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Ungeimpfte sind Aussätzige, Asoziale, gar neue Nazis, skandalisiert der Medienmainstream. Das ist politisch, medizinisch und sozial verheerend, ja präfaschistoid. 2021 als neues 1932?

Meine neue Tumult-Kolumne, die ich aufgrund des Redaktionsschlusses 1.12. fortschreiben musste – die Endfassung (im Original 14 Seiten) folgt unter dem Kolumnenbild.

 „In Krisenzeiten suchen Intelligente nach Lösungen und Idioten nach Schuldigen“ ist ein Loriot zugeschriebenes Bonmot, das allerdings vom italienischen Schauspieler Totò („Große Vögel, kleine Vögel“) stammt. Interpretiert man mit dieser Semantik die aktuelle Impfpflicht-Hysterie, müssen als Idioten die deutschen Journalisten gelten – haben sie sich doch bis auf marginale Ausnahmen auf die Ungeimpften als Wurzel allen Coronaübels eingeschossen. Das Perfide an der „publizistischen Idiotie“: Weite Teile der Medien sind als Propaganda-Organe zum konstitutiven Element einer Machttechnik mutiert, die auf die Ausgrenzung Freier, Gesunder zielt – ohne dass die Bevölkerung aufmuckt. Damit aber gelten die Idioten als intellektuelle Taktgeber des Diskurses. Eine Katastrophe.

„Die Impfskeptiker werden schon jetzt zu den idealen Sündenböcken auserkoren“, erschreckt David Bendels in der Jungen Freiheit JF, „um Zwietracht zwischen den Menschen zu säen und mittels des alten Leitspruchs ‚Divide et impera‘ die Entdemokratisierung des Westens voranzutreiben – und gleichzeitig Bürger, die auch jenseits der Pandemie bereit sein könnten, nein zu sagen, dem Hass der Mitmenschen auszuliefern.“

Wohin dieser Hass führen kann, zeigte Ende November der Text „Die Gesellschaft muss sich spalten!“ von Christian Vooren auf ZEIT online. Ein Journalist von Anfang 30, der außer seinen Redaktionsblasen nichts sonst kennt, behauptet darin in Richtung Ungeimpfte: „Mit maximaler Durchlässigkeit an der Blödsinnsflanke ist niemandem geholfen“. Und maßt sich an zu behaupten: „Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. Einer, der die Gesellschaft spaltet“ und „den gefährlichen vom gefährdeten Teil der Gesellschaft“ trennt, damit „Ruhe ist vor diesem Geschrei“. Das ist kein Witz.

Der Text ist „so unwissenschaftlich, menschenverachtend und totalitär, dass einem die Worte fehlen. Die biologistische Ausgrenzung aus dem ‚gesunden Volkskörper‘ liegt erst 75 Jahre zurück! Julius Streicher hätte seine helle Freude an solchen Redakteuren!“, entsetzt sich der medienpolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs, Dr. Rainer Podeswa MdL, zugleich SWR-Rundfunkrat.

Er verweist auf die Resolution 2361 des Europarates, in der die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert werden, sicherzustellen, dass Impfungen nicht verpflichtend sind und niemand politisch, sozial oder anders unter Druck gesetzt werden darf, sich impfen zu lassen (Punkt 7.3.1). Und die müssten die Medien thematisieren, anstatt den Chaos- und Panikmodus der Regierungen zu reproduzieren.

Corona im Ranking der Todesursachen. Quelle: Deutsche Versicherungswirtschaft.

Wer jetzt meint, das sei der Gipfel der Bürgerbeschimpfung, musste sich in den Tagesthemen eines Besseren belehren lassen. Die MDR-Journalistin Sarah Frühauf durfte da kommentieren: „Die Impfverweigerer tragen Verantwortung dafür, dass die Gesellschaft wieder unter Druck gerät… Gastronomen und Ladenbesitzer um ihre Existenz bangen. Und sie müssen sich fragen, welche Mitschuld sie haben an den wohl tausenden Opfern dieser Coronawelle.“ Moment: Das Drittel Ungeimpfte hat Schuld, dass die Arznei bei zwei Dritteln Geimpfter nicht wirkt wie erhofft?

„Herzlichen Dank – an alle Ungeimpften“, fantasiert sie weiter. „Dank euch droht der nächste Winter im Lockdown – vielerorts wieder ohne Weihnachtsmärkte, vielleicht wieder ohne die Weihnachtsfeiertage im Familienkreis.“ Auch das ist kein Witz.

Leider ebenfalls nicht, dass die Dame an der Uni Leipzig studierte – zu DDR-Zeiten das „Rote Kloster“ für die Journalistenausbildung. Die Tagesthemen als neue Aktuelle Kamera? Eine „Tyrannei der schrägen Argumente“ konstatiert Ben Krischke im Cicero – lohnt schon die Untersuchung einer Lingua Corona Imperii? So viele Déjà-vus auf einmal kann man als linkssozialisierter Ostdeutscher gar nicht haben.

„Ausdruck von Hilflosigkeit“

Inzwischen läuft eine Anzeigenwelle gegen Frühauf wegen Volksverhetzung, die auch AfD-Vize Beatrix von Storch unterstützt; verschiedentlich wurde Frühaufs Entlassung gefordert. Für den Historiker Malte Thießen ist Corona „die erste Pandemie [..], in der wir Sicherheit über Freiheit stellen.“ Wird man diesen Geist nach einem möglichen Ende der Pandemie je wieder in die Flasche zurückbekommen?

Freiheit ist das zentrale Motiv unseres Grundgesetzes. Das Wort Sicherheit kommt darin nicht einmal vor, wohl aber die Abwehr von Seuchengefahr; allerdings an zwei anderen, jedoch ganz konkreten Stellen: der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Freizügigkeit.

Diese Balance wird von den Regierungen gerade grundlos zerstört, denn inzwischen kommt kein Politiker mehr umhin zuzugeben, dass die Impfung weder vor Infektion noch sicher vor schwerer Erkrankung oder gar dem Tod schützt – und auch nicht davor, andere anzustecken. Dieses Jahr ist die Inzidenz trotz Zweidrittel-Impfquote höher als letztes Jahr ohne Impfung.

Im Sommer 2021 lag die gemessene Rate der Impfdurchbrüche allein bei über 60-jährigen Covid-Patienten bei 40 Prozent; 80 % aller coronageimpften Polizeibeamten Sachsens sind inzwischen erkrankt. Geradezu hanebüchen ist die Behauptung, ungeimpfte Virenträger seien ansteckender als geimpfte. Nach dieser Logik wäre eine Frau im siebten Monat auch schwangerer als eine im vierten.

Kekule in der Welt. Quelle: Facebook.

Und selbst, wenn es nur noch Geimpfte gäbe, wäre es noch nicht vorbei: Dazu muss man nur nach Gibraltar schauen, wo statistisch gesehen 100% der Bevölkerung geimpft sind, aber die Inzidenz über 1000 liegt. Das Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“ ist selbst für Merkels Chefvirologen Drosten nicht haltbar.

Überdies ist ein Infizierter noch kein Kranker und ein Kranker noch kein Beatmungspatient auf der Intensivstation ITS. Stand 19. November waren deutschlandweit 19.723 ITS-Betten belegt. Zum selben Zeitpunkt 2020 waren es 21.934.

Das heißt, es liegen derzeit 2.211 Menschen weniger auf Intensiv als letztes Jahr zur gleichen Zeit. Wenn man aber auf die Zahl der freien Intensivbetten schaut: 6.273 im vergangenen Jahr gegen 2.455 derzeit. Aber irgendeinen Sinn wird der Intensivbettenabbau schon haben, auch wenn der sich nur den Abbauenden erschließt.

Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, in der 83 Millionen Menschen leben, bricht vorgeblich zusammen, wenn 4.700 Menschen mit Corona auf der ITS liegen – weniger als vor einem Jahr. Übrigens sind 50 % der Corona-Intensiv-Patienten Migranten, von denen bis zu 40 % kein Deutsch sprechen.

Während an den Pocken ungefähr jeder dritte nichtbehandelte Infizierte starb, hatten sich bis 19. November hierzulande 5.248.291 Personen mit dem SARS-CoV-2-Erreger infiziert, von denen 98.739 starben – das sind gerade 1,88 Prozent der registrierten Infizierten. In keinem Bundesland liegt die Rate der aktuell Infizierten über 1 %. Der Anteil der doppelt Geimpften an der Gesamtzahl der symptomatischen Covid-Fälle aber lag in der letzten Novemberwoche bei 48,2 Prozent, bei den über 60-Jährigen sogar bei 71,4 Prozent – und da soll die Impfung das Allheilmittel sein?

Zumal die vielzitierte Divi, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, eingeräumt hat, sie wisse gar nicht, wie viele Covid-Intensivpatienten tatsächlich ungeimpft sind, und aus Bayern und Hamburg inzwischen bekannt ist, dass alle Patienten mit unbekanntem Impfstatus statistisch den Ungeimpften zugeschlagen wurden. Statt über Bayerns fragwürdige Corona-Statistiken aufzuklären, stigmatisieren Politiker von CSU bis Grüne kritische Fragesteller als „rechtspopulistisch“, ärgert sich Tim Röhn in der Welt.

Dieses schäbige Manöver sei längst zum Muster dieser Pandemie geworden: „Man macht sich zum Sprachrohr der AfD, wenn man auf das Recht auf korrekte Zahlen pocht? Man muss bei derartigen Anliegen sicherstellen, keinen Applaus von den Falschen zu bekommen? Kritik an Lockdown-Maßnahmen üben? Vorsicht, hat schon die AfD gemacht. Verärgerung über Grundrechtsverluste? Oh oh, ganz heißes Pflaster. Zu viel Panik, zu viel Alarmismus sehen? Machen schon die ‚Querdenker‘, lieber nicht laut sagen. Masken weglassen, wie in Schweden? Du Corona-Leugner!!“ Es sei aber nicht „rechtspopulistisch“, auf Fakten zu pochen, so Röhns Fazit.

Für den Kinderarzt Steffen Rabe haben die Covid-Impfstoffe „überhaupt keinen relevanten Fremdschutz.“ Damit sei „jedwedes Argument für eine lmpfverpflichtung vom Tisch“, sagte er dem MDR. Er kenne kein Medikament und keinen Impfstoff der letzten 30 Jahre, „bei dem wir so eine schwere Erkrankung wie eine Herzmuskelentzündung mit einem zahlenmäßig so dramatisch hohen Risiko verbinden.“

Diese Impfpflicht sei „weder juristisch noch moralisch noch medizinisch in irgendeiner Art und Weise intelligent, sondern sie ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Kopflosigkeit.“ Der französische Publizist Emilie Chartier warnte schon im 19. Jahrhundert: „Nichts ist gefährlicher als eine Idee, wenn sie unsere einzige ist“ – zumal es gegen Delta und Omikron noch keinen Wirkstoff gibt.

„groteske Aufwertung von Dummheit“

„Die Frustrierten kanalisieren ihre Wut nun mit Lust auf die Sündenböcke, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sie von der Regierung betrogen wurden“, befindet Michael Klonowsky. Eher unfreiwillig bewies das Anfang Dezember der Tübinger Theaterchef Thorsten Weckherlin, der Ausnahmen für Booster-Geimpfte bei 2G plus forderte – die grünschwarze Landesregierung hatte die Bundesregelung nochmal verschärft. Er wies die Testpflicht nicht nur als „Drangsalieren der bereits geimpften Leute“ zurück – sondern argumentierte prompt, 2G plus sei eine „Genugtuung für die Impfgegner“.

Kiyak in der Zeit. Quelle: Facebook

Der Virologe Alexander Kekulé von der Uni Halle brachte die Causa in der WELT auf den Punkt: „Geimpfte glauben, sie seien sicher. Man hat sie falsch informiert.“ Wer aber ist „man“? Richtig, die Politik und in deren publizistischer Transmission die Medien, die den ungeimpften Skeptikern bis Verweigerern Schuld an allem geben, was man eigentlich der Regierung anlasten muss: „Sie werden sowohl für die Eindämmungsmaßnahmen wie für die Pandemie insgesamt verantwortlich gemacht“, erregt sich Rene Schlott im Cicero. Sie seien asozial, unsolidarisch und egoistisch, man soll den Kontakt zu ihnen meiden, ihnen die Ausreise verbieten, ihnen Lohn kürzen oder gleich den Job kündigen.

Im Zweifel sollten sie auch gar per Polizei dem Impfarzt vorgeführt werden können, wie beim Redaktionsnetzwerk Deutschland RND zu lesen war – und das in einer Tonalität, Lexik und vor allem Rabulistik, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Beispiele gefällig: „Eine pathetische Rhetorik der Freiheit ist fehl am Platz, wenn es um die alles erfassende Epidemie geht“, meint Boris Pofalla in der Welt. Denn: „Es war nicht von Anfang an offensichtlich, dass die Impfung eine simple und eher unspektakuläre Pflicht ist, wie das Befreien des Gehwegs vor dem eigenen Haus bei Eis und Schnee. Dabei kann man sich, wenn man Pech hat, die Knochen brechen – aber man muss es tun.“ Das ist kein Witz. „Satt“ hat es auch Kati Degenhardt auf t-online: „Warum fühlen wir noch immer mit den Ungeimpften, warum nehmen wir Rücksicht auf die Rücksichtslosen?“ Das ist klassische Projektion.

„Das radikale und öffentlichkeitswirksame Mittel der Impfgegnerschaft ist Ausdruck einer politischen Oppositionshaltung, die in keinem oder nur sehr geringem Verhältnis zu gesundheitlichen Bedenken steht“, befindet Mely Kiyak in der Zeit. Das sieht Ingo Way im Cicero reziprok. Eine einmal in Gesetzesform gegossene Pflicht, die auch regelmäßige Auffrischimpfungen einschließt, könnte auf Jahre hinweg das Geschehen prägen: „Denn welcher Politiker würde es wagen, die Abschaffung eines solchen Gesetzes zu fordern, wenn sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen ließe (Präventionsparadox), ob danach nicht wieder eine neue Epidemie droht“. Und er folgert: „Die mehrfach Geimpften, die irgendwann keinen weiteren Booster mehr wollen, sind die Impfverweigerer von morgen.“

Thomas Haselier verstieg sich unter der Schlagzeile „Tyrannei der Ungeimpften“ in der NWZ gar zu der Aussage, mit einer Impfpflicht endlich „Impfunwillige strafrechtlich verfolgen zu können“. Das brachte den coronakritischen Epidemiologen Friedrich Pürner, der von der Söder-Regierung als Amtsarzt im Kreis Aichach-Friedberg strafversetzt wurde, auf die Palme: „‚Tyrannei‘ ist etwas Illegitimes, Gewaltvolles, Willkürliches. Jeder hat aber das Recht über seinen Körper selbst zu bestimmen, ohne aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, als Asozialer, Extremist, Spinner oder Querulant zu gelten“, sagte er der Jungen Freiheit JF. Es geht nicht mehr, wird immer klarer, um die individuelle Gesundheit, sondern das Funktionieren eines kaputtgesparten Intensiv- und Pflegesystems. Das zeugt von einer mit Planlosigkeit gepaarten Übergriffigkeit zur Bemäntelung eigenen Totalversagens, die ihresgleichen sucht: Die Menschen sollen dem System dienen statt umgekehrt das System den Menschen. Das ist absurd, das ist beängstigend.

Heiko Maas zur Veranstaltungswirtschaft. Quelle: Facebook.

Staat und Regierung sind nicht die Hüter körperlicher Unversehrtheit, der Körper ist kein Volkseigentum. Offenbar vergessen manche, dass Infektion und Krankheit zum allgemeinen Lebensrisiko gehören: „Was ist dann mit Geimpften, die andere anstecken? Nach dieser Logik wären auch sie schuldig, da sie wieder ihre Freiheiten in Anspruch genommen haben, statt sich zu Hause zu isolieren“, so Pürner. Als auch Weltärztepräsident Montgomery die Tyrannei-Metapher beanspruchte, nannte ihn FDP-Vize Wolfgang Kubicki den „Saddam Hussein der Ärzteschaft“; ruderte später aber zurück.

„ich versuche, mich zu weigern“

 „Die Regierung hat sich in eine Sackgasse manövriert, als sie die Impfpflicht ausschloss“, behauptet Sophie Garbe im Spiegel und benennt als Ursache eine „falsche Definition des Begriffs Freiheit“. Wenn Kubicki fordert, Ungeimpfte nicht schlechter zu stellen, die Rechte von Minderheiten zu schützen und sie nicht „zum besseren Menschen erziehen“ zu wollen, sei das „schön. Aber auch ganz schön naiv.“ Denn in einer Situation, in der eine persönliche Entscheidung das Leben vieler weiterer Menschen beeinflussen kann, sei „es fatal, wenn die Politik Freiheitsideale hochhält, die das Recht auf Unversehrtheit vieler Bürger gefährdet.“

Die Freiheit des einen hört dort auf, wo sie die anderer beschneidet, folgert sie messerscharf und moniert ein „egoistisches Freiheitsverständnis“: „Das Recht des Trotzigen, in einer Burg aus Widerwillen und Desinformation zu verharren, wiegt darin mehr als das Recht der Kooperativen, zu einem freien und sichereren Leben zurückzukehren.“ Das ist auch kein Witz.

„Seit Pegida gibt es im politischen Raum eine groteske Aufwertung von Dummheit. Die berühmten Sorgen der echten Deutschen, die mal im Gewand von Ausländerekel oder Impfhass daherkommen, werden seitdem unentwegt höher bewertet als Forschung und Wissenschaft“, höhnt Kiyak. Ebenfalls im Spiegel dekretiert Christian Stöcker: „Vergesst den ‚Zusammenhalt“. Und die Süddeutsche nannte das Recht, selbst über eine Impfung zu entscheiden, „kindisch“ und rief den „November des Zorns“ aus.

Bendels konstatiert „niederste Instinkte“, wenn „gegenwärtig zum ersten Mal seit dem Ende des Totalitarismus erneut eine fest umrissene Bevölkerungsgruppe gezielt zum Objekt von Hass und Abscheu aufgebaut wird und ihre Unterdrückung von Politik, Medien, Wirtschaft, ja selbst Kirche nicht nur toleriert, sondern geradezu zur staatsbürgerlichen Pflicht stilisiert wird… – und es steht zu befürchten, dass die gegenwärtigen Maßnahmen nur der Beginn einer gefährlichen Spirale sein werden, an deren Ende einmal mehr die moralische Bankrotterklärung jener viel gepriesenen ‚europäischen Werte‘ stehen wird.“

Doch schon Bertrand Russell wusste: „Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle unrecht haben“: Bis zu Kopernikus‘ De revolutionibus orbium coelestium (1543) galt auch, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Way bringt die Argumente knappstmöglich auf den Punkt: „Es gibt keine Pflicht zur Selbstschädigung aus Solidarität. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des einen endet nicht da, wo die Angst des anderen beginnt.“

Diese Grenze verläuft fast exakt entlang der alten Zonengrenze, wundert sich Martin Machowecz in der Zeit. Ostdeutsche würden die Impfung für überflüssig halten, weil sie Corona weniger gefährlich finden als der deutsche Durchschnitt, und nähmen das Risiko zu erkranken in Kauf. Wer aber will ein Immunsystem besser einschätzen als dessen Träger?

Machowecz entblödet sich nicht, „ein kühleres, vielleicht schicksalergebeneres Verhältnis zu Krankheit, zu Lebensrisiken, zum Tod“ zu konstatieren, das er „voraufklärerisch“ findet. Das Gegenteil ist richtig: Wer die umfassende Allgemeinbildung der DDR-POS und EOS genossen hat, deren Biologie-Lehrpläne auch Charles Darwin, Robert Koch & Co. beinhalteten, steht aufgeklärt über der irrational-infantilen Todesangst Westdeutscher: Im Osten trifft das Virus auf Gegner, im Westen auf Opfer; im Osten geht man mit dem Tod um, im Westen will man den Tod umgehen. Die Vokabel „bequemlichkeitsverblödet“ des Magdeburger Politikwissenschaftler Thomas Kliche bekommt damit eine neue semantische Nuance. „Vom Osten lernen heißt Leben lernen“, so Andreas Lombard in Cato; ; das betrifft auch und erst recht den Umgang mit Covid, dem „Weltfeind Nr.1“, so Ulrich Schödlbauer auf TE.

