzte Reihe. Aber er verstand die Mechanik der Komödie. Er schrieb tausende von Gags für ihre Filme, war der Kopf, der Denker, der Kreative, und zeichnete, im Abspann nie genannt, oftmals für Co-Regie, Drehbuch, Schnitt und Gags verantwortlich, während „Babe“ Hardy, im Wortsinne ganz Bauchmensch, der auch jähzornig sein konnte, sich ausschließlich als Schauspieler begriff. Dem Alkohol wiederum standen sie beide nahe.

„Stan und Ollie haben sich nie wegen des Geldes in die Haare gekriegt. Stan Laurel hat mehr Geld bekommen, weil er sich mit der Produktion und den Skripten und der Regie befasst hat. Oliver Hardy war in der Zeit lieber auf dem Golfplatz oder in Spielhallen unterwegs, er hat seinem Partner das Geld gegönnt. Stan Laurel wiederum ist sehr großzügig, wenn es um den Auftritt geht, er gönnt seinem Partner die besten Momente. Es gab da keinen Neid zwischen ihnen, sie haben sich vorbildlich verhalten“, meint Connolly. Ihre Zusammenarbeit währte nahezu drei Jahrzehnte und umspannte insgesamt 106 Filme, davon 79 Kurz- und 27 Langfilme. Eine unterstellte homosexuelle Neigung wird von allen Experten schon aufgrund der diversen Eheschließungen verneint. Ihre Freundschaft, die erst im Laufe der Jahre enger und vertrauter wurde, sei von tiefem Respekt füreinander geprägt, darin sind sich alle Anhänger und Experten einig.

Auch der Film selbst machte während ihrer Karriere enorme Entwicklungen durch. Üblicherweise wurden zu dieser Zeit die Filme auf 35mm-Material gedreht. Die Spulen enthielten jeweils ein Filmsegment für ca. 10 Minuten, daher kommt auch die Unterscheidung in Ein-, Zwei- oder Dreiakter, was einem 20- bzw. 30- Minuten Film entspricht. Gedreht wurde auf „Nitratfilm“ (Nitrocelluose, Celluloid), einem sehr feuergefährlichen Produkt. Aus dieser Sicht ist es sicher ein kleines Wunder, dass nur zwei Laurel & Hardy-Filme bis heute verschollen sind. Zu den erhaltenen Klassikern gehören u.a. „Die Sache mit der Hose“ (1929), „Unterschlagene Noten“ (1930), „Jene fernen Berge“ (1934) und „Wie du mir, so ich dir“ (1935). Viele Nebendarsteller wie Jean Harlow, Peter Cushing oder Robert Mitchum wurden später selbst Stars.

Der junge Mitchum mit Hardy. Quelle: https://conradbrunstrom.files.wordpress.com/2018/12/Mitchum.jpg

In Deutschland kennt man Laurel & Hardy unter dem abwertenden Namen „Dick & Doof“. Ihre Filme liefen bereits in den 1930er Jahren in den Kinos, selbst in der Zeit des Nationalsozialismus waren sie in den Kinos zu sehen, bis die Nationalsozialisten 1938 ein allgemeines Importverbot amerikanischer Filme verhängten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihre Filme wieder gezeigt und Laurel & Hardy nicht zuletzt dank der stetig zunehmenden Verbreitung des Fernsehens immer populärer.

Bald wurde der Kurz- vom Langspielfilm und zudem vom Tonfilm abgelöst. Roach passte sich der Zeit an, drehte mit Laurel und Hardy abendfüllende Kinoversionen, die aber wesentlich kostenaufwändiger waren, gleichzeitig den kreativen Freiraum einschränkten. Mit „Die Wüstensöhne“ (1933), „Die Sittenstrolche“ (1933), „Die Doppelgänger“ (1936), „Zwei ritten nach Texas“ (1937) und „Die Klotzköpfe“ (1938) lieferte das Duo Höhepunkte der klassischen US-amerikanischen Filmkomödie – bis sich Laurel aus künstlerischen Gründen mit dem Regisseur überwarf.

John McCabe, ein Laurel-und-Hardy-Biograph, gründete Anfang der 1960er-Jahre einen Fan-Club, der sich in Anlehnung an den gleichnamigen Film „Die Wüstensöhne“ nannte. Die Idee gefiel Stan so gut, dass er sogar das Statut schrieb und darin festlegte, dass die „Wüstensöhne“ sich nicht in Klubs versammeln, sondern in Zelten. Deshalb werden die lokalen Klubzentralen – mittlerweile rund 250 weltweit – als „Tent“ bezeichnet. Sitz des deutschen „Two Tars Tent“ ist das Laurel und Hardy Museum Solingen – eins von dreien weltweit und zugleich der einzige Ort, an dem noch Original-Kinofilme der Klamaukklassiker aufgeführt werden.

„Jeder ist einzigartig“

Ohne Roach litt ab 1940 die Qualität der Komik, die bei beiden sowieso ein Kapitel für sich war: schlicht, aber nicht einfältig: „Timing, Wiederholung, das Spiel mit Gegensätzen – all das haben die beiden perfekt beherrscht. Dass sie sich von zeitgenössischen und regionalen Anspielungen fernhielten, war dem Erfolg auch nur zuträglich. Wenn zwei Männer sich vergeblich darum bemühen, ein Klavier eine Treppe hochzubekommen, kann man darüber in Kairo oder Buenos Aires genauso lachen wie in Amerika“, sagt John C. Reilly, der 2018 den behäbigen Oliver Hardy in einem Biopic spielte, der FAZ. Naturalismus, Realismus und emotionale Wahrhaftigkeit, fasste er die Tugenden des Duos zusammen, das sich in den meisten Filmen vor Aufgaben gestellt sieht, deren Lösung dank der chaotischen Herangehensweise im Desaster endet und oft in die Zerstörung von Inventar mündet.

Die Hauptdarsteller Coogan und Reilly im Biopic. Quelle: https://www.theguardian.com/film/2016/jan/18/steve-coogan-john-c-reilly-laurel-and-hardy-biopic#img-1

Ein vertauschter Hut, eine wackelige Leiter reichten aus, um Alltag in Anarchie umschlagen zu lassen. So folgt in ihrem legendären Kurzfilm „The Battle of the Century“ auf eine sorglos weggeworfene Bananenschale ein exzessives Handgemenge, bei dem über 3000 Sahnetorten durch die Luft fliegen. Jedes Mal kristallisiert sich heraus, dass der den grinsenden dünnen Mann so gern herumkommandierende Dicke in Wahrheit gar nicht der Dominierende ist – sondern im Gegenteil der Dünne den Dicken ein ums andere Mal provoziert und ihm an Ende ins Auge sticht. „Für mich war die Botschaft ihrer Sketche immer: Egal, wie chaotisch, nervig oder anstrengend Menschen auch sein mögen, sind sie doch stets liebenswert. Jeder ist einzigartig und verdient Liebe und Würde“, beschreibt das Conolly.

Bei 20th Century Fox und MGM drehten sie dann bis 1945 insgesamt acht Spielfilme. Allerdings bekamen sie dort nicht den künstlerischen Freiraum, den sie von Roach gewohnt waren. Daher werden viele dieser Filme im Vergleich zu den Roach-Produktionen als schwächer angesehen. Der schlechteste Film ihrer Karriere war mit „Atoll K“ (1951, „Dick und Doof erben eine Insel“) in italienisch-französischer Produktion gleichzeitig ihr letzter gemeinsamer Leinwandauftritt. Andere Filmgesellschaften zeigten kein Interesse an den beiden Komikern, was zu ersten gemeinsamen Bühnenauftritten führte. Zwischen 1947 und 1954 absolvierten Laurel und Hardy einige Tourneen durch Europa und die USA.