„Die inquisitorische Stigmatisierung des Zweifels muss als Form struktureller Gewalt empfunden werden“, klagt Daniela Dahn in der BZ und empfindet es als „verletzend, sich für eine Nicht-Impfung rechtfertigen zu müssen“. Die Behauptung der Politik, es gehe beim Kampf gegen diese Pandemie um Leben oder Tod, war für sie „von Anfang an eine irreführende Anmaßung. Die Herrschaft über den Tod ist uns nun mal nicht gegeben… Aber je mehr künstliche Intelligenz wir kreieren, je mehr natürliche scheinen wir zu opfern.“

Reichelt auf Twitter. Quelle: Facebook

Stattdessen wäre man gut beraten, Krankheit nicht in einen Zusammenhang mit Schuld zu bringen. „Impfen als Akt der gesellschaftlichen Solidarität? Von da ist es nicht weit bis zur patriotischen Pflicht. Impfen fürs Vaterland. Demokratie trägt die Versuchung zu Totalitarismus immer in sich“, bilanziert Dahn. Es war schon immer einfacher, andere gegeneinander aufzuhetzen als eigene Fehler einzugestehen. So werden Dolchstoßlegenden geboren: Die Ungeimpften sind schuld.

Diese Grenze bereitet auch vielen reflektierten Publizisten Unbehagen: „Man wird eigentlich gezwungen, eine Seite zu wählen. Und ich versuche, mich zu weigern. Und das mache ich eigentlich auch als Folge des kantischen Imperativs. Weil ich würde am liebsten allen Menschen sagen: ‚Bitte weigert euch! Bitte weigert euch alle, bei dieser Form der Zuordnung mitzumachen!’“, sagt die brandenburgische SPD-Verfassungsrichterin und Autorin Juli Zeh auf Youtube. Das Virus wird bleiben und wir den Umgang mit ihm lernen müssen – einerlei ob wir das wollen oder nicht.

„Wer entschuldigt sich bei Millionen“

Der Widerspruch, jetzt eine Impfpflicht zu fordern, die zuvor über Monate ausgeschlossen wurde, bestärke jene, „die dem Staat ohnehin Unaufrichtigkeit unterstellen, in ihren schlimmsten Befürchtungen“, gesteht Machowecz. Ex-Bild-Chef Julian Reichelt wird noch deutlicher: „Die Impfpflicht, die nun kommen soll, ist der größte politische Wortbruch in der Geschichte der Bundesrepublik. Wer entschuldigt sich bei Millionen Menschen, die genau das vorhergesagt haben und dafür von ihrer eigenen Regierung als Wirrköpfe und Verschwörungsideologen beschimpft wurden?“

Und es ist ja weit mehr als nur Unaufrichtigkeit, wie Torsten Hinz in der JF herausarbeitete: Mittels einer künstlichen, auf Permanenz gestellten Dynamik, die alle persönlichen Energien absorbiere, werde „versucht, eine virtuelle Wirklichkeit mittels administrativer Macht in gelebte Realität zu verwandeln und sich das Leben zu unterwerfen.“ Ihre Wirkung bezieht diese Machttechnik „aus dem Appell an eine menschliche Urangst. Sie verspricht dem Einzelnen die Errettung vor dem Erstickungstod und fordert ihm dafür die Unterwerfung ab, was zur Paralysierung des gesellschaftlichen und privaten Lebens führt.“

Damit werde eine Gewissheit in Frage gestellt, die Konservative als letzte Rückversicherung für sich reklamieren: „die Gewissheit, dass die Wirklichkeit auf ihrer Seite steht und die harte, unwiderlegbare Faktizität alle ideologischen Modelle, Utopien, Weltverbesserungsphantasien wenn nicht über kurz, dann über lang außer Kraft setzt. Wir sehen, dass es möglich ist, eine virtuelle in eine faktische Realität zu übersetzen und die Menschen zu Komparsen in einem falschen Film zu machen.“

Maaz auf Youtube. Quelle: Facebook.

Als Gipfel dieser falschen Faktizität muss sicher die soziale Beweislastumkehr gelten: man soll jetzt nachweisen, gesund zu sein, ja sich „frei“ testen. Auf so eine Idee kam noch nicht mal Stalin. Man stelle sich vor, man würde zu 99,7 % keinen Krebs haben – aber vorsorglich zur Chemo gezwungen.

Wie und warum folgten bereitwillig Millionen Bürger, darunter eben auch Publizisten, in diese virtuelle Realität, lautet die drängende Frage. Vielleicht sollte man die Lektüre von Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ auf Wiedervorlage nehmen: „Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.“

Und so höhnen Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) aus dieser virtuellen Welt ihren Untertanen zu: „Menschen, die in einer eigenen Welt leben, die sind nicht mehr zu erreichen.“ „Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben“, wusste bereits Arnold Gehlen: „Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“

Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier konstatiert schon einen „gewissen Gewöhnungseffekt: Wer Maßnahmen, und seien sie noch so absurd oder diskriminierend, hinzunehmen lernt, der verliert auf der Strecke auch jegliche Sensibilität gegenüber anderen Freiheitseinschränkungen.“

Die Pandemie dürfe aber nicht dazu führen, eine ganze Gesellschaft dergestalt weichzukochen, dass einstige Dystopien als neue Realität akzeptiert werden. Entsprechend prophezeit Matissek: „Das Double bind des falschen Freiheitsversprechens gegen Impfung, das im Wahrheit sein Gegenteil bedeutete und trotz Spritze am Ende mehr Unfreiheit, mehr Unsicherheit, mehr Schaden brachte durch weiterhin bestehende ritualisierte Masken-Unterwerfung, Kontakt- und Abstandsregeln auch für Geimpfte: All dies macht ein Volk allmählich wahnsinnig“.

„Grundrechte, nicht Geimpftenrechte“

Es sind also nicht etwa die Gefahren, die vom wahrnehmbaren Zuzug hunderttausender fremder Menschen nach Deutschland ausgehen, darunter vieler krimineller junger Männer, Islamisten und Antisemiten, sondern die von einem unsichtbaren Virus, das keine Übersterblichkeit zeitigt und dessen Opferzahlen geringer sind als die im Grippewinter 2018. Trotzdem wurde Ende November hyperemotional verbreitet, dass die Zahl der Corona-Toten die „traurige Marke“ von 100.000 überschritten habe.

Was dabei vergessen wurde: Laut statistischem Bundesamt starben 2020 insgesamt 985.572 Menschen: 338 001 an Herz-/ Kreislauferkrankungen, 231.271 erlagen einem Krebsleiden. An COVID-19 als Grundleiden verstarben 2020 in Deutschland insgesamt 39.758 Menschen. Das RKI gab allerdings die Zahl von rund 70-80 Tausend an, die „an“ und „mit“ Corona 2020 verstorben sind. Fazit: Mit 4,03 % der Toten rangiert Corona in Wirklichkeit auf Rang sieben der häufigsten Todesursachen.

„Diese Zahlenspielerein des RKI sind hochgradig unseriös – sind die mehr als doppelt so vielen Krebstoten weniger wert?“, empört sich die sozialpolitische AfD-Fraktionssprecherin Baden-Württembergs, Carola Wolle MdL, völlig zu Recht. Allerdings passen hohe Zahlen blendend zum Regierungsnarrativ der Impfpflicht als angeblich einzigem Ausweg aus der Coronakrise. Obwohl in Frankreich und England die Impfquote höher ist, sind da auch die Todeszahlen höher. Interessant ist, dass das RKI selbst zugeben muss, dass die Sterbezahlen momentan wesentlich niedriger als im vergangenen Winter sind. Und dennoch wird unbeirrt am Impfen festgehalten.

Doch die Entdeckung immer neuer Covid-Varianten, Infektionswellen und -wege führt zu immer neuen Regelungen, Vorschriften, Beschränkungen, die für einen Normalbürger kaum noch überschaubar seien, so Hinz: „Dadurch werden die Menschen in eine ständige Unsicherheit, in sinnlose Bewegung und psychischen Stress versetzt, was zu Gereiztheit, Konkurrenz und Feindschaft zwischen den Individuen und den unterschiedlichen Segmenten der Corona-Gesellschaft führt.“ Die Paralyse, die Duldungsstarre macht die Bürger zu leicht kontrollier- und lenkbaren Objekten; die Panik lässt sich endlos verlängern, weil das Endziel – die Ausrottung des Virus – nie erreicht wird.

Schily in der Welt. Quelle: Facebook

Prompt behauptet der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs Winfried Kretschmann, man könne die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sich der Staat freiwillig zum Verantwortlichen der Spaltung macht und die Impfung „an sich zieht“. Das offenbart ein so despotisches Staatsverständnis, dass man langsam am grünen Verstand zweifeln muss. Es ist eben nicht „die Herrschaft des besseren Arguments“, sondern die des längeren politischen Hebels!

Einwände sind neben den Impfdurchbrüchen und den nachgewiesenen Herzmuskelentzündungen die unbekannte mRNA-Technologie und die Schnellzulassung bei parallelem Haftungsausschluss; manche Autoren wie auch der dieses Textes systematisierten bis zu 30 Gegenargumente – wer die alle ignoriert, lebt ähnlich der virtuellen Welt in einem virtuellen Faktenkorridor. Die Regierung zeige spätestens seit dem Aufkommen des Impfstoffs, „dass sie im Grunde verliebt in den Katastrophenzustand ist und diesen daher möglichst lange aufrechterhalten will“, mutmaßt Ulrike Stockmann auf achgut.

Wolle widerspricht auch Kretschmanns Behauptung, mit der Impfpflicht die Gesellschaft zu „befrieden“. „Das Gegenteil ist der Fall: Indem er zugab, dass man gar keine Gesetze bräuchte, wenn sich die Bürger ‚in unserem Sinne verhalten‘, offenbart er das obrigkeitliche Denken, das er seit seinen Maoistenzeiten nie ablegt hat. Die Bürger sind mündig genug, selbstverantwortlich zu handeln!“ Und eine „Zumutung“ sei nicht die Situation auf den Intensivstationen, sondern die Tatsache des Intensivbettenabbaus, des Pflegenotstands – und vor allem die tyrannische Vision von 2 G als künftigem Standard in der Gesellschaft.

Denn wenn die Maßnahmen nur zum Preis allgegenwärtiger Kontrollen und Verstoßmeldungen durchsetzbar sind, stellt sich für Schlott die Frage, welches Menschen-, welches Gesellschaftsbild solchen Vorstellungen zugrunde liegt: „Was verändert sich in den Köpfen der Menschen, die sich für jeden Aufenthalt im öffentlichen Raum demnächst wieder zu rechtfertigen haben und die entsprechenden Berechtigungsnachweise mit sich führen müssen?“ Die Enteignung des Körpers geht mit der Demütigung seiner Seele einher.

„selbstbewusstes Volk als Störfaktor“

In einer Logik, in der jeder Tod, ja jede Infektion als Systemversagen gilt, hat niemand eine Chance, der auf die langfristigen Folgen oder Nebenwirkungen kurzfristig erdachter Maßnahmen hinweist oder „danach fragt, ob es einen Kernbereich des menschlichen Zusammenlebens gibt, der vor staatlichen Eingriffen geschützt werden muss und ob das nicht vom Grundgesetz auch so vorgesehen ist, das in seinen ersten Artikeln fast ausschließlich Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat aufführt“, so Schlott. Er erkennt einen „Fünfkampf gegen die Freiheit“, der in den Kategorien „Ausgrenzung, Apokalypse, Abwertung, Aktionismus und Anklage“ ausgetragen werde.

Die Impfpflicht ist eine Maßnahme, die in der Nähe einer Menschenwürdeverletzung liegt und, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden kann, so der Jurist Kai Möller in der Welt. „Von einer Person zu verlangen, sich impfen zu lassen, um eine andere Person zu schützen, die sich aus freien Stücken gegen eine Impfung entscheidet, entspricht einer solchen Ausnahmesituation nicht ansatzweise. Hierin liegt der moralische Kernfehler der aktuellen Vorschläge zu einer Impfpflicht.“ Es liege etwas Dunkles und Hässliches, etwas „Totalitäres darin, von einer Person unter Strafandrohung zu verlangen, sich gegen ihren Willen eine Flüssigkeit in den Körper injizieren zu lassen, die dort eine physiologische Reaktion auslöst.“

Corona-Werbeevent. Quelle: Facebook

Laut Grundgesetz heißt es aber immer noch Grundrechte, nicht Geimpftenrechte. Art. 3 Ziff. 3 verbietet Benachteiligung, etwa wegen des Glaubens – aber wegen eines Impfstatus ist sie erlaubt? Macht es Spaß, im Theater zuerst nach seinem Impfausweis gefragt zu werden oder eine Kunstausstellung nur mit Dokument betreten zu dürfen?

In Art. 19, Abs. 2 heißt es ausdrücklich: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Genau dieser Wesensgehalt wird aber angetastet, so Alexander Grau im Cicero, „wenn man bereit ist, fundamentale Grundrechte für einen hilflosen Aktionismus außer Kraft zu setzen, und etwa Ausgangssperren erlässt, die erkennbar keinerlei direkten Einfluss aus das Infektionsgeschehen haben.“

Die Goldmedaille im Absurditätswettstreit geht an die KZ-Gedenkstätte Buchenwald, in der jetzt 2 G gilt. Titel der Dauerausstellung: „Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“. Noch verbieten sich Vergleiche von Juden und Ungeimpften. Noch. Setzt Österreich seine Pläne um, Impfverweigerern halbjährlich pro abgelehnte Spritze 2000 Euro Strafe zu berechnen und Zahlungsverweigerer für ein Jahr in separierte (!) Beugehaft zu nehmen sowie die Haftkosten zahlen zu lassen, ist auch das passé.

Stockmann verweist auf den Widerspruch, dass es vor wenigen Jahren hieß, eine Altersbestimmung vorgeblich minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge durch Röntgen der Hand sei ein „Eingriff in die Menschenwürde“: „Warum ist der Zwang zur neuartigen Corona-Impfung kein ‚Eingriff in die Menschenwürde‘? Warum skandieren gewisse Kreise mit Vorliebe ‚kein Mensch ist illegal‘, aber Ungeimpfte werden mit Freuden in die Illegalität getrieben?“

Zur Erinnerung: „Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben“, so Außenminister Heiko Maas (SPD) im Juli, „gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung.“ Gesagt, vergessen.

Jens Woitas mutmaßt auf dem Blog Wir selbst, dass wir „in Zeiten eines modernen Feudalismus leben, in dem Untertanengeist gefragt ist und ein kulturell und ethnisch selbstbewusstes Volk allenfalls als Störfaktor für die Herrschenden wahrgenommen wird“. Dieser Heßling’sche Untertanengeist in Kombination mit autoritärer Verbotskultur erweist sich tatsächlich als Schlüssel des Mediendiskurses – und erklärt zugleich seine argumentative Gleichförmigkeit.

„zu stark die Gier der Mächtigen“

So schreibt Pofalla etwa: „Den Leuten nicht bei allem die Wahl zu lassen, kann vernünftig sein – ebenso wie es vernünftig sein kann, mal einer Pflicht einfach nachzukommen, anstatt endlos darüber zu diskutieren, ob sie wirklich, wirklich notwendig ist.“ Der Zweck einer Impfung aber ist ein medizinisch-individueller, kein sozialer. Fast scheint es, als wird damit das seit 2015 verbreitete Narrativ, das Fremde höher zu schätzen als das Eigene, auf die Spitze getrieben. „Warum gehorchen die Deutschen nicht mehr?“ fragt gar Hannes Soltau im Tagesspiegel und beklagt einen „antiautoritären Anarchismus“. Ich gehorche doch im Sinne der Volksgemeinschaft, klingt da unausgesprochen mit, warum bloß gehorchen so viele nicht, wo doch Gehorchen so deutsch ist wie der Führerbefehl?

In seinem eigenwilligen Blick auf den „renitenten Volkskörper“ konstatiert Sascha Lehnartz in der Welt ein „sehr deutsches Körpergefühl“. Zur Erklärung zieht er den Basler Wirtschaftshistoriker Oliver Nachtwey heran, der im DLF zum einen eine ausgeprägte Skepsis gegenüber staatlichen Strukturen in föderalen Systemen erkannte. Zum anderen aber sei der Einfluss der Anthroposophie und ganzheitlicher bis esoterischer Lebensentwürfe deutlich stärker als in anderen europäischen Ländern: „Da kommen quasi linke kulturelle Merkmale mit rechter Politisierung zusammen, und das macht diese extrem toxische Mischung der Impfverweigerung gerade aus“.

Auf die Idee, dass Menschen aus der Kombination genau solcher ideologisch linker und rechter „Zuschreibungen“ ihre individuelle Mitte, ihre Ganzheitlichkeit konstituieren, über deren Normalität sie gar nicht nachdenken, kommen beide Autoren gar nicht mehr.

Carpendales Boosterspot im Netz. Quelle: eigene Collage

Bendels fragt, ob die Covid-Strategie der vergangenen anderthalb Jahre nun eher von der Inkompetenz oder vielmehr der Verlogenheit unserer Eliten zeugt: „Denn in demselben Grade, wie sich die Angst vor einer globalen Zombie-Apokalypse als völlig unberechtigt und das Killer-Virus sich als durchaus mit schwereren Grippewellen vergleichbar herausstellte, wurden die Maßnahmen gegen die Pandemie in einer solchen Weise verschärft, dass eine Rückkehr zur Normalität wohl ebenso unmöglich geworden ist wie eine neue Vertrauensbildung in das, was von unserer Demokratie noch übriggeblieben ist.“

Er ist skeptisch ob der Hoffnung, aus diesem „absurden, aber hochgefährlichen Narrativ auszubrechen, das noch vor zwei Jahren als unglaubwürdige Dystopie belächelt worden wäre“: Zu stark sei der Mensch dem Konformitätsdruck der Medien ausgeliefert, „zu stark die Gier der Mächtigen, sich der ungeahnten Vorzüge zu bedienen, die ihnen die Pandemie liefert, zu stark wohl auch die Verführung, Eigenverantwortung abzugeben und durch Gehorsam nach oben und Ressentiment nach unten zu ersetzen.“ Insofern sollte der Plan des „Wellenbrecher-Lockdown“ lieber als das benannt werden, was er ist: ein die Impfpflicht präparierender Willenbrecher-Lockdown.

„Der selbstgerechten Masse in ihrer Niedertracht ist es ganz gleich, ob sie ihren Gruppenrausch in der gemeinschaftsstiftenden Erniedrigung und Verfolgung von ‚Ungeimpften‘ auslebt oder in der von Merkmalsträgern, die – je nach herrschendem Regime – durch Abstammung, Glauben, politische Überzeugung oder wirtschaftliche Situation definiert werden“, wütet Daniel Matissek auf seinem Blog Ansage. „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“, ermunterte der jüdische Publizist Chaim Noll auf achgut und bezog sich auf das 2. Buch Mose 23,2.

Daran sollte man sich gerade in Tagen erinnern, „in denen eine – oft nur dreist proklamierte – Mehrheit zum Fetisch erhoben wird und Abweichler, Andersdenkende, alle Arten ‚Verweigerer‘ und ‚Leugner‘ der Mehrheitsmeinung von Delegitimierung, Denunziation, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind.“ Wer sich dem öffentlichen Druck anpasst, wird allgemein akzeptiert, gefördert, genießt vielleicht auch die finanziellen Segnungen des Mitmachens, so Noll. Auf der anderen Seite schadet man der eigenen Gesundheit, in dem man Emotionen unterdrückt, erkennt Noll, man verkümmert menschlich und zerstört vielleicht das Beste in sich selbst.

„Das, wofür Menschen heute geächtet werden im Kontext einer Experimentalimpfung gegen ein Virus, das nicht ansatzweise das Bedrohungspotential für eine echte Gesundheitskatastrophe hat (verglichen mit Krankheiten, gegen die wohlbegründete Impfpflichten bereits bestehen!), ist in Wahrheit das Hochjazzen einer freien Willensentscheidung zum Verbrechen, weil diese einem längst übergriffigen Staat nicht in den Kram passt“, meint Matissek.

„darunter brodelt die Barbarei“

Für Schlott ist es nur eine Frage der Zeit, bis der politisch-mediale Erregungschor auch dem letzten Menschen im Land Lebensfreude und Zuversicht geraubt hat. „Weihnachtsfeiern, Weihnachtsmärkte, Karneval, Laternenumzüge: Wer jetzt nichts absagt, gilt als asozial.“ Doch damit stünden alle über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen sozialen Bindungen und Beziehungen der Menschen, alle gemeinschaftsstiftenden Traditionen zur Disposition und gelten im Zweifel als gefährlich.

Auch hier interessiert sich kaum jemand dafür, wie sich dies langfristig auswirken wird und was man einer Gesellschaft zumuten kann, bevor die Friktionen zum offenen Bruch führen. Der vom MDR geschasste Ost-Kabarettist Uwe Steimle übt sich in Zynismus: „Es gab Zeiten, Landsleute, da wurde man wenigstens noch gefragt, ob man den totalen Krieg überhaupt will.“

Die Anspielung wurde Anfang Dezember auf erschreckende Weise in die Realität geholt: Von ZDF-Comedian Sarah Bosetti, die mit Blick auf die Impfdebatte auf ZDF-Comedy (!) fragt, ob die Spaltung der Gesellschaft „wirklich etwas so Schlimmes“ wäre. Allen Ernstes schwadroniert sie dann: „Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“

Das ist nicht nur historisch ahnungslos, sondern selbst faschistoid, indem andere für wertlos und verzichtbar erklärt werden. Und das ZDF produzierte diese Ungeheuerlichkeit nicht nur, sondern verbreitet sie immer noch: Die Verrohung schreitet voran; Eskalationsstufe „Humor auf SS-Niveau“.

Bosetti-Tweet. Quelle: Twitter

Denn der Auschwitzer KZ-Arzt und SS-Sturmbannführer Fritz Klein, der 1945 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, schrieb einst: „Aus Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben würde ich einen eiternden Blinddarm aus einem kranken Körper entfernen. Der Jude aber ist der eiternde Blinddarm im Körper der Menschheit.“

„Im 21. Jahrhundert sind wir wieder soweit“, erregt sich Baden-Württembergs AfD-Fraktionschef Bernd Gögel MdL, „dass solche Metaphern witzig gefunden und mit unseren Zwangsgebühren gesendet werden – Zwangsgebühren übrigens auch von Ungeimpften, mit denen Bosetti bezahlt wird.“ Damit beweist sich einmal mehr das Diktum des Schweizer Soziologen Kurt Imhof „Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei“.

Eigentlich müsste ein objektiv dringend angebrachter Argwohn gegen Zwangsmedikationen und -therapien – gerade bei einem Volk mit dieser Vorgeschichte – das Fühlen, Denken und Handeln der Mehrheit bestimmen. Das Gegenteil ist der Fall.

„Und mich regen wirklich all die auf, die es immer noch nicht begreifen. Alle müssen mitmachen, sich an die Regeln halten, sich impfen lassen! Sonst schaffen wir es nicht und es nimmt nie ein Ende mit Corona“, geifert etwa Degenhardt: „Wenn ein Lockdown kommt, dann seid ihr daran schuld.“

Die physische Integrität eines Menschen, die Würde des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung dürfen aber nicht aus pragmatischen Erwägungen zur Disposition gestellt werden, befindet NZZ-Chefredakteur Eric Gujer: „Sie gelten absolut, unabhängig von der Mehrheitsmeinung. Das trifft besonders auf medizinische Eingriffe zu. Die Auswüchse staatlicher Zwangsmedizin waren in der Vergangenheit zu barbarisch, als dass das Gespür für die Anfänge solcher Fehlentwicklungen verlorengehen darf.“ Schon Alexander Solschenizyn wusste: „Die Grenze zwischen Gut und Böse läuft geradewegs durch das Herz jedes Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?“

Nach Ole Skambraks (SWR) haben mit Jörg Zajonc (RTL West) und Tim Röhn (Welt) zwei Journalisten dieses Gespür jüngst wiederentdeckt und öffentlich gemacht: „Offenbar wachen immer mehr Journalisten langsam aus ihrem Dämmerschlaf auf, der sie zu Sachwaltern statt Kritikern der grassierenden Corona-Einheitsberichterstattung werden ließ“, kommentiert das Podeswa. Röhns Fazit lautet, dass in der Corona-Krise der Journalismus seine zentrale Aufgabe vergessen habe und schleichend dazu übergegangen sei, „Skepsis und Kritik als schädlich zu stigmatisieren“.

Die Vorwürfe an seine Zunft „als Verteidiger der Mächtigen“ wiegen sehr schwer. Sie würden sie gegen jeden Zweifel und jede Skepsis verteidigen, „als wären sie ihre PR-Manager“. Ein Tiefpunkt dieses PR-Journalismus war Anfang Dezember Anne Hähnigs „Reden, bis der Arzt kommt“ über Sachsens Regierungschef in der Zeit, in der etwa zu lesen war: „Er muss ausgerechnet jene Leute vor dem Virus retten, die offenbar nicht gerettet werden möchten und ihn dafür sogar hassen.“ Das steht tatsächlich so da. Man könne eine Person aber nicht zu ihrem eigenen Schutz zwingen, sich impfen zu lassen: Dies wäre „eine nicht zu rechtfertigende medizinische Bevormundung“, so Möller.

Solcherart Bevormundung ist aber kein Merkmal von Demokratien, sondern gleichgeschalteten Diktaturen, in denen die vierte Gewalt Bestandteil nicht nur der ersten ist, moniert Podeswa. „Die anfängliche Auseinandersetzung mit einer möglichen Erkrankung ist zu einer umfassenden massenpsychotischen Angststörung geworden“, resümiert der Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz. Wobei, muss man hinzufügen, die Angst vor einer künstlichen Plörre im Körper offenbar geringer ist als die Angst vor einer Erkrankung, die nach Tagen überstanden sein, ja symptomlos verlaufen und dabei zu (lebens)langer Immunität führen kann.

„Ende der offenen Gesellschaft“

„Bedenkt irgendjemand noch, dass wir nach einem Ende der Pandemie wieder zusammenleben müssen in diesem Land“, fragt Schlott, und wie das „gelingen soll, wenn sich jede Instanz, die dann wieder zusammenführen könnte (Bundespräsident, Kirchen), zuvor aktiv an der gesellschaftlichen Spaltung beteiligt hat?“ Was unter Joachim Gauck begann, beherrsche seit dem Antritt Frank-Walter Steinmeiers die Normalität, ärgert sich Marco Gallina auf TE: „Nicht der Zusammenhalt des Landes – wer wagt noch von Nation, gar Volk zu sprechen? –, sondern die richtige Unterweisung in dem, was richtig und falsch, was nachahmenswert und was verfehlt ist, prägt nunmehr den Duktus des Staatsoberhauptes.“

Einen Versuch der Zusammenführung unternahm dagegen der linke Bürgermeister der Thüringer 8000-Seelen Gemeinde Neuhaus am Rennweg, Uwe Scheler, der auf der Internetseite seiner Verwaltung schrieb: „Stellen wir gemeinsam nicht mehr die Frage nach der Schuld. Grenzen wir niemanden aus, weil er etwas nicht genauso macht, wie wir es selbst machen. Ziehen wir in Erwägung, dass der andere eventuell auch Recht haben könnte.“

Steimle im Netz. Quelle: Facebook.

Man kann sich des Eindrucks eines staatlich organisierten Gefügigkeitsgroßversuchs nicht mehr erwehren: Promi-Clips wie Howard Carpendales Boosterspot „Hello again“, Bratwurst-Werbeaktionen oder gar Impfprämien unter dem Label „Aus Corona herauskaufen“ senden Signale für das, was Merkel schon vor Jahren als „Nudging“ dem Volk zur Folgsamkeit verordnete.

Nach dem Auslaufen der „pandemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist selbst die FDP inzwischen für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen: „Freiheit ist kein Konzept, das durch Grenzenlosigkeit geprägt ist“, irrlichterte Parteichef Lindner jüngst im Spiegel. Es blieb dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck vorbehalten, die Zuspitzung auf die Spitze zu treiben: Ungeimpfte seien einfach nur „Bekloppte“. 

Gehorsam, der „ewig verweigerte Orgasmus einer frigiden Kulturnation im Klemmgriff ihrer ‚Erinnerungskultur‘“, kann jetzt endlich wieder eingefordert werden, ergötzt sich Fabian Nicolay auf achgut und erkennt die „kollektive Behauptung einer Gemeinschaftsveranlassung, deren Kern das Solidarisch-Volksgesundheitliche, die Ausdeutung von neuen Volksfeinden, Sündenböcken und Abweichlern ist.

Im Angesicht des Autoritären, Unnachgiebigen und Strafenden werde der Masse eingetrichtert: Widerstand ist zwecklos und asozial. „Das ist die deutsche kleinbürgerliche Wiederaufbereitung kritischer Massen im Schnellen Brüter politischer Allmachtsphantasien.“ Gar das „Ende der offenen Gesellschaft“ nimmt Grau wahr; einen bigotten „Appell all jener, die gerne von Mitmenschlichkeit reden, aber Gehorsam meinen … En vogue sind Gefolgschaft und Gleichschritt. Erwartet wird Geschlossenheit.“

„Die Einförmigkeit der veröffentlichten Meinung dürfte auch in anderen historischen Kontexten dem heutigen Gleichschritt der Massen entsprochen haben“, schreibt Felix Perrefort auf achgut. Dabei haben wir es mit einem doppelten Gleichschritt zu tun: Zum einen ist die einende Gegnerschaft zu Ungeimpften gleichmacherisch. Zum anderen aber muss eine bundesweite Impfpflicht als Höhepunkt kommunistischer Nivellierung gelten. Monika Hausamann konstatiert im EF-Magazin ein „Klima, in dem Impfausweise Tugendausweise sind und wie Verdienstmedaillen herumgezeigt werden.“

Für Gérard Bökenkamp zeigt sich auf achgut ein Konflikt zwischen den Anhängern einer kollektivistischen und einer individualistischen Ethik, wobei Fakten nicht darüber entschieden, was ethisch geboten sei: „Wenn sich die Temperatur auf der Erde erwärmt, folgt daraus keineswegs zwingend eine bestimmte Norm für das Verhalten des Einzelnen. Aus dem Umstand steigender Infektionszahlen folgt nicht, dass der Einzelne dazu verpflichtet ist, Grundrechte aufzugeben. Aus überbelegten Intensivbetten folgt für den Einzelnen keine Pflicht, sich impfen zu lassen.“

Wer Zahlen in die Welt setzt und meint, daraus ergäben sich die Schlussfolgerungen für das Handeln des Einzelnen von selbst, setze auf die psychologische und emotionale Überwältigung seines Gegenübers, was an sich aber noch kein Argument darstelle – denn wenn eine Impfpflicht Leben rette, dann dürfte der Staat in letzter Konsequenz auch eine Blut- oder gar Organspendepflicht etablieren, um Leben zu retten.

„Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“

Dabei frappiert, dass in Carl Schmitts „rechtem“ Diktum „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ das Substantiv inzwischen um das „linke“ Personalpronomen „wir“ ergänzt werden kann. Die „Neuen Deutschen Medienmacher“ um ihre Frontfrau Ferda Ataman setzten es 2014 noch auf die rote Liste der auszumerzenden Vokabeln, weil es „ausgrenzend verwendet werden“ kann: Für „wir Deutsche“ ohne Migrationshintergrund.

Und auf der Webseite der Amadeu-Antonio-Stiftung heißt es: „Die Einteilung von Menschen in ‚wir‘ und die ‚anderen‘, die vermeintlich weniger wert sind, ist die Grundlage von Ideologien der Ungleichwertigkeit.“ „Als hätte es diese schwersten Bedenken gegen das Wir nie gegeben, benutzen Corona-Bekämpfer in Politik und Medien die Vokabel mittlerweile exzessiv – zum einen als Majestätsplural, zum anderen zur Kollektivformung“, resümiert Jürgen Schmid auf publico.

Er sieht als Tiefpunkt der Ausgrenzungs-Rhetorik den Satz „Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“ des Datenethikers Rolf Schwartmann auf web.de. In der aktualisierten Fassung dieses Beitrags ist das Wort „Volksfeind“ nicht mehr zu finden, aber in einem redaktionellen Hinweis an dessen Ende – mit der Berufung auf Ibsens Drama „Ein Volksfeind“. Aber wehe, ein AfD-Funktionär nutzt das Adverb „entartet“, das von dem jüdischen Publizisten Max Nordau bereits 1892 geprägt wurde…

Das Volk wird plötzlich wieder als Schicksalsgemeinschaft verstanden, unbedingte Impfbereitschaft als patriotische Pflicht gefordert unter Hintanstellung individueller Befindlichkeiten: „Bei der überhitzten Impfdebatte geht es nicht um Meinungen, Rechte und individuelle Freiheit. Es geht um Haltung“, verkündete Anders Indset in der FAZ.

Haltung? Das ist ebenfalls kein Witz. Willkommen in der DDR. Der Psychologe Rainer Mausfeld wies auf heise.de nach, „dass in allen Machtstrukturen besonders Journalisten, Intellektuelle und Wissenschaftler, die in gesellschaftsrelevanten Bereichen arbeiten, eine Tendenz aufweisen, sich wie Eisenspäne in den Kraftfeldern der Macht auszurichten.“

Doch weder ein altes noch ein neues „wir“ führt zum erwünschten Zusammenhalt, wie er am Anfang der Corona-Krise gebetsmühlenartig auf allen Kanälen beschworen wurde. „Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft in bisher unbekanntem Ausmaß, weil diejenigen, die es benutzen, ein Feindbild zur Festigung des Wir kultivieren zu müssen glauben, das eine Minderheit markiert und ausschließt“, meint Schmid.

Strate im Cicero. Quelle: Facebook.

Diese Praxis stehe eigentlich für das Gegenteil von allem, was diskriminierungssensible Progressive für richtig halten, und führe zu querfrontartigen Annäherungen. Dass eine paternalistische Impfpflicht „die Freiheit schützt“, wie die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Bayern erklärten, stellt die Freiheit paradoxerweise ebenso in Abrede, wie sie als Begründung beschworen wird: das Paradox von negativer und positiver Freiheit, von „Freiheit von“ und „Freiheit zu“.

Für Max Mannhart ist auf Tichys Einblick die Frage der Impfpflicht „nicht weniger als die Frage, ob wir weiterhin Bürger sind: frei und gleich an Rechten, nicht dem willkürlichen Zwang anderer unterworfen – oder ob wir nur Bewohner sind, nur Räder in einem Getriebe zur Verwirklichung eines vermeintlichen Gemeinwohls.“ „Die Impfpflicht ist eine verfassungswidrige Anmaßung des Staates“, erkennt sogar Grünen(!)-Urgestein Otto Schily (jetzt SPD) in der Welt.

„Eine allgemeine Impfpflicht wird die schon jetzt erkennbaren Spaltungstendenzen in der Gesellschaft auf hochgefährliche Weise verstärken bis hin zu Gewaltausbrüchen. Das ist nicht zu verantworten“. Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China bestehe eine allgemeine Impfpflicht, so Schily.

„Die wäre nicht nur nicht verfassungskonform, sie ist auch ein untaugliches Instrument zur Verhinderung der Ausbreitung des Covid-19-Virus. Sie dient nur der Vernebelung der Tatsache, dass die Politik offensichtlich nicht imstande ist, sich auf die Maßnahmen zu verständigen, die wirklich der Gesunderhaltung der Menschen dienen.“

Marguier warnte gar vor dem Eindruck, „dass da gerade mit der Schrotflinte in den dunklen Raum geballert wird. Und zwar als pures Ablenkungsmanöver. Die Ungeimpften mögen sich irrational verhalten, zumindest aus epidemiologischer Makro-Perspektive. Für die Politik sind sie derzeit aber zweifelsfrei ein Mittel zur Rechtfertigung eigener Unzulänglichkeit.“ Kaiser Augustus wird der Satz zugeschrieben: „Nichts ist besser als einen erfundenen Feind zu schaffen, um das Volk in Schach zu halten.“ Und am besten ist ein erfundener unsichtbarer Feind, mag man heute ergänzen.

„verfassungswidrige Anmaßung des Staates“

Mit Blick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil erregt sich auch Gerhart Strate im Cicero: „Beinhaltet das Recht auf körperliche Unversehrtheit tatsächlich einen Anspruch darauf, von staatlicher Seite vor Erkrankungen geschützt zu werden? Geht diese Schutzpflicht des Staates sogar so weit, dass Menschen auch gegen ihren Willen vor den Unbilden des Lebens zu bewahren sind?“

Folgerichtig fragt er, ob Übergewichtige dann auch zur Zwangsdiät verdonnert oder Nikotinkonsumenten durch staatlichen Eingriff zum Entzug genötigt werden können: „Mit juristischer Scheinlogik konstruieren jedenfalls ließen sich entsprechende Übergriffigkeiten auf diesem Wege mühelos. Damit hätte das Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Unschuld verloren.“

Selbst für den eher linken Juristen Heribert Prantl laufen die Beschlüsse auf den falschen Satz hinaus, „dass Not kein Gebot kennt. Die Gebote stehen aber im Grundgesetz, sie müssen geachtet, geprüft und gewichtet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die einzelnen Freiheitsgrundrechte nicht gewogen, aber für zu leicht befunden.“ Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit sei ein großes, wichtiges, wertvolles Grundrecht. „Aber es müssen nicht automatisch alle anderen Grundrechte beiseitespringen, wenn der Staat auch nur behauptet, dass die Maßnahmen, die er verordnet, dem Lebensschutz dienen.“

In Karlsruhe residiere nicht das RKI, sondern das Verfassungsgericht, das andere Aufgaben als das Robert-Koch-Institut habe: „Das Gericht übernimmt die Maßstäbe der Politik. Das Grundgesetz wird von Karlsruhe quasi unter Pandemievorbehalt gestellt“, so Prantl. „Der Körper ist das Hoheitsgebiet des Bürgers und kein sozialpflichtiges Eigentum, über das dessen Angestellte auf Zeit, denn das sind Regierende in der Demokratie, nach Gutsherrenart entscheiden könnten“, befindet der Bioethiker Stefan Rehder in der Tagespost.

„Die von Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht vertretene Auffassung, dass die kollektive Impfung in der gegenwärtigen Situation alternativlos sei, ist nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand unhaltbar“, heißt es in einer Stellungnahme von drei Dutzend Hochschulmedizinern, die Anfang Dezember auf achgut verbreitet wurde. „Es gibt keine den üblichen Standards folgenden wissenschaftlichen Daten, die belegen, dass die Impfung für jede Bürgerin, jeden Bürger unabhängig von Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen oder anderen Faktoren mehr Nutzen als Schaden stiftet.“ Dem Staat fehle „jegliche wissenschaftliche, rechtliche und ethische Legitimation, sich über den Willen von Bürgerinnen und Bürgern hinwegzusetzen.“

Für Bendels greift „durch die untrennbare Verbindung von Lockdown, Impfpflicht und der Ausgrenzung von Impfgegnern mit dem ideologischen Arsenal der Linken – Transhumanismus, Planwirtschaft, Great Reset, Green Deal, Massenüberwachung, ‚Kampf gegen rechts‘ – mittlerweile ein Räderwerk zusammen, das in seinem totalitären Machtanspruch mit dem geistigen Instrumentarium klassischer Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu fassen ist“.