Als sie 1955 vom Sohn ihres früheren Produzenten, Hal Roach jr., ein Angebot erhielten, für das Fernsehen zu arbeiten, willigten Laurel und Hardy begeistert ein. Geplant war eine Serie von ganzstündigen Sendungen mit dem Titel „Laurel & Hardy’s Fabulous Fables“. Für die damalige Zeit ungewöhnlich war, dass sie auf Farbfilm aufgezeichnet werden sollten. Wenige Tage vor Drehbeginn der ersten Folge erlitt Laurel jedoch einen leichten Schlaganfall, danach auch Hardy. Das Projekt wurde fallen gelassen.

„Als Oliver Hardy im Sterben lag, konnte er irgendwann nicht mehr sprechen“, erzählt Conolly. „Er war auch teilweise gelähmt. Und Stan Laurel hat verstanden, wie verzweifelt Oliver Hardy war. Wenn er ihn besucht hat, dann hat er selbst aufgehört, zu reden. Sie werden also plötzlich wieder zu den Stummfilmpersönlichkeiten, die sie einmal gewesen waren, sie kommunizieren mit ihren Augen und mit ihren Gesten, und das ist für mich ein außergewöhnlicher Akt der Zuneigung, sogar der Liebe, die dieser eine Mann dem anderen bewiesen hat.“ Hardy starb am 7. August 1957 und damit sicherlich auch ein Teil von Stan Laurel. Ihm wurde vom Arzt untersagt, an Ollies Beerdigung teilzunehmen. Später sagte Stan dazu: „Er war wie ein Bruder zu mir.“

Walk of Fame. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/19/Stella_Stan_Laurel_-Hollywood_Walk_of_Fame-_Agosto_2011.jpg

In den folgenden Jahren führte er ein finanziell halbwegs sorgenfreies, dennoch depressives Leben mit seiner fünften Frau in einem Hotel am Strand von L.A. und beantwortet jeden einzelnen Brief, den er bekommt. Auf dem Walk of Fame in Los Angeles wurde er 1960 mit einem Stern geehrt, außerdem trägt ein Asteroid seinen Namen. Bei der Verleihung des Ehrenoscars 1961 erscheint er nicht persönlich, obwohl es nur eine halbe Stunde bis zum Kino wäre: Ohne Olli will er öffentlich nicht mehr auftreten. Dies beschreibt auch Connolly: „Die Adresse seines kleinen Apartments in Santa Monica stand im Telefonbuch. Man konnte ihn anrufen und besuchen. Er hat dir einen Tee gekocht und wenn er dich mochte, sogar einen billigen Hut geschenkt. Er schrieb weiterhin jeden Tag Sketche für sich und Olli – die niemals aufgeführt werden würden, denn er lehnte es ab, jemals wieder ohne ihn zu arbeiten.“ Sein Tod war unter dieser Perspektive eine Erlösung. „Sein Genius in der Kunst des Humors brachte Freude in die Welt, die er liebte“, steht auf seinem Grabstein. Der Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung hat 2003 den Stummfilm „Der beleidigte Bläser“ aufgenommen.

Die Bewertungen der Erfurter Ministerpräsidentenwahl und ihrer Folgen schwanken zwischen „Demokratieabschaffung“, „rechtem Dammbruch“ und „politischer Posse“. Eine Sortierung in Form meiner aktuellen „Tumult“-Kolumne.

Elektrizität ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar kein neues Phänomen – aber ein ungelöstes Rätsel. Mit ihr befassen sich wissenschaftliche Bücher und Abhandlungen, vor allem aber ist sie eine Attraktion für Salons und Jahrmärkte: Elektrisiermaschinen sprühen Funken, Menschen lassen sich aufladen und geben sich elektrische Küsse. Elektrizität ist ein Spektakel, das die Phantasie des Publikums kitzelt. Ihre Kraft nutzen oder gar erklären, was hinter ihr steckt, kann man nicht. Dass sich das änderte, ist einem Italiener zu verdanken: Alessandro Volta.

Die bisher üblichen Elektrisier-Maschinen hatten zwar hohe Spannungen erzeugt, die sich aber in Sekundenbruchteilen entluden. Die „Volta-Säule“ dagegen produziert erstmals einen kontinuierlich fließenden elektrischen Strom über einen längeren Zeitraum. Erst damit werden Experimente möglich sein, die die Welt entscheidend verändern werden. Elektromagnetismus und Elektrodynamik, die Erfindung des Generators, des Elektromotors, der Glühbirne – das gesamte elektrische Zeitalter gründet auf Voltas Erfindung der Batterie als erster praktisch einsetzbarer Stromquelle. Am 18. Februar 1745 wurde er eines von insgesamt neun Kindern einer wohlhabenden und religiös geprägten Familie in Como geboren.

Die Karriere war dem Jesuitensohn nicht in die Wiege gelegt: Innerhalb zweier Generationen war er das einzige Familienmitglied, das kein kirchliches Amt bekleidete. Alle seine Onkel lebten im Dienst der katholischen Kirche, sechs Geschwister Voltas wurden ebenfalls Nonnen oder Priester. Auch sorgten sich seine Eltern um ihren Spross: selbst als Vierjähriger machte er noch keinerlei Anstalten zu reden. Doch die Sorgen waren letztlich unbegründet, zur Vorbereitung einer Juristenlaufbahn wurde er von 1758 bis 1760 auf eine strenge Jesuitenschule geschickt. Hier mauserte er sich wider Erwarten auch zum Sprachtalent: Schon bevor er die Schule verließ und sich weiter in die Wissenschaften vertiefte, hatte er Latein, Französisch, Englisch und Deutsch gemeistert.

Volta. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Alessandro_Volta#/media/Datei:Alessandro_Volta.jpeg

Vor allem aber interessierten ihn keine Paragraphen, sondern naturwissenschaftliche Phänomene wie etwa die Elektrizität. Er bildet sich autodidaktisch weiter und las berühmte Naturwissenschaftler wie Giambatista Beccaria, einem der führenden Physiker Italiens und Professor an der Universität von Turin, mit dem er auch persönlichen Kontakt pflegte. Beccaria war es auch, der Volta ermunterte, physikalische Experimente durchzuführen und seine Erkenntnisse zu publizieren. 1769 veröffentlichte Volta seine erste wichtige Schrift „Über die Anziehungskraft des elektrischen Feuers und die Phänomene, die davon abhängen“, und kritisierte darin auch durchaus selbstbewusst wissenschaftliche Autoritäten.

Streit um den Galvanismus

Nachdem Volta 1774 Superintendent und Direktor staatlicher Schulen in Como geworden war, folgte dort 1775 seine Berufung zum Professor für Experimentalphysik. Im selben Jahr erfand er ein Elektrophor (später „Influenzmaschine“), mit dem man – mit Hilfe des Reibens von Katzenfell – eine elektrische Spannung aufbauen konnte. Das Prinzip wurde zur Grundlage aller Kondensatoren, bspw. des Kondensatormikrofons. Im Jahr darauf entdeckte Volta in Sümpfen aufsteigende Gasblasen mit dem brennbaren Methan und experimentierte damit. Er entwickelte die sogenannte Volta-Pistole, mit der es durch Entzündung von Methan möglich war, elektrische Funken zu erzeugen. Damit gilt dieses Gerät als der direkte Vorläufer des heutigen Gasfeuerzeugs. So gelang Volta die Konstruktion beständig brennender Lampen. Mit der Volta-Pistole war es zudem möglich, den Sauerstoffgehalt von Gas präzise zu messen: das Eudiometer war geboren.