Mit dem Schuldspruch über die „Ungeimpften“, erschüttert sich Ulrich Schödlbauer auf achgut, betritt zum ersten Mal offen das mythische Opfer, volkstümlich „Sündenbock“ genannt, die parlamentarische Bühne der Bundesrepublik: „Das ist ein historischer Einschnitt ersten Ranges. Siebzig Jahre lang galt die Abwehr solcher Tendenzen als gemeinsame Pflicht aller Demokraten, plötzlich wird das Mitmachen Pflicht. Ein Ethos verkommt zum Mittel des Totschlags. … Eine Politik, die den Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht findet (stattdessen kontrafaktische Exit-Strategien propagiert, deren Erfolg angeblich an der Verweigerungshaltung einer Minderheit scheitert), zeigt, dass sie zum Bestandteil des fatalen Sündenbock-Prozesses geworden ist.“

Tatsachenverachtung ist laut Hannah Arendt ein Wesenszug totalitärer Propaganda. Sie zielt darauf, die eigenen Lügen so zu globalisieren, dass sie unumstößlich und damit wahr werden. In diesem Szenario sind wir angekommen. So wird eine Impfpflicht als einziger Ausweg gepriesen, obwohl zugleich 2 G +, wie bspw. im Handel, einen Test von doppelt und dreifach Geimpften erfordert. So surreal kann man gar nicht denken. Ernsting-Chef Timm Homann nannte den „Regelungsirrsinn“ im Spiegel „unverhältnismäßig, ungesetzlich, undemokratisch“ und versprach, gegen diesen „unfassbaren Dilettantismus“ zu klagen „bis zum letzten Euro“.

Soll Freiheit ab jetzt ein sich regelmäßig verschiebendes Ablaufdatum haben, das derzeit 6 Monate beträgt? Und prompt kommt Markus Söder (CSU) mit seinem Plan einer Impfpflicht ab 12 daher – und gesteht gleichzeitig STIKO-Chef Mertens, seine eigenen Kinder nicht impfen zu lassen! Nach der Spaltung der Erwachsenen folgt jetzt auch die Spaltung der Kinder? Mertens sende damit ein „fatales Signal“, urteilt übrigens Benjamin Hirsch im Focus, das „kann und darf er sich nicht mehr leisten“. Was für eine anmaßende Arroganz.

Weil Impfen als „Selbstzweck… die Legitimität des politisch-medialen Komplexes sichert“, begründet Hinz seine Ablehnung, wäre eine Impfpflicht „der Befehl an jeden, sich total, auf Gnade oder Ungnade, in die Hände einer zweifelhaften Obrigkeit zu begeben und sich seine Unterwerfung in den Körper einschreiben zu lassen.“

Freiheit, wusste schon Schiller, kann man aber nur nehmen, nicht geben. Ergo kann man sich aus keiner Obrigkeit herausgehorchen, einerlei ob sie im Gewand eines diktatorischen Sozialismus oder eines biopolitischen Absolutismus daherkommt. Gefragt ist jetzt Widerstand.

Eine Notpraline

Wer 100 Gramm von ihnen verspeist, hat 407 Kilokalorien aufgenommen. Dieselbe Menge Zimtsterne liegt mit 358 Kilokalorien leicht drunter, dieselbe Menge Christstollen mit 412 Kilokalorien kaum drüber. Wenn ein gesundheitsbewusster Genießer zu den Feiertagen Fisch bevorzugt, könnte das auch an dessen Energiebilanz liegen: 100 Gramm Karpfen schlagen gerade mit etwa 111 Kilokalorien zu Buche. Aber wer wiegt schon Karpfen gegen Dominosteine auf? ALDI Süd hat es 2019 verkündet: sie wurden in seinen Filialen als beliebtestes Weihnachtsnaschwerk am häufigsten verkauft – vor dem Nugat-Baumstamm und Gewürz-Spekulatius. Nach einer Erhebung des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie führten allerdings Lebkuchen vor Spekulatius und Stollen in der Beliebtheitsskala; die Dominosteine landeten auf Platz Vier.

Doch Platzierung hin oder her: auf den Inhalt kommt es an. Die Marketingreferentin des Dresdner Traditionsbäckers Dr. Quendt, Claudia Heller, hatte für die Rheinische Post ein wenig Warenkunde parat: „Es gibt den feinen und den feinsten Dominostein. Beim Feinen können die mindestens zwei Lagen Füllung Frucht, Marzipan oder Persipan enthalten.“ Im Feinsten dagegen seien immer ausschließlich Marzipan und Frucht. Sei es im Original mit Sauerkirschgelee, Marzipan und zartbitterummantelten Lebkuchenplatten, oder in der heute gängigen Abwandlung mit Apfelgelee, Persipan und Zartbitter, variiert mit Vollmilch- oder weißer Schokolade, ohne Marzipan für Allergiker, mit Aprikose als Frühlingsvariation – die Konfektquader sind wie Odol Mundwasser oder Melitta Kaffeefilter eine der vielen Dresdner Erfolgsgeschichten. Und die wird nun 85 Jahre alt.

Quelle: https://i3-img.sat1.de/pis/ezone/417aqgELB38wdEB0AB1fHPDQCtTDCJ4UYl_Ic-IXCoYylZ0mXauk1M9wuU4rv5_rLEYRvbq7E9XZE5CZU6If2Bo21MB0nNukBam05a4olT5_hmbzQdMtyZggE7Zb0b1gmK6n2mY8PWHKClFPl27U3-Sx1IybgoCC6WzGD3GOttXsb4b8eAW9yVcRpXlGfdCil7V41IqCTw8x4a4furXhOlYFai4kMtsBN_TFO_0n/profile:mag-996×562

Die raffinierte Köstlichkeit geht auf den Dresdner Chocolatier und Pralinenmacher Herbert Wendler zurück. 21-jährig hatte er 1933 nach seiner Ausbildung eine Pralinenmanufaktur gegründet, die 1945 zerstört, wiederaufgebaut und 1953 ihren endgültigen Firmensitz in einem früheren Ballsaal fand. Seine Kollektion feinster Pralinen, kunstvoller Marzipanfrüchte und zarter Baumkuchenspitzen wollte er durch eine eigene Schöpfung bereichern und experimentierte an Pralinen mit alternativen Zutaten: das Luxus-Naschwerk sollte für breitere Schichten erschwinglich werden. Nach vielen Degustationstests erschien ihm in der Adventszeit 1936 als die gelungenste Kreation eine Schichtpraline, für die er sich den Überlieferungen zufolge vom Bauhausstil der 1930er Jahre inspirieren ließ. Dazu verknüpfte er gekonnt jahrhundertealte Produktionsgeheimnisse Pulsnitzer Pfefferküchler mit dem Erfahrungsschatz deutscher Zuckerbäcker und seinem Wissen als Chocolatier.

„nicht im Mund, sondern im Gehirn“

Als im Zweiten Weltkrieg die Branche unter knapper werdenden Zutaten litt, setzte endgültig der Siegeszug für Wendlers Dominostein als „Notpraline“ ein. Seine Firma wurde 1972 verstaatlicht und 1990 wieder privatisiert. Ein einziges Feinkostgeschäft am Blasewitzer Schillerplatz führte zu DDR-Zeiten als einzige Dresdner Verkaufsstelle ganzjährig Dominosteine und Backoblaten. Als „Feine Dauerbackwaren GmbH & Co.KG“ ging Wendlers Firma 1996 in Insolvenz, Wendler starb zwei Jahre später. Produktionsmittel und Belegschaft wurden 1999 von Dr. Quendt übernommen, der die Produktion zwischen Frühjahr 2010 und Oktober 2011 kurzzeitig einstellte, sie aber rasch wieder anlaufen ließ. Als seine Eigenentwicklung ist das „Dresdner Herrenkonfekt“ mit 30 % Rum-Punsch-Füllung anzusehen.

Steigende Rohstoffpreise brachten Quendt bei der Vorfinanzierung der Stollenproduktion in Schwierigkeiten. Unterstützung kam aus Aachen: 2014 wurde der damalige Inhaber der Lambertz-Gruppe Mehrheitseigentümer. Laut Produktionsleiter Bernhard Puschner produziert allein Lambertz als Marktführer 8000 Tonnen Dominosteine jährlich, das sind umgerechnet 640 Millionen. 13 Frauen sitzen an einem spitz zulaufenden Tisch, erzählt er in der Welt, die über 16.000 von den 23 mm großen Würfeln pro Stunde in die Verkaufsschachtel einordnen: über 120.000 Stück pro Tag, sieben Monate im Jahr.

Wendler und Quendt. Quelle: eigene Darstellung

Bleibt die Frage, wie man die Leckerei am intensivsten genießt: quer, die Schichten einzeln abbeißend, oder längs. Die Ernährungswissenschaftlerin Gesa Schönberger plädiert im Focus für den Längsgenuss: „Das Ohr registriert, wie die Schokolade bricht, die Zunge verkündet, süß und zugleich leicht sauer – aber auch weich, sämig und kühl. Spätestens dann kommt auch die Nase ins Spiel, die das Aroma ergänzt: Es schmeckt nach Schokolade, Früchten, Marzipan und Weihnachtsgewürz. Und dann passiert das eigentlich Spannende: Unser Gehirn verknüpft diese blitzschnell erfassten Eindrücke miteinander und gleicht sie mit unseren Erwartungen und Erfahrungen ab. Bewertet wird der Dominostein also nicht im Mund, sondern im Gehirn.“ Na dann, füttern wir unser Gehirn, und füttern wir es gut!

„Diese Materienwellengleichung ist zunächst natürlich nur ein Rahmen, in den das Bild erst hineingezeichnet werden muss“, beendete er seinen Vortrag auf der 9. Nobelpreisträgertagung in Lindau 1959. „Und von diesem Bild existiert bisher auch nur ein Teil (…). Trotzdem kann man schon jetzt sagen, dass das Verhalten der Elementarteilchen zumindest qualitativ in vieler Hinsicht durch die Gleichung richtig beschrieben wird. (…) Die paar Ergebnisse, die jetzt schon im Detail vorliegen, scheinen mir doch so ermutigend, dass man noch eine Zeitlang diese Möglichkeit verfolgen sollte.“ Doch selbst anderen Koryphäen war es nach ihrer Veröffentlichung nicht möglich, seine Gleichung, seine „Weltformel“ zu verstehen: Werner Heisenberg, der am 5. Dezember 1901 in Würzburg geboren wurde.

Sein ehrgeiziger Vater hatte es als Handwerkersohn zum Professor für Griechisch gebracht. Während seiner Münchner Schulzeit entdeckte er die Freude am „Spielen zwischen Mathematik und unmittelbarer Anschauung“. Die Mathematik zur Beschreibung physikalischer Gesetze brachte er sich selbst bei und zeigte früh zwei Eigenschaften, die seine glänzende Karriere bestimmen sollten: Ehrgeiz wie sein Vater – und Begabung. Bereits auf dem Gymnasium war von der „spielenden Leichtigkeit“ die Rede, mit der Heisenberg „treffliche Leistungen“ erzielte. Auch sei er „ordentlich selbstbewusst“ und wolle immer glänzen. Später als Professor trainierte Heisenberg Tischtennis, um auch hier der Beste zu sein – so wie in der Wissenschaft und im Schachspiel.

In seiner griechischen Schullektüre stößt Heisenberg auf  die Ideen des griechischen Philosophen Platon, nach dem Dreiecke die Basis unserer Welt bildeten. Diese Dreiecke sind selbst keine Materie, aber sie gestalten das uns bekannte Universum, indem sie sich zu verschiedenen Formen zusammenfügen: den bekannten platonischen Körpern. Er ist irritiert. Doch die Lektüre ist auch Schlüsselerlebnis für seinen weiteren Werdegang – Heisenberg will das Unbegreifliche der Ideenwelt Platons verstehen und für sich selbst die Frage nach der „Weltformel“ klären; ja klären, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethes Faust): Die Dreiecke werden bei ihm zu Quanten werden. Die Suche nach der tiefsten Quelle allen Verstehens war für ihn der gemeinsame Ursprung von Religion und Wissenschaft. 1918 zum Hilfsdienst eingezogen, überlebt er die Spanische Grippe.

Heisenberg. Quelle: https://www.forschung-und-lehre.de/fileadmin/user_upload/Rubriken/Zeitfragen/2018/4-18/dpa_report_7338617_werner_heisenberg_955mal550.jpg

Obwohl lange Zeit unentschlossen, ob er Musik oder Naturwissenschaften und Mathematik wählen soll, studierte Heisenberg von 1920 bis 1923 an der Münchner Universität Physik und promovierte über Stabilität und Turbulenz von Flüssigkeitsströmen. Zwischendurch hörte er 1922/23 in Göttingen auch Vorlesungen bei Max Born, wurde 1924 dessen Assistent und habilitierte sich. Im Rigorosum scheiterte Heisenberg beinahe am Mitprüfer, dem Experimentalphysiker Wilhelm Wien, der ihm bodenlose Ignoranz in der Experimentalphysik vorwarf. Nur das energische Eingreifen Sommerfelds ließ Heisenberg die Prüfung gerade noch bestehen. Bis 1926 war er an der Universität von Kopenhagen bei dem bekannten dänischen Physiker Niels Bohr beschäftigt und stellte bis 1927 zusammen mit Born und Pascual Jordan die Theorie der Quantenmechanik auf.

„jüdische Physik“

Grundlage ist seine These, dass die Wirklichkeit keine berechenbare, objektiv existierende Realität und nicht unabhängig von uns sein kann. Wir sind nicht nur ihr Beobachter, sondern ihr Mitschöpfer:  Die Bahn der Elektronen im Atom entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten. Albert Einstein kann die weltanschaulichen Konsequenzen der Quantenmechanik nie akzeptieren. „Existiert der Mond auch dann, wenn keiner hinsieht?“ fragt er polemisch. Und weiter: „Wie ist das Phänomen der so genannten Nebelkammer zu erklären?“. In der Nebelkammer werden die Bahnen von Elementarteilchen sichtbar, ähnlich wie Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel. Auf diese Frage konzentriert Heisenberg seine Anstrengungen. Was man in der Nebelkammer wirklich beobachtet, sind nicht die Elektronen, sondern einzelne Wassertröpfchen, milliardenfach größer als ein Elektron.

Die richtige Frage musste also lauten: Kann man in der Quantenmechanik eine Situation darstellen, in der sich ein Elektron ungefähr – das heißt mit einer gewissen Ungenauigkeit an einem gegebenen Ort befindet und dabei wieder ungefähr eine bestimmte Geschwindigkeit besitzt? Von 1927 bis 1941 lehrte Werner Heisenberg als Professor für Physik an der Universität Leipzig – und macht gleich im Berufungsjahr Furore, in dem er diese Frage vereint: Es ist physikalisch nicht möglich, den Ort und den Impuls eines Elektrons mit absoluter Genauigkeit für den gleichen Zeitpunkt zu bestimmen. Je präziser demnach die Messung der Ortskoordinaten, desto unschärfer die Bestimmung der Impulskomponenten und umgekehrt. Die „heisenbergische Unschärferelation“ ist geboren und bedeutet letztendlich: Die Berechenbarkeit der Welt hat prinzipiell unüberwindbare Grenzen.

Der junge Heisenberg. Quelle: https://cosmicity.net/file/2016/06/04_Werner-Heisenberg.jpg

1928 wurde sein Buch „Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie“ publiziert; Reisen in die USA, nach Japan und nach Indien schlossen sich an. 1932 wurde er mit dem Nobelpreis für Physik geehrt. Durch Heisenberg gelang der sächsischen Universität der Anschluss an die Zentren der modernen Atomphysik: Kopenhagen, Cambridge und Göttingen. Zudem zog der inspirierende Lehrer hochbegabte Studenten an, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und den (späteren) „Vater der Wasserstoffbombe“ Edward Teller. Das NS-Regime verwehrte Heisenberg 1936 ein Engagement an der Münchner Universität aufgrund seines Eintretens für Albert Einstein und Lise Meitner.

1937 verliebt er sich in die Buchhändlerin Elisabeth Schumacher und heiratet sie. Aus der Ehe gingen insgesamt sieben Kinder hervor. In dieser Zeit wird seine Physik als „jüdische Physik“ angefeindet, er fühlt sich politisch und wissenschaftlich isoliert. Dennoch schlägt er lukrative Angebote aus den USA aus und bleibt mit seiner jungen Familie in Deutschland. 1941 baut Heisenberg mit seinen Mitarbeitern an der Universität Leipzig die Vorform eines Atomreaktors – der Weg zum Bau von Atombomben ist vorgezeichnet, die „jüdische Physik“ also doch erfolgreich. Prompt wurde er Leiter des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts, das später in Max-Planck-Institut umbenannt wurde, und lehrte zudem als Professor an der Berliner Universität, wo er am Uranprojekt des Heereswaffenamtes beteiligt war.

Aber Heisenberg baut keine Bombe, weil die „Arbeiten an der Atombewaffnung … viel zu lange gedauert hätten. Ich konnte ganz ehrlich berichten: Im Prinzip kann man schon Atombomben machen, aber alle Verfahren, die wir bisher kennen, sind so ungeheuer kostspielig, dass es Jahre dauern würde und einen ganz enormen technischen Aufwand von Milliarden brauchen würde“. Geforscht wurde in einem Felsenkeller bei Haigerloch in Württemberg. Eilig haben es die Physiker nicht: Wie Bewohner berichten, übt Heisenberg lieber an der Kirchenorgel über dem Felsenkeller und gibt Konzerte für die Einheimischen.

Weltformel weitgehend gescheitert

Von einem amerikanischen Spezialkommando verhaftet, wird er mit neun weiteren deutschen Wissenschaftlern, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn, auf dem Landsitz Farm Hall in England interniert und erfährt aus dem Radio vom Abwurf einer Atombombe über Japan: „Ich wollte diese Nachricht zunächst nicht glauben. … Erst am Abend, als der Berichterstatter im Rundfunk den riesigen technischen Aufwand schilderte, der geleistet worden sei, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass die Fortschritte der Atomphysik, die ich 25 Jahre lang miterlebt hatte, nun den Tod von weit über hunderttausend Menschen verursacht hatten.“ 1946 wurde er Direktor und Professor des Max-Planck-Instituts für Physik in Göttingen und blieb dort bis zu seiner Emeritierung 1970. Zu seinem Forschungsgebiet zählte unter anderem die Atomspaltung kosmischer Strahlungen im Raum.

Würdigung der Post. Quelle: Von Ingo Wulff für das Bundesministerium der Finanzen und die Deutsche Post AG – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3189077

Nach einer Gastprofessur in Cambridge fungierte er von 1949 bis 1951 als Präsident des Deutschen Forschungsrats und der traditionellen Göttinger Akademie der Wissenschaften, hält weitere Gastvorträge in den USA und wurde 1952 Vizepräsident des „Europäischen Rats für kernphysikalische Forschung“, aus dem das Forschungszentrum CERN hervorgeht, sowie ein Jahr später erster Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg. Diese Funktion übte er bis 1975 aus. Er stand Konrad Adenauer nahe, setzte sich für eine verstärkte Kernforschung und für den Bau von Reaktoren ein, lehnte jedoch gleichzeitig eine militärische Nutzung der Kernenergie ab. 1957 bekannte er sich in der Göttinger „Erklärung der 18 Atomwissenschaftler“ öffentlich gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen.

Im Jahr darauf lehrte er als Professor für Physik an der Münchner Universität und leitete zugleich, ebenfalls bis 1970, das dortige Max-Planck-Institut. Heisenberg engagierte sich auch im Tübinger Memorandum, in dem sich 1961 die Unterzeichner gegen eine atomare Bewaffnung und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen. Als Ende der 1960er Jahre die Studentenbewegung auch sein Institut okkupierte, reagierte Heisenberg empfindlich und zog Vergleiche zu nationalsozialistischen Studentenbewegungen in den 1930er Jahren. Für Hans-Peter Dürr, Heisenbergs Schüler und Nachfolger als Direktor des Münchner Max-Planck Instituts, war er ein „Künstler-Wissenschaftler“: Es spielte Klavier und sicher vom Blatt; es gibt eine Aufnahme von Mozarts d-Moll-Klavierkonzert mit Heisenberg als Pianist in seinem Hause in München von 1966.