Elektrophor. Quelle: Von Amédée Guillemin – Retrieved 2008-08-08 from Amédée Guillemin (1891) Electricity and Magnetism, revised by Sylvanus P. Thompson, MacMillan, New York, p.190, fig. 105 on Google Books, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17622511

Weitere Studien und Versuche, die Volta während seiner Zeit in Padua durchführte, hatten die Erfindung eines kleinen Elektroskops zur Folge, mit dem er das Verhältnis von Spannung und Ladung messen konnte. 1777 bereiste er die Schweiz und traf Voltaire. Im Jahr darauf wurde er zum Professor für Physik und später als Lehrstuhlinhaber für Experimentalphysik an die Universität Pavia berufen, wo er über 40 Jahre wirken sollte. Um dem Andrang der Studenten, die Voltas Vorlesungen hören wollten, gerecht zu werden, musste ein neuer Hörsaal angebaut werden. In Pavia erfand er ein („Strohhalm“-) Elektroskop zur Messung kleinster Elektrizitätsmengen, quantifizierte die Messungen unter Einführung eigener Spannungseinheiten (das Wort „Spannung“ stammt von ihm) und formulierte die Proportionalität von aufgebrachter Ladung und Spannung im Kondensator.

Seine Entdeckungen führten dazu, dass er im Jahr 1791 zum Mitglied der Royal Society, der berühmten Londoner Wissenschaftsgesellschaft ernannt und 1794 mit der renommierten Copley Medaille ausgezeichnet wurde, die heute als der direkte Vorläufer des Nobelpreises angesehen wird. Auf weiteren ausgedehnten Reisen 1792 lernte er den Stand der Naturwissenschaften u.a. in Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland kennen und trifft Lavoisier und Lichtenberg. Danach wird er auch sozial „sesshaft“: er beendet die jahrelange Beziehung zur Sängerin Marianna Paris und heiratete 1794 Teresa Peregrini, die Tochter einer vermögenden Adelsfamilie aus der Lombardei, mit der er eine glückliche Ehe führte und zwei (nach anderen Quellen drei) gemeinsame Söhne aufzog, denen er ein liebevoller und stolzer Vater gewesen sein soll.

1791 veröffentlichte sein Landsmann, der Anatom Luigi Galvani von der Universität Bologna die Ergebnisse seiner Untersuchungen zu einer neuen Elektrizität, die er erzeugt hatte, als er Froschschenkel mit zwei verschiedenen Metallen berührte. Galvani glaubte, dass diese Elektrizität vom Tiere (hier vom Frosch) erzeugt würde und nannte sie deshalb tierische („animalische“) Elektrizität. Viele Wissenschaftler waren – sehr zum Schaden der Frösche – fasziniert von dieser neuen Entdeckung und arbeiteten intensiv auf diesem neuen Gebiet. Die Rivalität zwischen den Universitäten mag eine Rolle gespielt haben, dass Alessandro Volta die Versuche wiederholte: „Wie kann man Ursachen finden, wenn man nicht sowohl Quantität als auch Qualität eines Phänomens untersucht?“ Dabei stellte er fest, dass der Froschschenkel lediglich die Rolle des Messfühlers spielt.

Galvanis Froschschenkel-Versuche. Quelle: https://www.akg-images.de/archive/-2UMDHUFC642V.html

Seine Entdeckung: Zwischen zwei unterschiedlichen Metallen herrscht eine elektrische Spannung, die zu einem Ladungsstrom führt, sobald man sie auf eine elektrische Weise verbindet. Es entbrannte daraufhin ein Streit um den sogenannten Galvanismus, der Wissenschaftler in ganz Europa beschäftigte. Um seine Hypothese zu beweisen, stellt Volta Versuche an. Er ist sich nicht zu schade, dafür seinen eigenen Körper zu benutzen. An seine Zunge hält er unterschiedliche Metalle: Gold, Silber, Zinn. Immer, wenn die Metalle seine Zunge berühren, bildet sich eine sauer schmeckende Flüssigkeit, es fließt Strom. Volta experimentiert weiter. Er kombiniert unterschiedliche Metalle und stellt fest: Bei Berührung der Metalle laden sich die Metalle unterschiedlich auf – es entsteht eine elektrische Spannung, ganz ohne Froschschenkel. Dieser Effekt wird als „Volta-Effekt“ in die Geschichte eingehen.

Streit mit Galvani für sich entschieden

Volta stellt außerdem fest, dass sich die elektrische Wirkung verstärkt, wenn er die Metallplatten statt durch Wasser zusätzlich durch eine Säure befeuchtet, in seinem Fall stark verdünnte Schwefelsäure. Die Erklärung hierfür konnte erst durch die modernen Theorien der elektrochemischen Korrosion gegeben werden. Volta unterscheidet daher Leiter erster Klasse, die Metalle, von Leitern zweiter Klasse: Flüssigkeiten, die elektrisch leitend sind – Elektrolyte. Die Ladungsträger in ihnen sind nicht Elektronen, wie bei Metallen, sondern Ionen: elektrisch geladene Teilchen. Ein frisch gehäuteter Froschschenkel ist demnach nichts anderes als ein Leiter zweiter Klasse. Volta hat den Wissenschafts-Streit mit Galvani für sich entschieden.

Diese Untersuchungen zur Kontaktelektrizität mündeten schließlich 1799/1800 in die geniale Erfindung eines Elektrizitätsspeichers, der „Volta-Säule“: zwischen Glasstäben schichtet er immer eine Zinkscheibe, eine in Säure getauchte Pappe und darauf eine Kupferscheibe. Diese „Galvanische Zelle“ produziert eine elektrische Spannung: Die Zinkscheibe gibt Elektronen ab – ein Elektronen-Überschuss entsteht und damit negative Ladung. Kupfer nimmt Elektronen von Zink auf, so dass Elektronenmangel und damit positive Ladung entsteht. Verbindet man Plus- und Minuspol durch ein Kabel, fließt Strom. Stapelt man viele dieser elektrischen Zellen aufeinander, addieren sich die Spannungen zu einer Gesamtspannung. Damit hat Volta das Prinzip der Batterie erfunden: der chemischen Erzeugung von elektrischem Strom. Man nimmt an, dass der Prototyp eine Spannung von etwa 100 Volt erreicht haben dürfte.

Volta bei Napoleon. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2944964

Voltas Erfindung ist eine wissenschaftliche Sensation, die bereits 1802 in Massenproduktion geht. Ihr Erfinder wird mit Ruhm und Ehren überhäuft. 1801 reiste er nach Paris, wo er am 7. November Napoleon Bonaparte seine Batterie vorführte. 1802 erhielt er vom Institut de France die Ehrenmedaille in Gold und von Napoleon eine Pension. 1805 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt. Seit 1808 war er auswärtiges Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Nachdem Napoleon Italien erobert hatte, ernannte er Volta 1809 zum Senator und erhob ihn 1810 in den Grafenstand. Durch seine hervorragenden Leistungen genoss er nicht nur bei Napoleon, sondern auch bei den Habsburgern einen exzellenten Ruf, wodurch seine Karriere durch die politischen Wirren jener Zeit keinen Schaden nahm. Nach der Erfindung der Batterie gab er Forschung und Lehre langsam auf, wurde aber durch die Ernennung zum Dekan der philosophischen Fakultät 1813 noch zum Bleiben bewogen bis zu seiner endgültigen Emeritierung 1819. Nicht nur von seinen Zeitgenossen, auch von seinen Studenten wurde er als freundlicher und kommunikativer Mensch beschrieben, der als Lehrer äußerst beliebt war. Im Ruhestand zog er sich auf sein Landhaus in Camnago nahe Como zurück, starb dort am 5. März 1827 und wurde auch ebenda begraben.