Er starb am 1. Februar 1976 in München, wo er auch begraben ist. Heisenberg war Mitglied in vielen Akademien der Wissenschaften und Ehrendoktor zahlreicher Universitäten und Hochschulen. Nach ihm wurde das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) benannt, das seit 1977 das Heisenberg-Stipendium und seit November 2005 auch die Heisenberg-Professur umfasst. Zahlreichen Schulen und geographische Orte tragen seinen Namen. Damals eine Sensation, gilt seine „Weltformel“, die den Aufbau der Materie im Sinne eines „gemeinsames Urfelds“ als Grundlage allen Seins beschreiben wollte, heute als weitgehend gescheitert, diente aber als Inspiration für Terry Pratchetts Antwort „42“ in Per Anhalter durch die Galaxis auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Experimentell bewiesen ist bis heute nur, dass Materie direkt aus Energie entsteht.

Bronzetafel Werner Heisenberg im Foyer des Physikgebäudes der Universität Leipzig, Quelle: Von Prof308 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=72315607

Bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist seine Reise mit Carl Friedrich von Weizsäcker 1941 nach Kopenhagen, um mit seinem väterlichen Freund Niels Bohr über die Implikationen einer deutschen Atombombe zu sprechen. Das Gespräch wurde von Michael Frayn unter dem Titel Kopenhagen (1998) in einem bekannten Theaterstück dramatisiert. Bohr verstand Heisenberg offenbar völlig falsch, floh über Schweden in die USA und rekonstruierte den Los-Alamos-Physikern das Gespräch mit der Skizze einer Bombe, die in Wirklichkeit ein Reaktor war. Heisenbergs früherer Mitarbeiter Edward Teller nahm seinen Doktorvater später vehement in Schutz und äußerte die Ansicht, dass Heisenberg das Atomwaffenprojekt niemals ernsthaft verfolgt habe.

Als er unter dem Vorwand einer wichtigen wirtschaftspolitischen Beratung kurzfristig für den 23. März 1968 nach Dresden gerufen wird, ahnt er nicht, mit welch massivem Aufwand alle anderen bereits in den letzten drei Wochen, seit Aufhebung der Zensur in der ČSSR, Informationen über seine Politik der Öffnung gesammelt und eine konzertierte Aktion vorbereitet haben. Als sich in Elbflorenz die Generalsekretäre der sechs sozialistischen Bruderparteien versammeln (UdSSR, Polen, Ungarn, Bulgarien, DDR und ČSSR – das eigensinnige Rumänien wurde ganz bewusst nicht eingeladen) und in einer gemeinsamen Attacke versuchen, ihn und seine Genossen einzuschüchtern, wird streng darauf geachtet, das nichts nach außen dringt. Und so machen sich westliche Zeitungen – ohne wirkliche Quellen – ihren Reim darauf.

Der Daily Express schreibt nach der Konferenz in Dresden: „Der ruhige Tscheche geht als Sieger nach Hause.“ Der neue Parteichef habe in Dresden triumphiert. Ein paar Meter weiter, beim konservativen Daily Telegraph, das komplett gegenteilige Bild: „Nach der panischen kommunistischen Supergipfeltagung scheint es möglich, dass Russland bereit sei, Gewalt anzuwenden.“ Zwei Mal ein Blick in die Glaskugel – denn valide Informationen besitzen beide Blätter nicht. Ganz bewusst wurde in Dresden kein offizielles Protokoll angefertigt: Auch 1968 schon hatte man Angst vor den Leaks im eigenen Apparat. Aber ein inoffizielles gibt es, heimlich stenografiert und von Walter Ulbricht, möglicherweise in Absprache mit Leonid Breschnew, angeordnet.

Alexander Dubcek. Quelle: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtagnovemberzwoelf138~_v-gseapremiumxl.jpg

Während Breschnew in Dresden versucht, zwei Rollen auf einmal zu bedienen – die des aggressiv Parteidisziplin einfordernden Chef-Generalsekretärs und die des sorgenden Vaters, für den das Wohl der sozialistischen Gemeinschaft an oberster Stelle steht, erweist sich ausgerechnet Polens Parteichef Władysław Gomułka als Scharfmacher: „Ihre Führung und Ihre Regierung haben im Wesentlichen nichts in der Hand. Sie führen nicht. Sie regieren nicht. … Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten einzumischen, aber es gibt Situationen, wo so genannte innere Angelegenheiten äußere Angelegenheiten werden, also Angelegenheiten des ganzen sozialistischen Lagers.“ Und dann schlägt Breschnew zu: „Wir können der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht mehr länger unbeteiligt zuschauen.“ Damit ist das Schicksal des „Prager Frühlings“ und auch seins als Parteichef früh besiegelt: Alexander Dubček, der am 27. November vor 100 Jahren im nordwestslowakischen Uhrovec als zweiter Sohn eines Tischlers und Kommunisten geboren wurde.

„sozialistisch“ nicht gerechtfertigt

Der Vater folgt dem Aufruf der „Internationalen Arbeiterhilfe“, sich am Aufbau der Sowjetunion zu beteiligen, übersiedelt mit seiner Familie 1925 und lebt bis zur Rückkehr 1938 anfangs im kirgisischen Bischkek (heute Frunse), ab 1933 in Zentralrussland. In dieser Zeit lernte Alexander Maschinenschlosser. 1939 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei der Slowakei (KPS), war ab 1941 Facharbeiter in den Skoda-Werken in Dubnica nad Váhom und nahm 1944 zusammen mit der Partisaneneinheit „Jan Ziska“ am Slowakischen Nationalaufstand teil. In den Kämpfen kommt sein älterer Bruder ums Leben. 1945 beginnt er als Schlosser in einer Hefefabrik in Trencin zu arbeiten und heiratet seine Kindheitsfreundin Anna. Aus der Ehe gehen drei Söhne hervor. Ab 1949 machte der als spröde, blass und unscheinbar beschriebene Dubček über verschiedene Parteiämter Karriere, ging 1955 für drei Jahre zum Studium an die Moskauer Parteihochschule und erlebt das Tauwetter nach Stalins Tod.

Nach seiner Rückkehr gerät er prompt in Konflikt mit Antonín Novotný, dem damaligen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPČ. So lehnt er dessen Verfassungsreform von 1958 ab: Nach seiner Meinung war bspw. die Namensänderung von ČSR in ČSSR – also der Zusatz „sozialistisch“ – nicht gerechtfertigt. Der Kampf kulminierte am 31. Oktober 1967: Dubcek fordert auf einer ZK-Tagung seinen Rücktritt, da dessen autoritäres und starres System immer mehr auf Ablehnung innerhalb der Bevölkerung stoße. An diesem Tag hatten Studenten gegen die Zustände in ihren Wohnheimen protestiert, Novotný ließ die Proteste gewaltsam auflösen. Letztlich ging es dabei um Banales, meint der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel im DLF: „Es ging darum, dass es in dem Studentenwohnheim keinen Strom und keine Heizung gab. Und man ging dann mit Losungen auf die Straße‚ wir wollen mehr Licht, mehr Wärme, was auch sehr bildhaft zu verstehen war.“ Am 5. Januar 1968 löste Dubček Novotný als Ersten Sekretär der KPČ ab – noch mit Moskauer Zustimmung.

Auf dem Wahlparteitag. Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/media/thumbs/7/7c2d28f537fec5866d0883ce89a32a54v1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=49b886

„Wir wussten nicht viel über ihn, aber die Slowaken versicherten uns, dass er einen beträchtlichen Schub in Sachen Freiheit bringen würde. Man konnte mit ihm reden. Im Grunde genommen war er ein lieber Mensch, der versuchte, mit jedem gut auszukommen. Er war nicht dieser traditionelle Kommunist, der genau wusste, was die Wahrheit ist“, so der Schriftsteller Ivan Klíma. Schlüsseldokument wurde ein Aktionsprogramm, das Dubček vor dem Zentralkomitee verteidigte: „Wir müssen der Initiator für die Verfassungsänderung unserer Republik werden. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung von Missständen, sondern tatsächlich um ein neues Konzept, das den Bedürfnissen unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren gerecht wird.“ Eine technokratische Expertenregierung sollte die Krise beenden und wurde im April unter Oldrich Cernik gebildet, und auch die langjährigen Forderungen der Slowaken nach stärkerer Selbstbestimmung sollten die Reformer erfüllen.

„die Bürger konnten Einfluss nehmen“

Das Parteiorgan Rudé Pravo schrieb von einem „tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus“. Besonders die Gesellschaft soll liberalisiert werden, um dem „Sozialismus ein menschliches Antlitz“ zu geben. Unter anderem wird die Zensur abgeschafft, den Bürgern die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert, Reisen ins westliche Ausland erlaubt sowie Privatisierungen kleinerer Betriebe sowie Entscheidungskompetenzen für Betriebsräte eingeleitet. Kommunismus, Einparteiensystem und die Treue zu Moskau dagegen stellte Dubček nicht in Frage: „Es ist nicht nötig, darüber zu diskutieren, ob die Partei die führende Rolle behalten soll oder nicht, aber wir müssen die Art der tatsächlichen Anwendung dieser Rolle überprüfen.“ Er wird zur weltweit berühmten Symbolfigur des sogenannten Prager Frühlings, erhält den Tschechoslowakischen Friedens- und den Dimitroff-Preis.

In kurzer Zeit entwickelte sich in der Tschechoslowakei eine kritische Öffentlichkeit, sagt der Historiker Vítězlav Sommer ebenfalls im DLF: „Die Medien wurden zu einer mehr oder weniger freien Tribüne für den Austausch darüber, in welche Richtung die Reform gehen sollte. Nun wurde die Entwicklung nicht nur von oben, von Politikern und Experten gesteuert, sondern auch die Bürger konnten Einfluss nehmen, von unten.“ Jenseits der Partei entstanden offene politische Gruppierungen wie der „Klub der engagierten Parteilosen“ und unabhängige Studentenorganisationen. Zum bedeutenden Zeugnis des aufkeimenden Pluralismus wurde das „Manifest der 2000 Worte“, das im Juni massive Kritik an der Politik der Partei äußerte. Im September sollte ein vorgezogener großer Parteitag die Reformer endgültig legitimieren.

Prager Frühling. Quelle: Von The Central Intelligence Agency – 10 Soviet Invasion of Czechoslovakia, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29195095

Doch als Anfang August in Bratislava ein letzter Versuch der „sozialistischen Bruderländer“ scheiterte, die tschechoslowakischen Genossen zur politischen Umkehr zu bewegen, okkupieren in der Nacht auf den 21. August Truppen des Warschauer Paktes das Land. Die DDR-Volksarmee blieb hinter der Grenze, denn man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938/1939 vermeiden. Historiker sprechen von mehr als 100 Toten und 500 Verletzten. Die NATO musste dem Einmarsch tatenlos zusehen, jede Hilfe war wegen der atomaren Bedrohung völlig ausgeschlossen. Am 12. November 1968 erlässt der sowjetische Parteichef dann seine „Breschnew-Doktrin“, die von einer beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten sprach und eine neue Erstarrung der beiden Blöcke im „Kalten Krieg“ auslöste.

Dubček verharrt im Prager ZK-Gebäude, bis er verhaftet wird. Anschließend wird er nach Moskau verschleppt und unterzeichnet dort mit dem „Moskauer Protokoll“ die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die Einführung politischer Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild. Er kehrt als gebrochener Mann zurück. Als er vor dem Radiomikrophon saß, um die Ergebnisse aus Moskau zu verkünden, versagte ihm mehrmals die Stimme. Am 17. April 1969 musste er als Parteichef der KPČ zurücktreten und durfte ein halbes Jahr den unbedeutenden Posten des Parlamentspräsidenten bekleiden. Danach für kurze Zeit als Botschafter in die Türkei abgeschoben, wird ihm im Januar 1970 sein Platz im ZK der Partei, im April sein Mandat im Slowakischen Nationalrat und im Juni seine Parteimitgliedschaft entzogen.

Nach der Niederschlagung. Quelle: https://ghdi.ghi-dc.org/images/30015713%20copy1.jpg

Dubček weigert sich, das Land zu verlassen, und arbeitet bis zu seiner Pensionierung, abgeschirmt von der Öffentlichkeit durch den Sicherheitsdienst, als Aufseher eines Fuhrparks der Waldarbeiter in einem Forstbetrieb in Bratislava. 1974 beschwert er sich in einem Brief an den neuen Parteichef Husák über die Verweigerung der Promotionsfeier für seinen Sohn und kritisiert zusätzlich die politische Situation im Lande. Husák, der kein Stalinist war, aber Realismus mit Opportunismus auf den einen Nenner der Macht brachte, bescheinigte dem Vorgänger „ehrliches Bemühen“ plus Naivität und Romantik. Die 1977 vor allem von Václav Havel initiierte „Charta 77“ unterschrieb Dubček nicht.

unvorsichtige Politik?

1988 darf er auf Drängen der italienischen Kommunisten die Ehrendoktorwürde für politische Wissenschaften der Universität Bologna im Rahmen ihrer 900-Jahres-Feier entgegennehmen. Die Prager Reformbewegung wäre ohne das gewaltsame Eingreifen der Sowjetunion sicherlich erfolgreich gewesen, ihre Ziele ähnelten denen der Reformpolitik Michail Gorbatschows, sagte er in seiner Rede. Noch immer jedoch würden Menschen, die so dächten wie er, in der ČSSR verfolgt. Es war Dubčeks erster öffentlicher Auftritt in einem westlichen Staat überhaupt. Im Zuge der Reformpolitik ab 1989 wird er Mitbegründer der Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (VPN).

Er trat am 22. November im Rahmen der „Samtenen Revolution“ erstmals wieder in Prag öffentlich auf. Zwei Tage später sprachen Havel und er am Wenzelsplatz zu hunderttausenden Demonstranten und forderten den Rücktritt des Politbüros der Kommunistischen Partei. „Es kommt, glaube ich, sehr selten vor, dass ein Mensch, der bei der Geburt einer großen Bewegung dabei ist, 20 Jahre später wieder in dieselbe Politik zurückkehrt“. Doch es ist nicht dieselbe Politik. Die Bevölkerung will keinen demokratischen Sozialismus, sondern einen freiheitlichen Kapitalismus. Seine Zeit ist vorbei, obgleich die alte Parteiführung ging und er rehabilitiert wurde.

Dubcek und Havel. Quelle: https://www.l-iz.de/wp-content/uploads/2018/10/schmidt_havel.jpg

Am 28. Dezember 1989 wieder zum Parlamentspräsidenten gewählt, erhält er den Sacharow-Menschenrechtspreis und in den nächsten 20 Monaten die Ehrendoktorwürde der Universitäten Madrid, Washington, Bratislava, Brüssel und Dublin. 1990 stirbt seine Frau Anna. Er verlässt die VPN wegen deren nationalistischen Bestrebungen, tritt 1992 in die Sozialdemokratische Partei der Slowakei (SDSS) ein, deren Vorsitz er im Juni übernimmt, und wird als heißer Kandidat für das Amt des slowakischen Präsidenten gehandelt. Am 1. September erleidet er dann auf der Autobahn nahe der Stadt Humpolec mit seinem Dienst-BMW einen schweren Unfall: Aquaplaning und überhöhte Geschwindigkeit, heißt es später. Er bricht sich Rückgrat und Becken und stirbt am 7. November im Prager Homolka-Krankenhaus. Die Aufspaltung des Landes in Tschechien und Slowakei erlebt er nicht mehr.

Da der Chauffeur und ehemalige Mitarbeiter des tschechischen Geheimdienstes, Jan Resnik, der zudem als rasanter Fahrer verschrien war, lediglich leicht verletzt wurde, nur wenige Vertraute Route und Ziel kannten und die Aktentasche Dubčeks, die brisante Dokumente über die Rolle des KGB bei der Niederschlagung des Prager Frühlings enthalten haben soll, spurlos verschwindet, wird von seinem Sohn Pavol und anderen bis heute die These eines gezielten Anschlags diskutiert. Letzteren versuchte der Jurist Liboslav Leksa in seinem 1998 veröffentlichten Buch „Tragödie am Kilometerstein 88“ zu beweisen. Doch mehrere staatliche Untersuchungen, die diesem Verdacht nachgingen, fanden – zuletzt und endgültig 1999 – keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten.

Sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei wird der „Prager Frühling“ heute zum großen Teil als unvorsichtige Politik gewertet, die die Tschechoslowakei danach zu einem der repressivsten kommunistischen Staaten überhaupt werden ließ. Denn Dubčeks „dritter Weg“ hätte unweigerlich in eine Demokratie geführt: Zu schnell entwickelte sich in breiten Schichten der Bevölkerung der Wunsch, nun alle Freiheiten zu genießen. Jede dieser Freiheiten, zumindest aber ein Mehrparteiensystem, hätte den Sozialismus zweifellos beendet.

Grab in Bratislava. Quelle: Von Teodor Baník (sculptor) ‹›Kelovy (photo) – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1746925

So hat der tschechische Reformer ungewollt eines endgültig bewiesen: Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Teile der bundesdeutschen Linken bis heute propagieren, kann es nie geben. „Wer den Sozialismus vermenschlichen will, muss ihn beseitigen“, meint der Politologe Andreas von Delhaes-Guenther im Bayernkurier. „Denn der Allmachtsanspruch dieser Ideologie, das Gleichmachen von Ungleichem, das zwangsweise zum Scheitern verurteilte Wirtschaftskonzept und die Idee, den Menschen jede Eigenverantwortung zu nehmen, führt zwangsläufig immer in die Diktatur.“

Keiner kann so ausrasten wie er: 1972 brüllt er den Regisseur Werner Herzog an, der mit ihm „Aguirre, der Zorn Gottes“ in Peru dreht. „Sie sind kein Regisseur, Sie müssen bei mir lernen!“, schreit er. „Sie sind ein Anfänger, ein Zwergen-Regisseur sind Sie, aber kein Regisseur für mich!“ Die Ureinwohner, mit denen Herzog drehte, boten ihm damals an, den Schauspieler zu töten, wenn er nicht aufhörte, am Set herumzuschreien. „Dieses Angebot war sehr ernst gemeint. Ich hätte bloß nicken müssen“, sagte Herzog 2018 dem Tagesspiegel. „Das Interessante daran war, dass die Leute im Dschungel, unglaublich stille Menschen, eher dazu bereit waren, einen Mord zu begehen, als ständiges Geschrei zu ertragen.“

Dabei erweckte zumindest der junge Darsteller mit seinem unschuldigen Schmollmund, dem entrückten Himmelfahrtsblick und der hohen Stimme so gar nicht den Eindruck des unberechenbaren Egomanen. Mit markantem Gesicht und stechendem Blick ist er später der ideale Darsteller für Besessene aller Art. Rund 140 Filme dreht er – darunter viel Schrott, wie er selbst findet. „Ich habe in meinem Leben auch Klosetts gescheuert. Und plötzlich hab‘ ich, anstatt Toiletten zu scheuern, eben Scheißfilme gedreht, weil ich es auch konnte“, sagt er einmal. Obwohl er von vielen seiner Filme nichts hält, hat er von sich selbst doch immer die höchste Meinung gehabt und konnte nie genug bekommen, nicht genug Geld, nicht genug Sex, nicht genug Verehrung: Klaus Kinski, der am 23. November 1991 in seiner Wahlheimat San Francisco unerwartet an einem Herzinfarkt stirbt.

Als Klaus Günter Karl Nakszynski kommt er 18. Oktober 1926 im Danziger Stadtteil Zoppot als letztes von vier Kindern eines Apothekers zu Welt. 1930 zog die Familie nach Berlin. Nach eigenen Aussagen musste sich Kinski während der Schulzeit Geld zum Unterhalt selbst verdienen: Als Schuhputzer, Laufjunge und Leichenwäscher. Das ist nicht weiter belegt. Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1944 zu einer Fallschirmjägereinheit der Wehrmacht eingezogen, geriet an der Westfront in den Niederlanden, offensichtlich verwundet, in britische Kriegsgefangenschaft und wurde Im Frühjahr 1945 aus einem Lager in Deutschland in das Kriegsgefangenenlager „Camp 186“ in Berechurch Hall bei Colchester in Essex gebracht. Hier spielte er am 11. Oktober in der Groteske „Pech und Schwefel“ seine erste Theaterrolle auf der provisorischen Lagerbühne, die vom Schauspieler und Regisseur Hans Buehl geleitet wurde. In den folgenden Aufführungen spielte er regelmäßig Frauenrollen.