Die höchste Auszeichnung erlebte Volta nicht mehr: 54 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1881, benennt man nach einem britischen Vorschlag auf dem ersten elektrischen Weltkongress in Paris die Einheit für elektrische Spannung in „Volt“. Ein Mondkrater und ein Asteroid tragen ebenfalls seinen Namen. Die Erzeugung von Strom gilt heute fast überall auf der Welt als selbstverständlich und alltäglich – damals jedoch nicht. Der visionäre Experimentalphysiker und exzellente Beobachter hat innerhalb weniger Jahrzehnte den Grundstein für ein modernes Verständnis von Elektrizität gelegt und für viele Wissenschaftler den Weg geebnet, im Laufe des 19. Jahrhunderts die moderne Welt durch bahnbrechende Entwicklungen auf diesem Gebiet zu revolutionieren: Jules Verne war der Ansicht, dass man mit Hilfe der Elektrizität einfach alles zu leisten imstande ist, was der Mensch nur auszudenken vermag. Allerdings konnte Volta kaum ahnen, dass nicht nur Lampen oder Motoren, sondern auch der Elektrische Stuhl erfunden werden sollte. Erst recht nicht, dass der Strom dazu von landschaftsverunstaltenden und vögel- wie insektenschreddernden Windparks geliefert werden kann.

Es war der linke Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, der ausgerechnet in der Jüdischen Rundschau eine Parallele zwischen der Sprache der AfD und der des Nationalsozialismus zog. Er berief sich dabei auf das „Notizbuch eines Philologen“ genannte Bändchen „LTI“ (Lingua Tertii Imperii, „Die Sprache des Dritten Reiches“), das der Dresdner Romanist Victor Klemperer kurz nach Kriegsende veröffentlicht hatte. Darin beschrieb er in 36 Kapiteln unter anderem, „wie die durch ständige Wiederholung erzeugte dauerhafte Präsenz sprachlicher Brutalität schon in kleinen Dosen dafür sorgt, dass sich ihre Muster in unseren Köpfen festsetzen“.

Stefanowitsch behauptete, dass man in der AfD gern „direkt an das Gedankengut oder wortwörtlich an die Sprache des deutschen Faschismus“ anknüpfe. „Die Präsenz solcher Formulierungen in der Öffentlichkeit sorgt aber jetzt schon dafür, dass uns jeder auch nur marginal weniger monströse Ausdruck als legitimer Teil des Meinungsspektrums erscheint – sei es die ‚Obergrenze‘, die ‚Angst vor Überfremdung‘ oder die ‚Grenzsicherung mit Schusswaffen‘.“ Abgesehen von der Normalität dieser Äußerungen – so musste der DLF schon am 30.01.2016 eingestehen: „Dass es ein Gesetz gibt, dass den Einsatz von Schusswaffen an der Grenze erlaubt, ist richtig.“ – blendet Stefanowitsch völlig aus, dass Klemperer in seinen Tagebüchern dieselbe Sprachverwendung auch dem „vierten Reich“ vorhält, dem Sozialismus der DDR.

Victor Klemperer. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-26707-0001 / Höhne, Erich; Pohl, Erich / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5427305

Klemperer forderte etwa: „Man sollte ein antifaschistisches Sprachamt einsetzen“ und sieht „Analogien der nazistischen und bolschewistischen Sprache“. (4.7.45) Dabei bediene „man sich sämtlicher nazistischer Schlagworte, die wie ‚Leichengift wirken‘.“ (19.7.45) Klemperers Text bediene sich überdies bei der Charakterisierung der Sprache des bzw. im Faschismus durchgängig einer Krankheits- und Giftmetaphorik und bezeichne sie als eine „Infektion durch fremde Bakterien“, als „spezifisch deutsche Krankheit“ oder als „wuchernde Entartung deutschen Fleisches“, behauptet Siegfried Jäger. Er benutze also dieselben Kategorien zur Beschreibung einer Sprache, die er dieser Sprache anlaste. Der Urheber dieser umstrittenen Metaphorik starb am 11. Februar 1960 in Dresden.

„flache Dächer sind ‚undeutsch‘“

Victor wurde am 9. Oktober 1881 als neuntes und letztes Kind seiner Eltern Wilhelm Klemperer und Henriette in Landsberg an der Warthe geboren. Als Sohn eines Reformrabbiners kam er über Bromberg nach Berlin – sein Vater nahm eine Stelle als 2. Prediger der Berliner Reformgemeinde an. Wie auch seine älteren Brüder besucht er das Französische und später das Friedrichs-Werdersche Gymnasium, verlässt es jedoch ohne Abschluss und beginnt 1896 eine Kaufmannslehre bei einem jüdischen Kurzwarenhändler, die ihm von seinen Eltern aufgenötigt wurde. Seine Jugend steht im Schatten seiner älteren Brüder, vor allem des bedeutenden Mediziners Georg und des gefragten Rechtsanwalts Berthold. Er beschreibt diese Jahre als demütigend und geprägt durch die Ablehnung seiner Familie und beginnt Tagebuch zu führen: „Leben sammeln“ sagt er dazu.

Auf eigenen Wunsch holte er 1900 das Abitur nach und begann anschließend 1902 das Studium der Philosophie und der romanischen und germanischen Philologie, das ihn bis 1905 nach Paris, Genf, München und Berlin führte. Den darauffolgenden Jahren als freier Publizist in Berlin verdankt er seinen geschliffenen Stil und die Liebe seines Lebens: 1906 heiratete er die Konzertpianistin und Malerin Eva Schlemmer, über die er in späteren Tagebuchaufzeichnungen notierte: „Immer war mir ganz wohl, wenn du bei mir warst.“

Nach dem Versuch, sich mit literarischen Arbeiten und Vorträgen in jüdischen literarischen Vereinen selbständig zu machen, nimmt er auf Drängen der Brüder, die sein Leben finanzieren, 1912 das Studium in München wieder auf und konvertiert zum Protestantismus. Der Übertritt wurde von den Nazis später nicht akzeptiert. Nach Studium, Promotion und zwei Jahren als Lektor in Neapel habilitiert er sich 1915 bei Karl Vossler mit einer aufsehenerregenden Arbeit über Montesquieu, die seinen Ruf als Wissenschaftler festigt. Im November 1915 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wird bis März 1916 als Artillerist an der Westfront eingesetzt, später bei der Militärzensur in Kowno (Litauen) und Leipzig, und bekommt den Bayrischen Verdienstorden.

Klemperers Haus in Dresden. Quelle: https://www.das-neue-dresden.de/images/2005/klemperer-haus4.jpg

1920 wurde er als Professor für Romanistik an die Technische Hochschule Dresden berufen. Bis 1935 veröffentlicht er wissenschaftliche Arbeiten zu französischer Literatur und Philologie – die Dresdner Jahre werden zu einer äußerst schöpferischen Zeit. Klemperer hatte sich im Spätsommer 1934 in wenigen Wochen unter sehr beschränkten finanziellen Mitteln von Architekt Karl Prätorius ein eigenes Wohnhaus im südlich gelegenen Vorort Dölzschen am Kirschberg 19 bauen lassen. „Eine drollige Schwierigkeit ergab sich“, schreibt er: „Die Bauvorschriften des Dritten Reiches verlangen ‚deutsche‘ Häuser, und flache Dächer sind ‚undeutsch‘. Zum Glück fand Eva rasch Freude an einem Giebel, und so wird das Haus also einen ‚deutschen‘ Giebel bekommen.“ Aber auch: „…der hinzugeforderte ‚deutsche‘ Giebel vermehrt die Kosten um 2300 M … verzweifeltes Hin-und Herrechnen“.

„Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands“

Obwohl jüdischer Herkunft, blieb Victor Klemperer während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland: „Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir.“ Nach Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes wurde er unter Federführung des Gauleiters Martin Mutschmann aus seiner Professur in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Seine Zeit verbrachte er nun mit wissenschaftlichen Studien im Japanischen Palais in Dresden, bis ihm als „Geltungsjude“ auch der Zugang zu Bibliotheken und das Abonnieren von Zeitungen und Zeitschriften untersagt wurden. Die Arbeit zur Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert musste ruhen; diese erschien in zwei Bänden erst lange nach dem Krieg. Umso intensiver widmete er sich seinen Tagebüchern – eine Loseblattsammlung, die er in regelmäßigen Abständen durch seine Frau bei einer befreundeten Ärztin in Pirna verstecken ließ und die die Grundlage für LTI bildete. „Ich muss daran festhalten: Ich bin deutsch, die anderen sind undeutsch; ich muss daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut“, notiert er. Die kommenden Jahre waren von Elend und Not gezeichnet.

Eva war mutig und ließ sich trotz großen Drucks nicht von ihm scheiden. Dies gab Victor Kraft und wurde für ihn zur Überlebenschance. In seinem Tagebuch schrieb er: „Evakuierung hiesiger Juden am kommenden Mittwoch, ausgenommen, wer über 65, wer das EK I besitzt, wer in Mischehen, auch Kinderloser, lebt. Punkt 3 schützt mich – wie lange?“ 1940 müssen Eva und Victor aufgrund der Nürnberger Rassengesetze ihr Haus verlassen und werden in ein „Judenhaus“ eingewiesen. Die Stimmung war angespannt, die Ernährungsversorgung schlecht, Victor zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Ständige gewaltsame Haussuchungen der Gestapo deprimierten beide zusätzlich. In der Zeit des Bangens setzt sich Klemperer intensiv mit dem Judentum auseinander und gibt auch die Hoffnung nicht auf: „Es fallen so viele rings um mich, und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegen“.

Dresdner Judenhaus. Quelle: https://media.tag24.de/1/c/f/cfd27f7af352ad87408c.jpg

Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 bedeutete für ihn die Rettung vor der bevorstehenden Deportation, denn das Judenhaus, in dem er lebte, stand sofort in Flammen. Klemperer floh mit seiner Frau bis nach Bayern – ihren Namen hatten sie mit einem Punkt und einem „Millimeterstrich“ zu „Kleinpeter“ gefälscht – und kehrten nach Ende des Krieges nach Dresden zurück. Die deutsche Bürokratie verlangte auch von Klemperer das Ausfüllen eines „Entnazifizierungs-Fragebogens“, der in seiner Personalakte im Universitätsarchiv verwahrt wird. Dort lesen wir in den Fragen nach der „Wohnung von Februar 1933 bis 7. Mai 1945“ und nach den Vermögensverhältnissen eine Dresdner Adresse und die Angabe „dann in verschiedenen Judenhäusern der Stadt Dresden“. Im Januar 1933 war er „o. Prof. u. 14000 Jahresgehalt“, im Januar 1945 „in Zwangsarbeit, vermögenslos, Stundenlohn netto um 40 Pf“ – Klemperer war Packer in einer Teefabrik und Hilfsarbeiter im Dresdner Güterbahnhof. Und geradezu graphisch spürbar sind Distanzierung und Verachtung, wenn er bei der Frage „Waren Sie jemals Mitglied der NSdAP?“ ein einziges 10 Zentimeter großes „NEIN“ schreibt.

„Sie lügen und stinken alle beide“

Sofort nimmt Victor Klemperer seine Tätigkeit als Professor an der Technischen Hochschule Dresden wieder auf. 1946 schrieb er alten Freunden: „Ich möchte gar zu gerne am Auspumpen der Jauchengrube Deutschlands mitarbeiten, dass wieder etwas Anständiges aus diesem Lande werde.“ Doch er meint auch: „Nie mehr werde ich ungezwungen sein.“ Zusammen mit Eva tritt er in die KPD ein: „Ich glaube, dass wir nur durch allerentscheidendste Linksrichtung aus dem gegenwärtigen Elend hinausgelangen und vor seiner Wiederkehr bewahrt werden können.“ 1947 veröffentlichte er „LTI“. „Für Klemperer war die Erforschung der Nazi-Sprache nicht nur eine wissenschaftliche Beschäftigungstherapie, bei der er die Wörter wie bizarre Käfer bestaunte, die aufgespießt in einer Glasvitrine gesammelt lagen. Nein, er hielt die Begriffe auch für Erreger, die geholfen hatten, ein ganzes Volk mit dem Geist der Nazis zu infizieren“, meint Matthias Heine. Nach der Volkskammerwahl 1950 zog er als Abgeordneter des Kulturbunds DDR in die Volkskammer ein.

DDR-Ausgabe von LTI. Quelle: http://1a-rezensionen.blogspot.com/2018/04/rezension-LTI-notizbuch-eines-philologen-victor-klemperer.html

Wie stark der Personalbedarf in der Ostzone war, zeigt sich daran, dass er zeitweise parallel an den Universitäten Halle, Greifswald und Berlin tätig war. Aus Halle und Berlin ist überliefert, dass sich Klemperer vor seinen Vorlesungen verbeugte und dann frei sprach, ausgestattet nur mit einem kleinen Zettel mit einigen Daten und Zahlen, den er seinen „Schnuller“ nannte. Am 8. Juli 1951 stirbt Eva Klemperer. Im Jahr darauf fand er in seiner Studentin Hadwig Kirchner, die 1952 seine zweite Frau und seine spätere Herausgeberin wurde, noch einmal ein spätes Glück. „Hadwig ist die Pragmatische, die psychisch Stärkere in dieser Beziehung. […] Nun, an seiner Seite, setzt sie seiner Atemlosigkeit, seinem Arbeitstempo und seinem bisweilen verzehrenden Drang nach später gesellschaftlicher Anerkennung ein ausgleichendes Moment entgegen“, befand Peter Jacobs in der Berliner Zeitung. Oft hat er das Gefühl, Eva mit Hadwig und Hadwig mit Eva zu betrügen. Dennoch gibt ihm die Beziehung neue Lebensenergie.

Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften bemühte er sich seit 1953, der französischen Sprache eine angemessene Stellung in der DDR einzuräumen: „Er will die klassenkämpferischen Kurzschlüsse vulgärmarxistischer Interpretatoren von der DDR-Romanistik fernhalten und zugleich eine linguistischen Feldzug gegen die ‚amerikanische Zerreißprobe‘ führen“, behauptet Jacobs. „Wenn man einen Vortrag über Balzac, Rabelais, Zola oder Stendhal brauchte, schrieb man ihm, und dann kam er, auch in die kleinste Stadt“, erzählt Hadwig Klemperer. Er erhält den Nationalpreis und den Vaterländischen Verdienstorden und wird nach seinem Tod neben seiner Frau auf dem Friedhof Dölzschen begraben.

Seine Rezeption war und ist ambivalent. Zwar wird er in der DDR, die über seine Sprachkritik hinweggeht, vereinnahmt: eine Straße in Dresden-Räcknitz und ein Hörsaal an der TU Dresden sind nach Klemperer benannt. Doch er stand dem Staatswesen zeitlebens kritisch gegenüber. „Die Präsidentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. Mir ist nicht wohl dabei. Ich weiß, wie alles gestellt und zu Einstimmigkeit vorbereitet ist. Ich weiß, dass es nazistisch genauso geklungen hat und zugegangen ist“, notiert er; später gar „Ich weiß, dass die demokrat. Republik innerlich verlogen ist, die SED als ihr Träger will die soz. Republik, sie traut nicht den Bürgerlichen, und die Bürgerlichen misstrauen ihr. Irgendwann gibt es Bürgerkrieg“. Dennoch zieh ihn 1949 die bayrische Presse nach einem Vortrag in Schwabing einer „verkalkten Senilität, die sich zu Propagandazwecken missbrauchen lässt“, nannte ihn „Salonbolschewist“. Am 18. Oktober  1957 zeigt er sich zutiefst resigniert: „Im Übrigen wird mir die Politik immer widerlicher. Sie lügen und stinken alle beide, Osten und Westen, gar zu sehr“.