Klaus Kinski 1976 in Paris. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/83ac4150-0001-0004-0000-000001372359_w996_r1.778_fpx42.09_fpy49.98.jpg

Im Frühjahr 1946 gehörte er zu den letzten Gefangenen, die aus dem Lager zurück nach Deutschland geschickt wurden. Nach eigener Darstellung habe er zunächst mit einer sechzehnjährigen Prostituierten, die er im Zug kennengelernt habe, sechs „wilde“ Wochen in Heidelberg verbracht, diese aber verlassen und danach an Theatern in Tübingen und Baden-Baden gearbeitet, wo er auch vom Tod seiner Mutter durch einen Luftangriff in Berlin erfahren habe. Im Herbst habe er sich illegal nach Berlin begeben, wohin ihn Boleslav Barlog zum Schlosspark-Theater holte.

Doch schon bald brach Kinski mit seinem Förderer, warf ihm die Fensterscheiben der Wohnung ein und begann seine Laufbahn „als Exzentriker der Bühne und des Lebens“, wie die FAZ meinte. Seinen ersten triumphalen Erfolg feierte Kinski mit Jean Cocteaus Einakter „La voix humaine“, wieder verkleidet als Frau – für das prüde Berlin ein Skandal. Er besuchte kurz die Schauspielschule von Marlise Ludwig, wo er unter anderem mit Harald Juhnke Szenen aus William Shakespeares Romeo und Julia einstudierte: „Ich wirkte wortlos und leise neben ihm. Er verströmte Barrikadenduft“, erinnert sich Juhnke.

Zertrümmerte Luxusrestaurants und verprügelte Polizisten

Seine erste Filmrolle erhielt er in Eugen Yorks „Morituri“, gedreht zwischen September 1947 und Januar 1948. Darin ging es um geflohene KZ-Insassen, die sich vor den Deutschen verstecken. Der Film war umstritten; es gab Drohbriefe, und ein Hamburger Kino wurde zerstört. Kinski befand sich im Jahr 1950 drei Tage lang in psychiatrischer Behandlung in der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, nachdem er eine ihm bekannte Ärztin belästigt und tätlich angegriffen und einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen hatte. Kinski zog dann nach München und bewohnte eine Pension mit dem damals noch Jugendlichen Werner Herzog, der ihn als bereits zu dieser Zeit mit exzentrischen Allüren auffallend beschrieb.

Werner Herzog und Klaus Kinski in dem Fim „Mein liebster Feind“, Ghana, 1987. Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/media/thumbs/f/f93e8c21fb829cad5465104604a8debcv1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=212755

1951 lernte er Gislinde Kühbeck auf dem Schwabinger Fasching in München kennen, heirate sie nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Pola und ließ sich 1955 scheiden. Neben seiner Theaterarbeit machte er sich in dieser Zeit mit seiner „Ein-Mann-Wanderbühne“ einen Namen. Mit seinen leidenschaftlichen Rezitationen der Werke Baudelaires und Nietzsches, Villons und Dostojewskis füllte er Säle. 1955 verursachte Kinski einen Autounfall, zudem ereignete sich ein Bootsunfall auf dem Starnberger See. Gerichtsverfahren und Strafen schlossen sich an, die finanziellen Folgen belasteten den Schauspieler jahrelang.

Im Sommer 1955 dreht er in Wien mit „Um Thron und Liebe“ einen Film über das Attentat von Sarajevo auf den Österreich-Ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand – er wurde als Attentäter Nedeljko Čabrinović besetzt. In „Ludwig II – Glanz und Elend eines Königs“ mit O. W. Fischer in der Titelrolle mimte er dessen Bruder, den geisteskranken Prinz Otto, und empfahl sich so schon früh für weitere Rollen dieses Typus. Anlässlich der Verleihung des „Deutschen Filmpreises“  brachte Kinski die Gestaltung dieser Figur eine Nominierung für das „Filmband in Gold“ ein. Fischer war von seinem jungen Kollegen dermaßen beeindruckt, dass er ihn für sein Biopic „Hanussen“ über den böhmischen „Hellseher“ engagierte.

Die internationale Filmszene war ebenfalls auf den Deutschen aufmerksam geworden, vor allem durch die unsäglichen, dennoch heute zum Kult gewordenen Edgar-Wallace-Verfilmungen in den 1960er Jahren, in denen Kinski mit irrem Blick und zuckenden Mundwinkeln durch Grünanlagen und Herrenhäuser hastete und als wahnsinniger Psychopath Kinogeschichte schrieb. Erstmals zeigte er sich 1960 in „Der Rächer“, 14 weitere Produktionen sollten bis 1969 folgen, darunter „Die Toten Augen von London“, „Der schwarze Abt“ und „Das indische Tuch“. Nach Berlin übergesiedelt, traf er die 20-jährige Sängerin Brigitte Ruth Tocki und heiratete sie 1960. Aus dieser Ehe, die 1969 geschieden wurde, ging die Tochter Nastassja Kinski hervor, die ebenfalls Schauspielerin wurde. Nach dem Tatort „Reifezeugnis“ von Wolfgang Petersen, in dem sie mit 15 Jahren eine lehrerverführende Lolita geben muss, sagten 55 Prozent der befragten deutschen Männer, sie hätten von Sex mit ihr geträumt.

Klaus und Nastassja. Quelle: https://i.pinimg.com/originals/ac/a3/c5/aca3c51b1ffa311bc63828d6f8ae7330.jpg

1965 übersiedelte Kinski nach Rom und erhielt durch seine Nebenrolle des Anarchisten Kostoyed Amourski in dem Kassenschlager „Doktor Schiwago“ (1965) nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasternak vermehrt internationale Angebote. Hauptsächlich fand er Beschäftigung im neuen Genre des Italo-Western, wo er als perfider Schurke endlich Hauptrollen spielen durfte. Zum Kultfilm des Western-Genres geriet Sergio Corbuccis „Leichen pflastern seinen Weg“ (1968), in der Kinski als skrupelloser Kopfgeldjäger Loco triumphierte. Er lernte 1969 die 19-jährige vietnamesische Sprachstudentin Minhoï Geneviève Loanic kennen, die er 1971 heiratete. 1976 kam der Sohn Nanhoï Nikolai zur Welt, im Februar 1979 ließen sich Klaus und Minhoï scheiden. Zertrümmerte Luxusrestaurants, verprügelte Polizisten und unzählige Affären erzählen von dem Weg eines kompromisslosen Egomanen, der bürgerliche Konventionen weder beachtete noch respektierte. Um sein Luxusleben zu finanzieren – er fuhr allein sieben Ferraris –,  dreht er manchmal bis zu 10 Filme pro Jahr. Das Enfant terrible des internationalen Films war zunehmend exzentrisch, wirkte krank, ausgemergelt, dem Wahnsinn nahe und gab sich gerne lasziv und ungepflegt mit seinen strähnigen Haaren. Talkshow-Auftritte mit ihm endeten fast regelmäßig als Skandal.

„Selbstinszenierung als Wahrheitsverkünder“

Kinski zeigte sich seit Rom als der Furcht einflößende Bösewicht in vielen weiteren Wildwest-, Action- und Agentenfilmen. Ein Angebot von Fellini, das mit einer Gage aufwartet, die eine „Unverfrorenheit“ ist, schmettert er mit den Worten „Lass‘ Dich in den Arsch ficken“ ab. Wenn er akzeptiert wird, ist er am Set zumeist diszipliniert und sorgt für  einen reibungslosen und schnellen Arbeitsgang wie bei Jess Francos „Jack the Ripper“, den er in acht Tagen abdreht. Am 20. November 1971 versuchte sich Kinski als Jesus-Rezitator mit einem skandalträchtigen Auftritt in der Berliner Deutschlandhalle mit dem Titel „Jesus Christus Erlöser“. Nach Zwischenrufen von Zuschauern und einem harten Wortgefecht kam es zu einem frühen Abbruch der Veranstaltung und der geplanten Tournee. Der entstandene Dokumentarfilm erhielt das Prädikat „Besonders wertvoll“: „Der Sog von Kinskis besonderer Diktion, seine rebellische, antikapitalistische Interpretation der Bibel in der Melange mit seiner Selbstinszenierung als Wahrheitsverkünder und Ankläger machen diesen Auftritt zu einer Provokation, die das Publikum im Saal aufheizt und sich schnell in einer rasenden Beschimpfungsorgie entlädt“, ist auf der Webseite der Filmbewertungsstelle zu lesen.

Kinski hat einen sicheren Instinkt, der ihm die Kraft gibt, das zu sein, was er will. Er spielt seine Rollen aus dem Stehgreif. Drehbüchern oder Anweisungen von Regisseuren schenkt er keine Beachtung. Auf Proben pfeift er. „Hin- und Herlatschen, damit die Regisseure auch mal sehen, warum sie keine Fantasie haben, das mache ich nicht.“ Publizität erhält seine Arbeitsweise besonders im Zusammenhang mit Werner Herzog, mit dem er ab den 1970er Jahren „Aguirre“, „Nosferatu“, „Woyzeck“, „Fitzcarraldo“ und „Cobra Verde“ drehte. „Fitzcarraldo“ wurde für den „Golden Globe“ nominiert: Der Abenteurer und Fantast dieses Namens ist als Caruso-Fan von der Idee besessen, in der peruanischen Amazonas-Stadt Iquitos ein Opernhaus zu errichten, und zieht zu diesem Zweck gar einen alten Dampfer in einer tollkühnen Aktion über eine Urwaldhöhe. Obgleich Kinski  einmal öffentlich zugibt, gut damit beraten zu sein, nur noch mit Herzog zu drehen, empfindet er nichts weiter als Spott und Verachtung für den selbsterklärten Autodidakten: „Herzog ist ein miserabler, gehässiger, missgünstiger, vor Geiz und Geldgier stinkender, bösartiger, sadistischer, verräterischer, erpresserischer, feiger und durch und durch verlogener Mensch.“

Szenenbilde „Aguirre“. Quelle: https://de.web.img3.acsta.net/r_1920_1080/medias/nmedia/18/66/32/78/18930519.jpg

Das Drehbuch zu „Aguirre“ tut er als „analphabetisch primitiv“ ab. Es ist die Geschichte des spanischen Conquistadors Don Lope de Aguirre, der sich mit einer Expedition im 16. Jahrhundert auf den Weg durch die peruanischen Anden macht, um „El Dorado“, das sagenhafte Goldland, zu finden. Mit der Zeit wird durch Erschöpfung, Krankheit und auch Meuterei die Gruppe um Aguirre immer kleiner, so dass zum Schluss nur noch der Don übrigbleibt und als einsamer Irrer auf einem Floß den Amazonas hinunterfährt. Ganz anders „Woyzeck“, der ihn ob der frappierenden charakterlichen Ähnlichkeit zu dieser Person erschauern lässt. Es ist so, als würde Kinski das alles schon einmal erlebt haben: „Das Schlimmste, das ich je beim Film durchmachen musste. Ich habe bereits gesagt, dass die Geschichte von Woyzeck Selbstmord ist. Selbstzerfleischung. Jeder Drehtag, jede Szene, jede Einstellung, jedes Photogramm ist Selbstmord.“ Nach nur 16 Drehtagen ist der Büchner-Streifen abgedreht. Es ist der mit Abstand beeindruckendste Kinski-Film, dessen Intensität nie mehr erreicht wurde.

„zu viel Brutalität und Pornographie“

1979 erhielt er das Filmband in Gold für das Murnau-Remake „Nosferatu“ als bester deutscher Schauspieler, erschien jedoch nicht zur Preisverleihung. Kinski wirkte auch in mehreren Hollywood-Spielfilmen mit, unter anderem spielte er mit Jack Lemmon und Walter Matthau im letzten Billy-Wilder-Film „Buddy Buddy“. In „Little Drummer Girl“ spielte er neben Diane Keaton die Hauptrolle. In dem US-Fernsehfilm „The Beauty and the Beast“ (1983) war er Hauptfigur neben Susan Sarandon und Anjelica Huston. Mitte der 1980er Jahre drehte er die Action-Filme „Codename: Wildgänse“ und „Kommando Leopard“ mit Lewis Collins in der Hauptrolle. Die beiden Schauspieler kamen jedoch nicht miteinander aus, sodass im zweiten Film keine einzige Szene mit beiden zusammen gedreht wurde. 1987 ging Kinski eine Beziehung mit der damals 19-jährigen italienischen Schauspielerin Debora Caprioglio ein, die sich aber 1989 wieder von ihm trennte. Im selben Jahr stellte er mit „Kinski Paganini“ sein letztes Filmwerk fertig: Nachdem er den Stoff über Jahre hinweg vergeblich Produzenten und Regisseuren angetragen hatte, übernahm er schließlich Regie, Drehbuch, Schnitt und Hauptrolle selbst. Die Rohschnittversion von knapp zwei Stunden Länge wurde jedoch von der Jury der Filmfestspiele von Cannes wegen „zu viel Brutalität und Pornographie“ vom Wettbewerb ausgeschlossen, was Kinski zu einer wutentbrannten Pressekonferenz vor Ort veranlasste.

Sein Privatleben dokumentierte er als einen einzigen Exzess, nachzulesen in seinen Autobiografien „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“ (1975) sowie „Ich brauche Liebe“ (1991) – Bücher, die von vielen als Skandal empfunden wurden. Seine Todesursache Herzversagen ist selbst für die Boulevard-Presse zu unspektakulär, um daraus einen großen Aufreißer zu machen. Die Obduktion ergab, dass das Herz vernarbt war – wahrscheinlich eine Folge mehrerer unbehandelter Herzinfarkte. Der Leichnam wurde seinem Wunsch gemäß verbrannt, die Asche mit einem Boot zur „Golden Gate Bridge“ gefahren und in den Pazifik gestreut. Sein Tod ist schnell abgetan, die üblichen Nachrufe sind schon nach wenigen Tagen durchgestanden. „Kinski spielte Unholde, Visionäre, Besessene, Erotomanen, Narzisse, Magiere, Berserker, Verbrecher, Exhibitionisten“, würdigt ihn das Lexikon des Internationalen Films. „An diesem nervösen Seher von Innenwelten wirkte deshalb alles übersteigert. Rasender und Meditierender zugleich, war er gestisch und mimisch das perfekte Medium seiner inneren Stimmen und Alpträume, denen er wortgewaltig Ausdruck verlieh. Er war ein Avantgardist der Artikulation, das Sprechen entwickelte er zur eigenständigen Kunstform.“

Tod-Story in der BILD. Quelle: https://image.kurier.at/images/cfs_616w/894954/13219757730577.jpg

1999 brachte Herzog mit „Mein liebster Feind“ ein Porträt Kinskis in die Kinos, in dem das besondere Verhältnis der beiden noch einmal reflektiert wird. „Er war einfach die ultimative Pest. Leute wie Marlon Brando waren Musterschüler im Vergleich zu ihm“, sagte er, erinnerte sich an „monströse Kämpfe“ in einer „tiefen, tiefen Freundschaft“. 2001 erschien aus dem Nachlass der Band „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“, eine Sammlung mit insgesamt 52 zum Teil wütenden Gedichten. 2011 erhielt er auf dem Berliner Boulevard der Stars einen Stern. Zwei Jahre später wurde der Avantgardist von seinen Töchtern vom Sockel gestürzt: In ihrem Buch „Kindermund“ beschreibt Pola, wie ihr Vater sie seit ihrem 9. Lebensjahr missbraucht hat. Nastassja wurde nach den Enthüllungen ihrer Schwester gefragt: „Hat Ihr Vater auch Sie missbraucht?“ Kinski antwortete: „No, not in the way that you mean, but in other ways, yes.“ „Eine Heldin, die ihr Herz, ihre Seele und damit auch ihre Zukunft von der Last des Geheimnisses befreit hat“, sagte sie über ihre Schwester. In einem posthumen Brief an seinen Sohn hatte Kinski einst geschrieben: „Wenn Dir jemand sagt, ich sei tot, glaube es nicht. Ich bin der Regen und das Feuer, das Meer und der Wirbelsturm. Sei nicht traurig. Ich sterbe niemals.“

Vor gut einer Woche veröffentlichte Christian Felber seinen Text „30 Gründe, warum ich mich derzeit nicht impfen lasse“ – der, natürlich, auf der Volksverpetzer-Seite mit teils rabulistischen, teils geifernd-ideolgischen Argumenten zerpflückt wurde. Ich hab ihn mir zu eigen gemacht, variiert, ergänzt und stelle ihn hier zur Diskussion.

eigene Darstellung

Im Winter 1227/28 war die einst so beliebte Adlige am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen: Niemand wollte ihr und ihren drei kleinen Kindern Obdach gewähren. Weder die wohlhabenden Bürger noch der Klerus öffneten ihnen die Türen. Selbst die Armen, denen sie einst geholfen hatte, verspotteten die verstoßene Adlige. Als sie mit ihren Kindern schließlich in einen alten Schweinestall ziehen musste, soll sie bitter festgestellt haben: „Den Menschen würde ich gern danken, aber ich weiß nicht wofür.“ Für immer mit ihr verbunden bleibt das sogenannte „Rosenwunder“, das ihre Mildtätigkeit und Heiligkeit sowie ihre Zuwendung zu den Armen und zur Armut ausschmückt. Da andere Versionen die Legende auf Elisabeth von Portugal sowie auf Nikolaus von Tolentino beziehen und eine ihrem Gatten verheimlichte Mildtätigkeit historisch unwahrscheinlich ist, ist davon auszugehen, dass die Wanderlegende erst nach ihrer Heiligsprechung auf sie übertragen wurde.

Die Geschichte dazu geht so: Als sie eines Tages in die Stadt geht, um den Armen Brot zu geben, obwohl gerade dies ihr unter Strafe verboten ist, trifft sie die Mutter ihres Mannes (in anderen Versionen ihren Mann selbst), die ihre Barmherzigkeit nicht gutheißt und ihr eine Falle stellen will. Auf die Frage, was sie in dem Korb (andere Versionen: unter der Schürze) habe, den sie bei sich trägt, antwortet sie, es seien Rosen im Korb. Ihre Schwiegermutter bittet sie, das Tuch zu heben, um die wunderbaren Rosen sehen zu können. Widerwillig hebt sie das Tuch, und im Korb sieht die Schwiegermutter statt Broten nur: Rosen. Von Hans Gottwald, einem Schüler Tilman Riemenschneiders, 1515 in Saalburg über Moritz von Schwind 1855 in Eisenach bis Josef Wittmann 1956 im bayrischen Kehlheim reichen die bildlichen Darstellungen von ihr und dem Wunder: Elisabeth von Thüringen, die am 17. November 1231 in Marburg starb.

Geboren wurde sie 1207 auf Burg Sárospatak bei Preßburg. Zeitgleich fand der berühmte „Sängerkrieg“ auf der Wartburg statt. Dichtung und Legende erzählen von der Anwesenheit des zauberkundigen Klingsor aus Ungarn und seinem prophetischen Hinweis auf die Königstochter Elisabeth: Ihr Vater war der ungarische König Andreas II., ihre Mutter Gertrud entstammte der einflussreichen Familie Andechs-Meranien. Über ihre Geschwister, die sie bestenfalls flüchtig kannte, war sie mit dem europäischen Hochadel verbunden: Ihr Bruder Béla folgte seinem Vater auf dem ungarischen Thron, ihre Schwester Maria heiratete Iwan Assen II., den Zaren von Bulgarien.