Gefahren beider Diktaturen unterschätzt

Im einigen Deutschland wird er wieder von links vereinnahmt: so wurde 2000 ein Jugendwettbewerb für Demokratie und Toleranz des gleichnamigen Bündnisses nach ihm benannt. Beim ersten Wettbewerb war Hadwig Klemperer in der Jury noch mit dabei und plädierte gemeinsam mit Hildegard Hamm-Brücher für eine schöne kleine Schülernovelle. Aber der Text schien den Juroren zu betulich, „sie schauten mehr auf Plakate oder Spiele, was mehr Publicity macht“, ärgerte sie sich in der Berliner Zeitung. Beim nächsten Mal lud man die beiden altmodischen Damen gar nicht mehr ein.

Seine Tagebuch-Editionen tragen Zitat-Titel wie „Und so ist alles schwankend“ oder „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen“. Sie wurden nach einer verlegerischen Posse ab Mitte der 90er Jahre vom Ostberliner Aufbau-Verlag publiziert, in den ersten Jahren in mehr als 150 000 Exemplaren verlauft und die Übersetzungs- und Nachdruckrechte für Verlage aus 13 Ländern lizensiert: allein Random House zahlte für die USA-Rechte eine halbe Million Dollar. Die Posse: Hadwig hatte mit dem Dresdner Journalisten Uwe Nösner bereits eine 80teilige Zeitungsserie editiert, die ab Mai 1987 in der Union (später DNN) unter dem Titel „Alltag einer Diktatur“ erschien und viele Menschen als Sensation empfanden. Ein Herausgebervertrag mit dem Verlag der Kunst Dresden, datiert vom September 1990, führte zu einem fertigen Manuskript mit einem Nachwort des Schriftstellers Peter Gehrisch. Doch die Edition kam nie zustande, die Gründe sind bis heute unklar.

Film-DVD. Quelle: https://www.amazon.de/Pidax-Historien-Klassiker-Klemperer-Deutschland-komplette/dp/B003EGI630

Als Victor Klemperer 1996 postum den Geschwister-Scholl-Preis für seine Tagebücher verliehen bekam, erwähnte Laudator Martin Walser ausdrücklich Nösners Leistung, der allerdings erst Tage später davon erfuhr und 2018 vergessen starb. Aufbau-Herausgeber Walter Nowojski hingegen, der die Vorarbeit des Journalisten nicht mal in einer Fußnote erwähnte, was die FAZ „eine editorische Todsünde“ nannte, saß in München im Festsaal und nahm mit der Witwe den Preis entgegen. Der US-Kulturhistoriker Peter Gay pries den Dresdner Chronisten als den „vielleicht größten Tagebuchschreiber deutscher Sprache“; von „einem lebendigen Dokument geistiger Souveränität gegenüber Demütigungen und Terror“ weiß Ulrich Baron im Spiegel. Der „vollkommene Idealist“ habe „die Gefahren beider Diktaturen unterschätzt“, bilanzierte Martin Doerry im selben Blatt.

Seit Jahren, schrieb Klemperer kurz vor seinem Tod einem Neffen, habe er „nichts anderes getan“, als „ständig und ergebnislos zu opponieren“. Die Dresdner kürten ihn in den DNN zu einem der „100 Dresdner des 20. Jahrhunderts“. 1999 zeigte die ARD „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ als zwölfteilige Fernsehserie nach einer um erfundene Episoden erweiterten Bearbeitung von Klemperers Tagebüchern. Doch Hadwig schaltete die Serie, die voller historischer Unrichtigkeiten steckte, in der das Milieu nicht stimmte und die die Charaktere Victors und Evas Hollywood-like zurecht fälschte, schon im zweiten Teil ab: „Der Film hat mich schwer beleidigt“. Sie starb nach 50jährigem Witwenleben 2010 kinderlos in Dresden und wurde auf dem Alten Katholischen Friedhof beigesetzt.

Von Sir Arthur Conan Doyles „Doktor Watson“ bis zu „Doktor Pascal“ in Emile Zolas gleichnamigem Roman – Ärzte sind in der Literatur zahlreich vertreten. Doch kaum einer berührt so tief wie „Doktor Schiwago“ – der Name bedeutet im Russischen so viel wie „der Vitale“, „der Vollblütige“. Sein Schöpfer Boris Leonidowitsch Pasternak, für den prominenten Kritiker Dmitri Mirski einst der „größte lebende Dichter Rußlands“, der laut Ilja Ehrenburg „die Fundamente einer wirklich neuen Literatur gelegt“ hat, würde am 10. Februar seinen 130. Geburtstag feiern.

Dabei schien von Anfang an festzustehen, dass der Sohn jüdischer Eltern eine kompromisslos ästhetische Existenz führen würde – nicht aber, auf welchem Gebiet. Sein Künstlervater Leonid arbeitete als Professor an der Moskauer Schule für Malerei und illustrierte u.a. Bücher von Tolstoj. Seine Mutter war die bekannte Pianistin Rosalija Kaufmann. Seine Kindheit war sorgenfrei – mit einer Ausnahme: Beim Sturz von einem Pferd brach sich Pasternak 1903 den rechten Oberschenkelknochen und wurde weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg als Soldat eingezogen. Im Elternhaus traf er Größen des Kulturlebens wie Alexander Blok, Rainer Maria Rilke und Alexander Skrjabin.

Pasternak. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/media/thumbs/2/273a6e5ade88830a6071b73a24632b99v1_max_755x425_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=daf477

Durch dessen Bekanntschaft träumte er zunächst davon, Pianist und Komponist zu werden, und komponierte 1909 eine Klaviersonate in h-Moll. Er gab diesen Plan allerdings auf, weil er nicht über das absolute Gehör verfügte, und wandte sich nach Abschluss des Moskauer deutschen Gymnasiums 1908 der Philosophie zu. Im Sommersemester 1912 ging er für ein Auslandssemester nach Marburg, schlug dort eine akademische Karriere aus und entschloss sich nicht zuletzt nach Reisen durch die Schweiz und Italien für die Poesie: „Meiner Meinung nach sollte Philosophie dem Leben und der Kunst als Gewürz beigegeben werden. Wer sich ausschließlich mit Philosophie beschäftigt, kommt mir vor wie ein Mensch, der nur Meerrettich isst.“

„das Zeitalter ist wichtig“

Interessanterweise schreibt er zunächst in der Tradition von Symbolismus und linkem Futurismus: der begreift den Dichter als Arbeiter mit sozialem Auftrag, nicht als Künstler. Pasternak bewundert Majakowski und dessen gewagte Reime, lehnte sie aber wegen ihrer Effekthascherei ab und verordnete sich selber eine „straffere“ Schreibweise. 1913 bis 1917 erschienen erste Gedichtbände. Als Sekretär in einer Chemiefabrik im Ural unterstützte er die Oktoberrevolution, obwohl er von der Brutalität der neuen Regierung schockiert ist. Über die Gründe wurde viel gemutmaßt – russischer Patriotismus spielt ebenso hinein wie realitätsverengtes Wunschdenken oder Visionen eines „Sieges des Geistes“, wie er selbst schrieb. Seine Eltern und Geschwister wanderten 1921 nach Deutschland aus – er blieb.

Nach dem Krieg arbeitete Pasternak als Bibliothekar in Moskau und schrieb weiter, darunter die „Briefe aus Tula“. Seine Landschaftsbeschreibungen geben nicht die Natur, sondern den Geisteszustand des beobachtenden Menschen wieder: Das Leben ist erst wirklich und erfahrbar, wenn es auch sagbar wird. Genau diese Verbindung bildet den tieferen Sinn seines Gedichtbands „Meine Schwester – das Leben“. Im selben Jahr heiratete er seine erste Frau Jewgenija, hat mit ihr einen Sohn und wird 1931 wieder geschieden.

In den 1930er Jahren, spätestens seit dem Versroman „Spektorskij“, entwickeln sich seine Gedichte weg vom Symbolismus hin zur Politik. Tragisch, dass er für die politische Realität von Stalins Terror blind blieb. Auf dem Ersten Schriftstellerkongress 1934, auf dem die russische Literatur gleichgeschaltet wurde, trat Pasternak mit der Erklärung auf, sein Schaffen werde von der „fruchtbaren Liebe zur Heimat und zu den heutigen allergrößten Menschen“ getrieben. 1936 schrieb er für die Regierungszeitung „Iswestija“ gar zwei Stalin-Oden und meint 1936 zu einem Kollegen: „Glauben Sie der Revolution im Ganzen, dem Schicksal, den neuen Regungen des Herzens, dem Schauspiel des Lebens und nicht den Konstruktionen des Schriftstellerverbandes. Das Zeitalter ist wichtig, nicht die Formalisten.“

„badet ein Ekstatiker in Tränen“

1934 war er eine zweite Ehe eingegangen mit Sinaida, die um seinetwillen ihre Ehe mit dem Pianisten Heinrich Neubaus gelöst hatte, der als Lehrer einer ganzen russischen Pianisten-Generation von Gilels bis Richter bekannt geworden ist, und die ihm einen weiteren Sohn zur Welt bringt. Die Familie zog 1936 in die Künstlerkolonie Peredelkino bei Moskau. Seinen Lebensunterhalt verdient er auf sicherem Feld als Übersetzer aus dem Französischen, Englischen und Deutschen. Gerühmt sind seine russischen Ausgaben von Goethes „Faust“ und Shakespeares Tragödien, außerdem übersetzt er Kleist und Rilke und verfasst viele Briefe. „Hier schreibt jemand, der nicht an die Nachwelt denkt; der seine Sätze nicht feilt und trimmt; der nicht auf Nachruhm spekuliert. Hier badet vielmehr ein Ekstatiker in Tränen und Wortumarmungen; ein Liebender bringt sich dar und teilt sich mit“, feiert ihn Helen von Ssachno im Spiegel.

Mit Sinaida und Sohn. Quelle: https://img.broadwayblogspot.com/img/dile-2019/pasternak-ili-tuda-i-obratno.png

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldet sich Pasternak freiwillig, wird jedoch erst 1943 mit einer „Schriftstellerbrigade“ in den Propagandakrieg geschickt. Seine Kriegserlebnisse verarbeitet er in den Gedichten des Sammelbands „In den Frühzügen“ und „Irdische Weite“; nach 1945 verfällt er zunächst in Schweigen. Als er 1946 bei einer literarischen Veranstaltung wieder einmal öffentlich auftreten durfte, forderten die Zuhörer stürmisch, er möge einige seiner Gedichte vortragen. Und an Stellen, wo er selbst den Text nicht mehr genau im Kopf hatte, fielen die Zuhörer im Chor ein. Er lernt Pasternak Olga Iwinskaja kennen, eine alleinerziehende, literarisch versierte und tüchtige Redakteurin bei Nowyi Mir, der er verfällt, später die Verhandlungs- und Verfügungsrechte über seine Arbeiten überträgt und der er als „Lara“ im „Schiwago“ ein literarisches Denkmal setzen wird. Allerdings schafft er es nicht, sich von Sinaida und seinem Sohn Leonid zu trennen, und pendelte er zwischen beiden Familien hin und her.

Überhaupt: Schiwago. Sofort nach dem Krieg beginnt Pasternak an seinem ersten und einzigen Roman zu arbeiten: Eine Verschmelzung von Poesie und Prosa sowie der öffentlichen Geschichte mit seinem eigenen Leben – „ohne Hass, mit Trauer wohl, aber frei von Bitterkeit“, schreibt Gert Ruge in der Zeit. Der vielfach verschachtelte Roman beschreibt die Konflikte, in die ein Intellektueller (Schiwago) und seine geistigen und religiösen Überzeugungen geraten, wenn sie auf die revolutionäre Bewegung treffen, die sozialistischen Realität – und eine selbstzerstörerische Liebe: „Sie liebten einander, weil alles ringsum es wollte: die Erde unter ihren Füßen, der Himmel über ihren Köpfen, die Wolken und die Bäume.“ Die Handlung erstreckt sich über fast drei Jahrzehnte und endet mit Schiwagos frühem Tod 1929, im Epilog 1943.

Der Arzt wächst bei einer Pflegefamilie auf und studiert Medizin trotz großer Neigung zu Kunst und Geschichte: Bereits als Gymnasiast träumt er davon, ein „Buch des Lebens“ zu schreiben. Bezüge zum Christentum fallen auf: Im Zentrum steht der schwierige Lebensweg des Arztes als Passion Christi in den Wirren der Revolution. Zunächst lässt Pasternak sein Alter Ego 25 Gedichte schreiben, die er als Anhang in den Roman aufnahm. „Das Wunder“, „Schlechte Tage“, „Der Garten von Gethsemane“ u.a. verweisen auf Parallelen zu Christus bzw. seinen Aposteln. Auch sein Name – Juri = Sankt Georg, der Drachentöter – unterstreicht, dass er als christliche Figur zu sehen ist; zur Einsamkeit bestimmt und dazu, in der Welt zu scheitern; erst am Ende wird er siegreich sein. Auch Lara stellt Pasternak in einen christlichen Symbolzusammenhang.

Eine bundesdeutsche Druckausgabe. Quelle: https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Boris-Pasternak+DOKTOR-SCHIWAGO/id/A02nj4Ft01ZZh

Angesichts des Blutvergießens nach der Oktoberrevolution 1917 verliert der Arzt Schiwago jegliche Hoffnung in den Kommunismus und seine Revolutionäre. Die mörderische Zwangskollektivierung der Bauern verurteilte er als „falsche Reform“, formuliert seine Kritik an absurden Verkennungen der Realität und gewalttätigen Auswüchsen der jungen Revolution. Schwerer noch wiegen seine sarkastische Ablehnung jeder Form von Propaganda und seine Kritik am Marxismus, den er für unwissenschaftlich hält: „Der Krieg, die Revolution, die Könige, die Robbespierres dienen der Geschichte nur als organische Reizmittel, als Sauerteig. Die Menschen, die Revolutionen machen, sind fanatische Sektierer. In wenigen Stunden, in wenigen Tagen stürzen sie die alte Ordnung um. Der Geist, in dem sie dies tun, wird noch nach Generationen wie eine Reliquie verehrt. Aber die Freiheit, die wahre Freiheit – nicht die in Worten proklamierte Freiheit – fällt vom Himmel, unbemerkt, durch einen Zufall, durch einen Irrtum.“ Das Buch, so urteilte die NZZ, „ist der große russische Roman der Freiheit. Es ist der einzige innerlich völlig freie und äußerlich nicht zensurierte Ausdruck eines russischen Bewusstseins dieser Epoche, und es ist daher … der einzige Inhalt der ganzen Sowjet-Literatur dieser Jahre.“

„Sieg durch Verzicht“

1955 fertiggestellt, legte Pasternak das Manuskript nach Stalins Tod im Jahr darauf dem sowjetischen Schriftstellerverband und dem Moskauer Staatsverlag zur Begutachtung vor. Man gab ihm den Rat, wesentliche Teile des Romans umzuschreiben, weil er der Bedeutung der Oktoberrevolution und der kommunistischen Gesellschaftsordnung nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt oder sie abwertend dargestellt habe. Der Dichter widersetzte sich der ihm vorgeschlagenen Buchverstümmelung, erklärte sich jedoch mit der Herausgabe einer gekürzten Fassung des Romans einverstanden – offenbar hegte er noch die Zuversicht, es werde sich alles zum Guten wenden: „Wenn auch“, so heißt es an einer anderen Stelle des Romans, „die Läuterung und die Freiheit, die man nach dem Krieg erwartete, nicht zusammen mit dem Sieg kamen, so war das nicht entscheidend: Die Freiheit lag in der Luft und war das einzige bedeutsame historische Faktum der Nachkriegsjahre.“