Elisabeth bei der Versorgung Bedürftiger. Quelle: Von Ferdinand Piloty – see description, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3863474

Aufgrund ihrer Herkunft wurde Elisabeth unter Einfluss der politischen Interessen von Papst Innozenz III. und einer Fürstenkoalition gegen Kaiser Otto IV. als politische Schachfigur im Machtspiel der europäischen Dynastien benutzt.  Entsprechend der damaligen Praxis zog die Prinzessin bereits als Vierjährige zur Familie ihres Verlobten, Hermann von Thüringen. Dort übernahm die fromme Landgräfin Sophie die Erziehung ihrer zukünftigen Schwiegertochter. Elisabeth wuchs deshalb überwiegend auf den Residenzen der thüringischen Landgrafenfamilie auf, darunter der Neuenburg bei Freyburg/Unstrut, der Runneburg bei Weißensee und schließlich der Creuzburg an der Werra.

Elisabeth fiel durch Frömmigkeit, Schönheit und Sittsamkeit auf. Die Verlobungszeit aber verlief so gar nicht nach Plan. Erst fiel Elisabeths Mutter Gertrud einem politischen Mord zum Opfer. Weil dadurch die Auszahlung von Elisabeths versprochener Mitgift unsicher wurde, sank auch ihre Stellung in Thüringen. Dann starb überraschend der älteste Sohn des Landgrafen, Elisabeths Verlobter Hermann; ein Jahr darauf auch sein Vater. Die unbrauchbare Kinderbraut solle zurückgeschickt werden, forderten immer lautere Stimmen bei Hofe. Als Herrscher stand nun der zweitgeborene Ludwig an, der, nachdem er volljährig geworden war, 1218 als Ludwig IV. Landgraf wurde – und Gefühle für Elisabeth entwickelt hatte. 1221 heiratete er die Vierzehnjährige in Eisenach.

„ist mir die Welt gestorben“

Es war eine für diese Zeit völlig unübliche Liebesehe, aus der drei Kinder hervorgingen; darunter Sophie (1224–1275), die später als Herzogin von Brabant in Gestalt ihres Sohnes Heinrich Stammmutter des Hauses Hessen wurde – von ihr stammen alle noch heute lebenden Nachkommen Elisabeths ab. Entgegen späterer Legenden unterstützte der sonst so skrupellose Machtpolitiker Ludwig die karitativen Ambitionen seiner Frau. 1223 gründete das Paar gemeinsam das Maria-Magdalenen-Hospital in Gotha. Als 1225 die ersten Franziskaner nach Eisenach kamen, übte deren Ideal befreiender Besitzlosigkeit großen Einfluss auf Elisabeth aus. Sie gründete unterhalb der Wartburg ein zweites Hospital, unterstützte das Kloster und kümmerte sich selbst um Bedürftige, besuchte Armenviertel. Trotz der Unterstützung, die Elisabeth darin von ihrem Mann erhielt, wurde ihr Engagement von der Familie mehr als skeptisch betrachtet.

Rosenwunder. Quelle: Von Autor unbekannt – [2], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1226026

Armenfürsorge gehörte zwar zu den traditionellen Aufgaben einer mittelalterlichen Landesfürstin, doch Elisabeth wollte nicht nur von ihrem Überfluss geben. Sie verschenkte zunehmend ihren Schmuck und trug nur zu höfischen Anlässen widerwillig ihre prächtigen Gewänder. Dass sie persönlich aussätzige Kinder pflegte und sogar Verstorbene für ihre Beerdigung wusch, empfand ihr Umfeld als Zumutung: Elisabeth solle sich endlich standesgemäß verhalten und Thüringen als Landgräfin würdig vertreten. Ausführlich berichten die Legenden, wie sie unerschüttert den Verleumdungen und Vorwürfen ihrer Umgebung standhielt.

1226 betrat der gefürchtete, redegewaltige Kreuzzugprediger und Inquisitor Konrad von Marburg den Hof bei Eisenach. Er wurde Elisabeths geistlicher Leiter und Beichtvater und sah in der frommen Adligen vor allem seine Chance, als „Macher“ einer neuen Heiligen Ruhm zu erlangen. Der strenge Priester trieb Elisabeth zu immer neuen asketischen Höchstleistungen an. Bald war Ludwig die einzige Person, die außer Konrad noch nennenswerten Einfluss auf Elisabeth hatte. Ludwig war inzwischen dem Deutschen Orden beigetreten und wurde prompt zum 5. Kreuzzug gerufen. Kurz vor seiner Abreise legte die damals zum dritten Mal schwangere Elisabeth ein doppeltes Gelübde ab: Soweit dadurch nicht Ludwigs Rechte betroffen würden, versprach sie auf ihren geistlichen Leiter hören. Und sollte sie Witwe werden, wollte sie ehelos bleiben und Konrad gar absoluten Gehorsam leisten.

Ludwig erkrankte im italienischen Brindisi, wurde – schon eingeschifft – in Otranto wieder an Land gebracht und starb dort 1226 an einer Seuche – die Legende berichtet aber auch von einem verderblichen Trank, den er mit der Kaiserin Jolanthe getrunken habe, denn auch sie starb. Elisabeth war tief traurig: „Mit ihm ist mir die Welt gestorben“. Der Legende nach zersprang der Stein ihres Ringes bei der Todesnachricht. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Elisabeth mit ihren drei Kindern von ihrem Schwager Heinrich Raspe von der Wartburg vertrieben mit der Begründung, sie verschwende öffentliche Gelder für Almosen. Elisabeth sei nicht mehr zurechnungsfähig, war Heinrich überzeugt.

Elisabethkemenate auf der Wartburg. Quelle. Von Traveler100 – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5612341

In Eisenach fand sie keine Unterkunft, habe zunächst in einem Schweinestall gehaust. Bei ihrem Onkel mütterlicherseits, dem Bischof von Bamberg, fand Elisabeth dann mit ihren drei Kindern Aufnahme. Der wollte sie wieder vermählen, aber Elisabeth lehnte selbst die Werbung von Kaiser Friedrich ab. Rückkehrende Kreuzfahrer brachten ihr Ring und Gebeine Ludwigs; nach seiner feierlicher Bestattung musste man ihr auf Betreiben von Papst Gregor IX. ihr Witwengut herausgegeben. Legendär ist, dass Gregor, auf Franziskus‘ ausdrücklichen Wunsch, diesem den Mantel von den Schultern nahm und ihn Elisabeth zusandte.

„ohne jeden Abscheu“

Konrad übte weiterhin erheblichen Einfluss auf Elisabeth aus. Das Verhältnis zwischen der jungen Witwe und dem Priester gab schon damals Anlass zu Spekulationen. In der Moderne wurden Elisabeth sogar psychische Störungen unterstellt. Ihr Lebenswandel aber erklärt sich nur mit Blick auf ihre Zeit: Das 13. Jahrhundert war eine Periode intensiver Gottsuche, die sich schonungslos mit der Problematik ungerechten Besitzes auseinandersetzte. Eine radikale Armutsbewegung nach der anderen entstand. Während einige als Ketzer verfolgt wurden, entwickelten sich andere zu den bis heute bekannten Bettelorden. Ganz in dieser Tradition stand auch Elisabeth.

Die Suche nach einer „kompromisslosen Nachfolge Christi mit dem Ziel ihres persönlichen Heilsstrebens“ erkannte Irmtraut Sahmland im Ärzteblatt. Elisabeth habe sich immer weiter zurückgenommen: der Verzicht auf die Repräsentation ihrer sozialen Stellung im Angesicht des gekreuzigten Christi, die asketische Lebens- und Ernährungsweise, schließlich die Abweisung aller Optionen, die einer Witwe in ihrer Position offen gestanden hätten. Mit ihrer Entschädigungssumme gründete sie 1228 ein Hospital vor den Stadtmauern von Marburg und wählte als Patron den erst kurz zuvor heiliggesprochenen Franz von Assisi. 1229 zog sie dann als einfache Spitalschwester dorthin – auf Konrads Druck isolierte sie sich von ihren letzten Freundinnen, sagte sich von ihrer Familie los und gab ihre Kinder ab.

Marburger Elisabethkirche mit Mausoleum. Quelle: Von Foto von Hydro bei Wikipedia, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48463870

Isentrud von Hörselgau, eine ihrer Mägde, berichtet 1235 im „Libellus de dictis quatuor ancillarum sanctae Elisabeth confectus“: „Und obwohl sie verdorbene Luft nirgends sonst vertragen konnte, ertrug sie doch die Ausdünstungen der Kranken im Sommer, welche die Mägde nur unter Klagen aushielten, ohne jeden Abscheu, behandelte die Kranken heiter mit ihren eigenen Händen und wischte mit dem Schleier ihres Hauptes ihr Antlitz, ihren Speichel, ihren Auswurf und den Schmutz ihres Mundes und der Nase ab. Außer diesen hatte sie in demselben Haus noch viele arme Kindlein, für die sie sorgte. Gegen die war sie gütig und mild, dass alle sie Mutter nannten und zu ihr liefen und sich um sie scharten, wenn sie ins Haus kam. Unter ihnen liebte sie besonders die Krätzigen, Kranken, Schwachen, Hässlichen und Ungestalteten, streichelte ihr Haupt mit den Händen und barg es in ihrem Schoß.“

Im November 1231 wurde Elisabeth krank; es heißt, dass ihre letzten Tage von kindlicher Heiterkeit überstrahlt waren. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte sie eine Vision von einem Vogel, der zwischen ihr und der Wand fröhlich sang und sie dazu bewog mitzusingen. Sie verschenkte ihre letzten Sachen und soll sogar noch ihre Gefährtinnen getröstet haben. Elisabeth starb im Alter von 24 Jahren, aufgezehrt in der Fürsorge für andere, und wurde am 19. November in ihrem Franziskushospital in Marburg bestattet. Viele Menschen sollen als Zeichen ihrer Verehrung während der Aufbahrung Stücke von den Tüchern, die Elisabeths Gesicht bedeckten, abgerissen, ihr Haupthaar, Nägel und sogar einen ihrer Finger abgeschnitten haben. Konrad von Marburg leitete spätestens im Frühjahr 1232 ihr Heiligsprechungsverfahren ein und trieb es bis zu seinem Tod energisch und geschickt voran – er wurde 1233 von Adligen wegen seines Fanatismus‘ erschlagen. Von ihm stammt die „Summa Vitae“; die erste Biographie Elisabeths.

„Es kündet St. Elisabeth“

Während des Verfahrens wurden über 600 Zeugen vernommen und 105 medizinische Wunder verzeichnet, die die Elisabeth lebend oder tot vollbracht haben soll; die Hälfte davon bei Kindern unter 14 Jahren. Die Heiligsprechung wurde zu Pfingsten 1235 offiziell verkündet. Der Deutsche Orden, der seinen Verwaltungssitz in Marburg hatte, erweiterte Elisabeths Spital und ließ nach der Heiligsprechung bis 1283 die ihr geweihte Kirche als ersten gotischen Bau in Deutschland errichten. 1236 erfolgte die Erhebung ihrer Gebeine im Beisein des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen; er stiftete eine Krone, mit der der gesondert abgetrennte Kopf gekrönt wurde. Das Reliquiar befindet sich heute ohne Inhalt im Historischen Museum in Stockholm, das Haupt wird in der Klosterkirche zur Hl. Elisabeth in Wien aufbewahrt.

Elisabeths Haupt in Wien. Quelle: https://4.bp.blogspot.com/-zhfqTz3tOcE/UoqTOU_qGmI/AAAAAAAALFE/FuqQX7EhU68/s640/DPP12-11-19-0105.JPG

1240 wurde die neue Predigerkirche in Eisenach der Landgräfin geweiht, 1245 der goldene Schrein mit ihren Gebeinen in Marburg mit der Inschrift „Gloria Teutoniae“ versehen. Die Überlieferung und Verehrung von Elisabeth wurde ab Mitte des 13. Jahrhunderts stark beeinflusst durch die von Dietrich von Apolda vor 1240 verfasste Lebensgeschichte. Die Wallfahrt – durch wundersame Heilungen sich ausbreitend – wuchs nun so schnell, dass sie bald eine mit der zu Jakobus nach Santiago de Compostela vergleichbare Bedeutung erreichte. Besonders die Bettelorden förderten ihre Verehrung als einer Frau königlicher Herkunft, die sich dennoch um Arme kümmert, und sie breiteten die Verehrung in ganz Europa, besonders in Belgien, Frankreich, Italien und Ungarn aus. Im 14./15. Jahrhundert wurden ihr viele Spitäler geweiht.

Philipp von Hessen ließ Elisabeths Reliquien 1539 im Zuge der Reformation aus dem Sarg entfernen und gab den Befehl, die sterblichen Überreste seiner Ahnfrau so zu zerstreuen, dass sie nicht wieder auffindbar sein sollten, um die Verehrung zu beenden. Der Statthalter Georg von Kolmatsch missachtete aber die Weisung, ließ die Gebeine auf sein Wasserschloss Wommen bringen und musste die nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 1548 an den Deutschen Orden zurückgeben. Seit dem frühen 19. Jahrhundert erlebte Elisabeths Verehrung neuen Aufschwung mit romantischer Verklärung ihres Tuns und der von ihr gewirkten Wunder. Sie wurde in der bildenden Kunst und der Musik vielfach gewürdigt, etwa durch Franz Liszts Oratorium „Die Legende von der heiligen Elisabeth“ (1865). An ihrem 750. Todestag im Jahre 1981 veranstalteten die Kirchen in der atheistisch-sozialistischen DDR (!) ihre erste Massenversammlung, bei der Zehntausende auf dem Platz unterhalb des Erfurter Domes zusammenkamen. 1994 stellte sich bei seiner Neugründung das Bistum Erfurt unter ihr Patronat.

Würdigung Elisabeths 2020 durch die Stadt Eisenach, das katholische Bistum Erfurt und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. Quelle: https://www.ekmd.de/media/cache/jA/jAnvfC_zTx6iZmKcZ93ypg/crops_SzSUyHqK

Der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer nannte Elisabeth „eine der zartesten, innigsten und liebenswertesten“ Heiligen des Mittelalters; der katholische Theologieprofessor Alban Stolz schrieb, „dass außer der Mutter Gottes Maria noch keine weibliche Person eine größere, weiter verbreitete Verherrlichung auf Erden gefunden hat als die Heilige Elisabeth“. Im deutschen Sprachgebiet ist der 19. November, ihr Begräbnistag, Elisabeths Gedenktag – wie der evangelische und anglikanische. In anderen Ländern ist dagegen ihr Todestag, der 17. November, der katholische Gedenktag. Sie ist Patronin von Thüringen und Hessen, der Witwen und Waisen, Bettler, Kranken, unschuldig Verfolgten und Notleidenden, der Bäcker, Sozialarbeiter und Spitzenklöpplerinnen, des Deutschen Ordens, der Caritas-Vereinigungen, und zweite Patronin des Bistums Fulda. Auch eine Bauernregel ist ihr gewidmet: „Es kündet St. Elisabeth / was für ein Winter vor uns steht.“ Eine Gedenktafel für sie fand Aufnahme in die Walhalla.

Was wäre in diesem Jahr für eine Diskussion entbrannt! „Wie kann man die Pockenimpfung einführen, ohne selbst mit gutem Beispiel voranzugehen?“, schrieb sie in einem privaten Brief an Friedrich II. von Preußen. Sie ließ Mitte Oktober 1768 eigens den britischen Arzt Tomas Dinsdale kommen, der die Impfmethode der sog. „Inokulation“ praktizierte, die in Indien seit der Antike bekannt war: Bis zu 15 winzige Schnitte wurden in der Haut gemacht, so dass es kaum blutete. Auf die Wunden wurde ein Stück Stoff gelegt, das mit einer Lösung aus Wasser und Flüssigkeit aus Pockenpusteln getränkt war, in ihrem Fall von einem 6-jährigen Jungen.

Der Arzt führte ein Tagebuch über ihren Zustand: „In der Nacht nach der Impfung schlief die Kaiserin gut, es gab leichte Schmerzen und der Puls beschleunigte sich. Der Gesamtzustand war ausgezeichnet. Das Essen bestand aus Eintopf, Gemüse und etwas Hühnerfleisch.“ Am 18. Oktober hatte sie zum ersten Mal Fieber, verlor den Appetit, und an ihrem Körper bildeten sich Pockenpusteln. Nach zehn Tagen waren alle Symptome vollständig abgeklungen, und am 1. November nahm sie nicht nur die Glückwünsche ihres Hofstaates entgegen, sondern ließ auch ihren Sohn Paul Petrowitsch erfolgreich impfen. 

Katharina nach 1780. Quelle: Von Nachahmer von Johann Baptist von Lampi – Kunsthistorisches Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4724494

Dass sie Angst vor den Pocken hatte, lag auch an ihrem Mann Peter III., der als Kind schwer erkrankt war und noch immer unter den Folgen litt: seine Gesundheit war irreversibel beschädigt und sein Gesicht für immer entstellt von Pockennarben – was erotisch so wenig anziehend war, dass sie sich mit über 20 Liebhabern umgab. Ob ihrer erfolgreichen Immunisierung ernannte sie Dinsdale zum Baron und gab ihm eine jährliche Rente. Dann impfte der englische Arzt den höchsten russischen Adel. Nach seiner Rückkehr nach England war Dimsdale so reich, dass er eine Pockenimpfklinik und eine Bank eröffnete. Er kehrte 1781 noch einmal nach Russland zurück, um auch Konstantin und Alexander zu impfen, ihre Enkel: Katharina II. „die Große“, die vor 225 Jahren, am 17. November 1796, an einem Schlaganfall in Petersburg starb.

Hochzeit und erste Liebhaber

Als Sophie Auguste Friederike Prinzessin von Anhalt-Zerbst kam sie am 2. Mai 1729 als Tochter des preußischen Generals und Staathalters von Stettin in der Ostseestadt zur Welt. Ihre unbeschwerte Kindheit verbrachte sie, die anfangs als unscheinbar, aber bildungs- und sprachbegeistert beschrieben wird, im Stettiner Schloss, unterbrochen von Verwandtschaftsbesuchen in Zerbst, Braunschweig oder Berlin sowie 1739 im Eutiner Schloss, wo sie ihrem zukünftigen Gatten Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf, einem Cousin zweiten Grades, erstmals begegnete. Nach dem Tod ihres Großvaters und der dadurch bedingten Regierungsübernahme ihres Vaters zog die Familie im Dezember 1742 ins Zerbster Schloss. Fast parallel dazu entschloss sich die kinderlose Kaiserin Elisabeth Petrowna, ihren Neffen Karl Peter zum Thronfolger zu ernennen. Der nahm an, trat zum russisch-orthodoxen Glauben über und wurde als Peter Fjodorowitsch Großfürst. Im Jahr darauf riet Friedrich II. Elisabeth, ihren Nachfolger mit Sophie zu vermählen.

Elisabeth folgte dem Rat, und so traf die 14jährige im Februar 1744 in Moskau ein. Mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit lernte sie Russisch und versuchte, sich am Hof zu integrieren. Der Verlobung im selben Jahr folgte im Spätherbst 1745 die Hochzeit, die zehn Tage dauerte. Trotz großer Vorbehalte ihres Vaters konvertierte sie vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben und bekam zu Ehren der Kaiserinmutter den Namen Jekaterina Alexejewna. Ein Porträt von Louis Caravaque zeigt sie 1745 als bildhübsche junge Frau. Doch die Ehe war weder harmonisch geschweige glücklich. Schon in der Hochzeitsnacht wurde deutlich, dass der Großfürst nur wenig Interesse für Katharina empfand: Während sie auf ihn im Schlafgemach wartete, kam er spät nachts betrunken von seiner Feier wieder. Er selbst unterhielt ein Verhältnis mit Gräfin Woronzowa.

Die etwa 15-jährige auf einem Gemälde von Caravaque. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3844093

Katharina wird jetzt als lebensfroh beschrieben, reitbegeistert, intelligent, musikalisch und belesen, wobei sie neben historischen auch politische Bücher von Montesquieu oder Voltaire las. Während sie jeden Gottesdienst besuchte und am religiösen, aber auch höfischen Leben teilnahm, schuf sich Großfürst Peter seine eigene Welt in Oranienbaum (heute Lomonossow). Peter liebt Preußen, Katharina Russland; Peter begeistert sich für Zinnsoldaten, Katharina für Voltaire; Peter mag Uniformen, Katharina gründet Wohlfahrtsverbände. Anfangs band er Katharina noch in seine Spiele mit den kleinen Soldatenfiguren ein und ließ sie die preußische Uniform tragen. Doch schon bald verloren beide jeglichen Bezug zueinander, sie nimmt ihn als kindisch und unwissend wahr.