Auf die Kürzung erhielt er keine Antwort. Eine Kopie des Skripts hatte er dem Vertreter des Mailänder Verlegers Feltrinelli übergeben und ihm die Rechte für die Buchausgaben in westlichen Ländern übertragen. Nach diversen, 2014 offiziell bestätigten Einmischungen der CIA, die Manuskript und Autor ohne dessen Wissen funktionalisierte, erschien der Roman 1957 in Mailand in einer italienischen Übersetzung, eine russische Version kam erstmals 1958 im Mouton Verlag in den Haag heraus und wurde bei der Brüsseler Weltausstellung im Pavillon des Vatikans gratis an die Besucher verteilt. Die Vorlage des Romans in der Originalsprache beim Komitee war Voraussetzung für die Verleihung des Nobelpreises. Als der Pasternak im selben Jahr „für seine bedeutende Leistung sowohl in der zeitgenössischen Lyrik als auch auf dem Gebiet der großen russischen Erzähltradition“ verliehen werden sollte, nahm er zunächst an. Prompt wurde er aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen, ja medial vernichtet.

Pasternaks Haus. Quelle: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article203945666/Actionszenen-der-Weltliteratur-Boris-Pasternak.html#cs-lazy-picture-placeholder-01c4eedaca.png

„Er mag gehen, wohin er will. Kein sowjetischer Mann und keine Frau wünschen, mit einem Verräter zusammenzuleben und die Luft zu atmen, die er atmet“, heißt es bei Radio Moskau. Das Buch sei „nichtiges, niederträchtiges Handwerk“, schrieb die Literaturnaja gaseta, eine „Verleumdung der sowjetischen Partisanen und der Roten Armee, des ganzen gewaltigen Werkes, das die Erbauer des neuen Lebens auf sowjetischem Boden vollbringen“. In der Prawda stand dann der Urteilsspruch, gegen den es keine Berufung gibt: „Der ‚Dr. Schiwago‘ ist eine boshafte Schmähschrift auf die sozialistische Revolution, das Sowjetvolk und die sowjetische Intelligenz. Ein erboster Spießer hat seiner rachsüchtigen Gereiztheit freien Lauf gelassen.“ Auf einer Massenveranstaltung im Moskauer Sportpalast schrie vor Staatschef Chruschtschow und einem vieltausendköpfigen Auditorium Wladimir Semitschastni, Chef des Jugendverbands „Komsomol“: „Ein Schwein besudelt niemals den Ort, wo es frisst und schläft. Wenn man daher Pasternak mit einem Schwein vergleicht, so ist festzustellen, dass ein Schwein nicht getan hätte, was Pasternak getan hat.“ Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle: „Brausender Jubel der Zuhörer.“ Der Verfasser des Textes der sowjetischen Nationalhymne, Sergej Michailkow, schlug seine Ausweisung vor. Die Hetzjagd der Kommunisten verarbeitet Pasternak lyrisch:

„Bin umstellt, verloren, Beute. 
Weit - wo Freiheit, Menschen, Licht.
Hinter mir der Jagdlärm, Meute.
Einen Ausweg hab‘ ich nicht.“ 

Weltweit organisierte sich Widerstand gegen die Behandlung Pasternaks. „Wir fordern Sie auf im Namen der großen literarischen Tradition Russlands, für die Sie stehen, diese nicht dadurch zu entehren, dass Sie einen Autoren bestrafen, den die ganze zivilisierte Welt verehrt“, appellierten berühmte Schriftsteller wie Aldous Huxley, T. S. Eliot oder Graham Greene an die Sowjetführung. Ernest Hemingway bot Pasternak Unterkunft an, auch der indische Premierminister Jawaharlal Nehru kritisierte die Sowjetunion heftig. Doch der Druck der sowjetischen Obrigkeit ist zu hoch, Pasternak gibt nach und lehnt schließlich die Preisannahme ab. Während Solschenizyn zürnt: „Ich krümmte mich vor Scham für ihn … wie konnte er nur … vom ‚lichten Glauben an eine gemeinsame Zukunft‘ faseln…“, nennt die Iwinskaja hingegen Pasternaks Widerruf: „Sieg durch Verzicht. Die Hauptsache, das Buch, war erschienen, und es machte seinen Weg. Musste man sich, jedenfalls ein Genie, nicht gelegentlich für das Werk korrumpieren?“ Aus einem persönlichen Brief Pasternaks an Chruschtschow geht hervor, dass Pasternak trotz aller Angriffe auf ihn und seine Arbeit auf keinen Fall die Sowjetunion verlassen wollte. Er hegt Suizidgedanken. Nachdem er im Januar 1953 bereits einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte, starb Boris Pasternak am 30. Mai 1960 in Peredelkino zermürbt an einem weiteren Infarkt und Magenblutungen. Seine Ehefrau folgte ihm völlig verarmt 1966, die Geliebte und deren Tochter Irina kamen in den Gulag.

„Häresie der unerhörten Einfachheit“

Der Roman wird 1965 mit Omar Sharif prominent verfilmt und erhält fünf Oscars, darunter einen für die Musik von Maurice Jarre: „Lara’s Theme“ (dt.: „Weißt du wohin“) wird ein Welthit. Als Anekdote wird gern erzählt, wie die riesige Crew – wegen der billigen Arbeitskräfte und Statisten nach Spanien gezogen – den Hochsommer mit einem illusionären Kraftakt in den russischen Winter verwandelt: Ein ganzer Marmorsteinbruch wird gekauft, der Stein zu weißem Pulver gemahlen und auf einer verdorrten Ebene verteilt. Am 23. Februar 1987 erfährt Pasternak unter Gorbatschow eine vollständige Rehabilitation nebst postumer Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband. 1988 erscheint „Schiwago“ erstmals in der UdSSR, in einer besonderen Zeremonie nahm sein Sohn den abgelehnten Nobelpreis 1989 in Stockholm stellvertretend für seinen Vater an. Das Opus wird in Deutschland auf absehbare Zeit nicht weiter geschrieben: Der Bertelsmann Verlag unterlag 1999 beim Bundesgerichtshof (BGH) dem Feltrinelli-Verlag mit der Begründung, dass die Fortsetzung „Laras Tochter“ eines englischen Ghostwriters sich so eng an Pasternaks Vorlage anlehnte, dass sie keine eigenschöpferische Leistung darstelle. Wer einen Roman oder einen Film fortschreiben will, muss vorher ein Fortsetzungsrecht erwerben – oder ein gänzlich neues Werk schaffen, gegenüber dem das Original „verblasst“.

Szenenbild mit Omar Sharif. Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/die-geschichte-des-romans-doktor-schiwago-du-hast-ganz-russland-verraten/13898324.html#!kalooga-20590/~pasternak%20~cia%5E0.75

Geblieben ist weniger die Erinnerung an einen facettenreichen, begabten, heute allerdings mehr und mehr vergessenen intellektuellen Poeten, sondern eher an ein in vieler Hinsicht irritierendes Buch, erinnert sich Ssachno ebenso irritiert: „Zwischen den ‚Schiwago‘-Gedichten, die, im Original zumindest, die von Pasternak am Lebensende erstrebte ‚Häresie der unerhörten Einfachheit‘ versinnbildlichen, und der epischen Unbeholfenheit des Romans, der trotz seiner konservativen Stilmittel wiederum nicht so einfach geschrieben ist, dass er seine innere Wahrheit ohne die Kenntnis geistesgeschichtlicher Zusammenhänge zu offenbaren vermag, klafft ein Abgrund, der bis zum heutigen Tag nicht geschlossen wurde.“ Das kann man so sehen, muss es aber nicht.

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