Als nach sieben Jahren das Großfürstenpaar immer noch kinderlos ist, verliert Kaiserin Elisabeth die Geduld und verlangt nach einem Thronfolger, den der Ehemann nicht zeugen kann oder will. Der Kammerherr Sergej Saltykow wird mit Hilfe Elisabeths der Liebhaber Katharinas und kann als Vater des Erben, Paul I., gelten, der am 1. Oktober 1754 zur Welt kommt – und von Peter als sein eigener Sohn anerkannt wird. Doch schnell wird Sergej ihr untreu, verrät sie, berichtet sogar über die Affäre mit ihr. Das trifft Katharina sehr und prägt ihr Verhältnis zu Männern im weiteren Leben. Saltykow wird von der Zarin als Diplomat nach Schweden, später nach Hamburg geschickt.

Der polnische Politiker Stanisław Poniatowski wird ihr zweiter Liebhaber. Er hat gute Manieren, ist der gebildetste Mann, den sie jemals haben wird. Und für ihn ist Katharina die Liebe seines Lebens. Am 9. Dezember 1757 bringt sie die kleine Anna zur Welt, die mit Sicherheit als Tochter Poniatowskis gilt. Die Erziehung beider Kinder, die jeweils sofort nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt wurden, übernahm Elisabeth selbst. Anna starb bereits nach zwei Jahren. Katharina schickt den Vater nach Polen zurück und macht ihn dort 1764 zum polnischen König Stanislaus II. August. Mit dem  dritten Liebhaber, dem adligen Eskorteoffizier Grigori Orlow, hat sie 1762 wiederum einen Sohn, Alexei. Orlow kämpfte im Siebenjährigen Krieg, war wohl ein Kerl wie ein Baum – und sollte das Schicksal seiner Dienstherrin und seines Landes entscheidend beeinflussen.

Staatsstreich und Machtübernahme

Denn 1761 starb Elisabeth, und Peter wird neuer Zar. Sein angeblich ungebührliches Auftreten während der Trauertage verärgerte Katharina und auch große Teile des Hofes und des Volkes. Zudem schließt er außenpolitisch einen Separatfrieden mit Preußen, der zwar das Ende des Siebenjährigen Krieges bedeutete, für Russland allerdings Nachteile brachte, und führte innenpolitisch ein umfangreiches Reformprogramm ein, wodurch er sich die Feindschaft der konservativen Kräfte des Landes zuzog, zumal der Kleinadligen. Zudem besagten Gerüchte, dass Peter plante, nach seiner Thronbesteigung Katharina aus dem Weg zu räumen, um dann seine Mätresse zur neuen Zarin zu machen. Orlow nun will Peters schwache Regierung und Preußenliebe sowie ihn als Konkurrenten nicht hinnehmen, Katharina nicht ihre Kaltstellung, und so schmieden beide den Plan für einen Staatsstreich.

Die Gebrüder Orlow. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f3/Alexey_and_Grigory_Orlov.jpg?1635362223763

Am 9. Juli 1762 proklamieren die Garderegimenter in einer Kirche Katharina II. als neue Kaiserin Russlands. Zugleich legt Grigori Orlow dem Herrscher des größten Reichs Europas die Abdankungsurkunde vor. Peter III. unterschreibt. „Der Zar ließ sich entthronen wie ein Kind, das man zu Bett schickt“, höhnt Friedrich der Große in Potsdam. Damit nicht genug: Elf Tage später starb er unter ungeklärten Umständen. In einigen Quellen wird Alexei Orlow, der Bruder von Katharinas Liebhaber, des Mordes beschuldigt. Dabei diente die Kopie eines Briefs von Orlow an Katharina II. lange Zeit als Indiz; sie wird nach neueren linguistischen Untersuchungen als Fälschung angesehen. Andere sprechen von einem natürlichen Tod. Inwieweit Katharina II. etwas mit einer möglichen Ermordung zu tun hat, lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Während einige Historiker annehmen, dass die Gebrüder Orlow auf eigene Faust gehandelt hatten, bezichtigen andere Katharina der Mitwisserschaft oder sehen sie sogar als mögliche Auftraggeberin des Mordes. Orlow wird für die nächsten zwölf Jahre der neue Mann an ihrer Seite, sie ernennt ihn zum General und Befehlshaber der Artillerie, nimmt ihn jedoch nicht zum Ehemann.

Stattdessen stürzt sich die 33jährige in die Politik und beginnt, inspiriert von den Ideen der Aufklärung, das zersplitterte, verknöcherte Russland zu einen und in die Gegenwart zu führen. Sie setzt zahllose Reformen durch, spannt ein Wirtschafts- und Verwaltungsnetz über das Riesenreich und baut Schulen in jedem Winkel. So wurde Russland in 40 Gouvernements eingeteilt und bekam eine neue Lokalverwaltung. In allen russischen Bezirksstädten gab es gegen Ende ihrer Regierungszeit eine Volksschule und in jeder Provinz bis auf den Kaukasus ein Gymnasium. Der Schulbesuch war freiwillig und kostenfrei. Ab 1764 erweiterte Katharina den Winterpalast in Sankt Petersburg um einen Anbau für Ihre Gemäldesammlung: Es entstand die Eremitage.

Eine ihrer ersten Amtshandlungen war am 22. Juli 1763 das „Einladungsmanifest“, das alle Ausländer aufforderte, „in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen“. Darin versprach Katharina zahlreiche Anreize für die Einwanderer aus dem Westen: Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, finanzielle Starthilfe, 30 Hektar Land pro Kolonistenfamilie. Zudem wurde die Sprachfreiheit zugesichert, speziell für die deutschen Einwanderer. Vor allem aber: „freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen“. Damit beginnt die lange Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen auf der Suche nach Heimat zwischen Deutschland und Russland. Bereits in den ersten fünf Jahren nach dem Manifest kamen über 30.000 Menschen nach Russland, die meisten davon aus Deutschland. Sie siedelten sich vor allem in der Umgebung von Sankt Petersburg, in Südrussland, am Schwarzen Meer und an der Wolga an: Allein im Wolgagebiet entstanden über 100 neue Dörfer.

Eremitage. Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/media/thumbs/e/e1bcbdc1f4579805da0360d06266398cv1_max_755x566_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=ffbf88

Sie bildet ihr Politikverständnis im intensiven Briefwechsel mit Aufklärern wie Voltaire, der sie wiederum in den höchsten Tönen preist wie in diesem Brief vom 22.12.1766: „Diderot, d’Alembert und ich errichten Ihnen Altäre. Sie machten mich wieder zum Heiden: ich werfe mich mit Anbetung zu den Füßen Ihrer Majestät und bin mit der tiefsten Hochachtung der Priester Ihres Tempels – Voltaire.“ Französisch erhob sie später zur Hofsprache. Katharina hasst Despotismus, verteidigt aber unnachsichtig die absolute Macht, um ihren Ideen in allen Winkeln Russlands Geltung zu verschaffen. Aufstände von Volksgruppen wie den Kosaken werden niedergeschlagen. Selbst eine Bauernrevolte, den Pugatschow-Aufstand 1773 – 75, lässt sie blutig unterdrücken: Obwohl sie kritisch zur Leibeigenschaft stand, verschlechterte sich die Lage der Bauern während ihrer Regentschaft dramatisch, gleichzeitig wurden die Privilegien des Adels gestärkt. In der alten Heimat half sie während der großen Hungersnot des Jahres 1772, indem sie eine große Menge Roggen zollfrei nach Zerbst schickte.

hemmungsloses Sexmonster

Orlow muss schließlich Major Grigori Potemkin den Platz räumen. Der soll nicht schön gewesen sein, aber charismatisch und wohl auch eitel. Als Liebespaar halten sie es nur etwas mehr als zwei Jahre miteinander aus, doch als Regenten des Landes bis zum Lebensende. Potemkin half ihr als Mitglied des Reichsrates und Präsident des Kriegskollegiums am meisten, den Machtbereich Russlands in einem Maße auszubauen wie kein russischer Herrscher vor ihr; er baute die Schwarzmeerflotte auf, gründete Städte wie Sewastopol und Odessa und organisiert die Landwirtschaft. In zwei russisch-türkischen Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792 eroberte Russland den Zugang zum Schwarzen Meer und weite Küstengebiete und gewann im Ergebnis der drei Teilungen Polens eine Million km² Landgebiete und sechs Millionen Menschen dazu. Die Eroberung Konstantinopels und die Neugründung des Byzantinischen Reiches unter russischer Herrschaft scheiterten geradeso am einseitigen Kriegsaustritt Österreichs im letzten der beiden Türkenkriege. Die Krim wurde 1783 annektiert. Und nebenbei wurde durch Katharinas Vermittlerrolle im Frieden von Teschen der Bayerische Erbfolgekrieg beendet.

An ihrem Lebensende hat sie mit Alexander Mamonow, der sie wegen einer sechzehnjährigen Hofdame verließ, und Fürst Subow, der bei ihrem Tod gerade 29 Jahre alt war, noch weitere verbürgte Liebhaber. Zahlreiche Pamphlete und Karikaturen stellten sie als hemmungsloses Sexmonster dar, das sich kompanieweise von Männern, ja Pferden befriedigen ließ. Motiviert wurden die Bettgeschichten zum einen durch schwüle Träume von der Favoritenkultur am Hof der Zarin, zum anderen durch politische Publizisten im Zuge der Französischen Revolution. Die Autokratin sollte damit desavouiert werden. Die Französische Revolution versetzte sie übrigens in Schrecken und bewirkte eine Veränderung ihrer Innenpolitik: Erstmals in ihrer Regierungszeit kam es zur massiven Verfolgung regierungskritischer Intellektueller.

Im Jahr vor ihrem Tod hatte sie aus ihrer privaten Sammlung und den angekauften Beständen der Bibliotheken von Voltaire und Denis Diderot die Russische Nationalbibliothek gegründet, die erste öffentlich zugängliche Bibliothek des Reiches. Außerdem probierte sie sich als Dramatikerin, schrieb den Fünfakter „Aus Rjuriks Leben“ um den Gründer der Kiewer Rus sowie „Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben“ und verfasste ihre Memoiren. Die Rückständigkeit ihres Reiches und dessen ungeheure Ausdehnung setzen ihrem Gestaltungswillen Grenzen. Trotzdem errichtet Katharina bis zu ihrem Tod die Grundmauern der russischen Nation. Sie ist bis heute die einzige Frau unter den „Großen“ der Geschichte. Ihr wurde der Titel „die Große“ von ihrer Gesetzgebenden Kommission verliehen, die dabei wiederum Peter I. vor Augen hatte.

Grab in Petersburg. Quelle: Von Deror avi – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8368283

Das englische Gentleman´s Magazine bezeichnete Katharina als „große Fürstin“, der die „bedeutendste aller Revolutionen in der Geschichte der Menschheit gelungen war, nämlich die Zivilisierung eines so großen Teiles der Erdbevölkerung und die Kultivierung der wildesten und unerschlossensten Einöden.“ Für die Historikerin Jill Graw sticht sie „auch hinsichtlich ihrer religiösen Toleranz, ihrer Fürsorge für die Schwachen, ihrer Bescheidenheit und ihrer in allen Lebensbereichen gelebten Authentizität aus der Masse anderer Herrscherfiguren hervor.“ Zahlreiche Spiel- und Fernsehfilme wurden über Katharina produziert, in denen sie unter anderem von Marlene Dietrich, Julia Ormond und Catherine Zeta-Jones verkörpert wurde. Ihre Erinnerung wird in zahlreichen Denkmälern bewahrt. Sie regierte im „goldenen Jahrhundert für den russischen Adel“ 34 Jahre; von den Romanows hatte nur Peter I. der Große länger regiert.

Der Wüstenfuchs

Das Narrativ der „Sauberen Wehrmacht“ geht vor allem auf seine „ritterliche“ Kriegsführung zurück. Bei der Verbreitung half erheblich Hans Speidel, 1944 sein Stabschef, der den Mythos unbeschadet in die Nachkriegszeit überträgt. Mit seinem 1949 erschienenen Buch „Invasion 1944“ legte er den Grundstein für die Umdeutung seines Vorgesetzten vom hitlertreuen General zum Widerstandskämpfer, der dem NS-Regime zum Opfer fiel. Er habe die „wachsende Amoralität des Regimes“ erkannt und Hitler im Juli 1944 verhaften wollen. Nur seine schwere Verwundung habe verhindert, dass er „zur Tat schreiten“ konnte. Speidel, seit 1950 militärischer Berater Adenauers und Mitplaner der Bundeswehr, gelingt es, seiner Perspektive breite gesellschaftliche Zustimmung zu verschaffen.

Er wird nun zum soldatischen Vorbild auch der Bundeswehr und dient der Traditionsbildung der neuen Streitkräfte. Im November 1956 spricht Speidel als Bundeswehrgeneral erstmals vor Soldaten am Grabe des Feldmarschalls. Er habe sein Gewissen über den Gehorsam gestellt, so Speidel, sein Leben gereiche „den besten Traditionen deutschen Soldatentums und unseres deutschen Volkes überhaupt zur Ehre.“ Zwei Jahrzehnte hat das neue Leitbild Bestand. Straßen, Kasernen und ein Zerstörer werden nach dem Feldmarschall benannt. Erst Ende der 1970er-Jahre gerät das Bild in die Kritik, und es beginnt um ihn ein Deutungsstreit, der bis heute andauert: Johannes Erwin Eugen Rommel, der am 15. November 1891 in Heidenheim an der Brenz zur Welt kam.

Rommel, drittes von fünf Kindern eines Lehrers, ist ein verträumter, blasser und oft kränkelnder Junge, auch in der Schule ist er nicht erfolgreich. Erst später entwickelt sich sein mathematisches Talent, und er interessiert sich für die Fliegerei. Die Zeppelinwerft am Bodensee hat es ihm angetan: Er will Flugzeugingenieur werden. Doch der Vater stellt ihn vor die Wahl: Lehrer oder Offizier. Rommel entscheidet sich für das Militär und tritt am 19. Juli 1910 als Fahnenjunker in das Infanterie-Regiment „König Wilhelm I.“  im oberschwäbischen Weingarten ein. Er wird Leutnant, bildet für das Regiment Rekruten aus und hat eine Freundin: Walburga Stemmer, die im Dezember 1913 Tochter Gertrud zur Welt bringt. Rommel will sie nicht heiraten, sie stirbt 1928 mutmaßlich durch Suizid. Zeitlebens gibt er sich als Gertruds Onkel aus.

Rommel. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 146-1985-013-07 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5483247

1911 hatte er während eines Kriegsschullehrgangs in Danzig Lucie-Maria Mollin kennengelernt, beide heiraten 1916. Im 1. Weltkrieg kämpft Rommel immer an vorderster Front, wird mehrfach verwundet, befördert und ausgezeichnet. Im Oktober 1917 steht er als Kompaniechef des württembergischen Gebirgsbataillons einer italienischen Übermacht an der Isonzo-Front gegenüber. Für die Eroberung des Monte Matajur ist der höchste Orden ausgesetzt: der Pour le Mérite. Rommel will ihn haben. Er erstürmt an der Spitze seiner Truppe den Matajur und hat Erfolg.

Jüngster deutscher Generalfeldmarschall

Nach dem Krieg entgeht er der Entlassung nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags. 1921 bis 1929 ist er Chef einer Maschinengewehrkompanie in Stuttgart, wo 1928 auch sein Sohn Manfred zur Welt kommt, der spätere Stuttgarter Oberbürgermeister. Danach lehrt er bis 1933 an der Dresdner Infanterieschule. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten begrüßt Rommel, da er sich eine Revision des Versailler Vertrags erhofft. Er wird Bataillonskommandeur in Goslar und zum Major befördert. Nach einem Intermezzo als Lehrgangsleiter der Infanterieschule Potsdam wird er 1936 in das militärische Begleitkommando von Hitler berufen und veröffentlicht im Jahr darauf sein Buch „Infanterie greift an“, das sich bis 1945 über 400.000 Mal verkauft. Gefördert durch Hitler macht er nun eine Bilderbuch-Karriere und wird zum Helden der NS-Propaganda. Beim deutschen Einmarsch in das Sudetengebiet 1938 hat Rommel den Oberbefehl über das Führerbegleitkommando und wird 1939 Kommandant des Führerhauptquartiers bei der Besetzung von „Resttschechei“ und Memelland.

Als Generalmajor hat er dann bei Beginn des Zweiten Weltkriegs die reguläre Leitung des Führerhauptquartiers inne. Als Kommandeur der 7. Panzerdivision nimmt er 1940 am Frankreichfeldzug teil und erhält das Ritterkreuz. Rommel hatte bis dahin zwar keinerlei praktische Erfahrung in der Führung von Panzerverbänden, erwies sich mit seiner eigenwilligen „Vorne-Führung“ aber als erfolgreich: Er führte lieber aus dem Befehlspanzer von vorne als vom Kartentisch weit hinter der Front.  Die Unvorhersehbarkeit und Geschwindigkeit seiner Operationen irritierten nicht nur seine Gegner, sondern auch das deutsche Oberkommando und brachte seiner Einheit den Beinamen „Gespensterdivision“ ein. Er hat einen Auftritt in der NS-Wochenschau. Auch Bildpostkarten sind in dieser Zeit schon weit verbreitet: Rommel entspricht dem Idealtyp des jungen, modernen Offiziers. Nach seiner Beförderung zum Generalleutnant erhält Rommel 1941 mit dem „Unternehmen Sonnenblume“ den Oberbefehl über das deutsche Afrikakorps in Libyen gegen den Widerstand des Oberbefehlshabers des Heers, Walther von Brauchitsch.

16.6.1942 Generaloberst Rommel mit seinem Stab, ca. 46 km westl. von Tobruk. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 101I-443-1582-32 / Bauer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5412247

Mit einer Offensive gegen die britischen Truppen zu Beginn des Afrikafeldzugs gelingt ihm im Frühjahr die Rückeroberung der Cyrenaika (Libyen), obwohl das Oberkommando des Heeres ihn vorher mehrfach angewiesen hatte, auf das Eintreffen von Verstärkung zu warten. Da die Briten die Enigma-Verschlüsselung entschlüsselt hatten, hörten sie die wiederholten Wartebefehle an Rommel ab und erwarteten keine weiteren Schritte, weshalb ihm weitere Vorstöße gelangen. Prompt wird er Befehlshaber der „Panzergruppe Afrika“. Seine Erfolge bewegen Goebbels und Hitler, ihn zum Volkshelden zu stilisieren. Im April 1941 wird Rommel in der Zeitschrift „Das Reich“ als soldatischer Führer beschrieben, „dem jede neue Aufgabe und jeder neue Boden willkommen ist, Lehrer und Vorbild, politischer Kämpfer und militärischer Schriftsteller, (…) eine Gestalt, die von den jungen Deutschen als diesem Jahrhundert gemäß empfunden wird.“ Insgesamt war der deutsche Einsatz in Nordafrika von Nachschubproblemen aufgrund der bevorzugten Versorgung der deutschen Truppen im Krieg gegen die Sowjetunion geprägt. Umso beachtlicher sind seine Erfolge. Der britische Historiker Paul Kennedy bezeichnet etwa die Niederlage der amerikanischen Landstreitkräfte bei Kasserine als „demütigendste Niederlage“ im gesamten Krieg neben der Schlacht um die Philippinen.

Am 20. Januar 1942 wurde Rommel als erster Soldat des Heeres mit den Schwertern zum Ritterkreuz mit Eichenlaub ausgezeichnet. Aus Rommel wird so „Unser Rommel“, ein Offizier, der immer ganz nahe bei „seinen“ Soldaten ist, ein harter und fordernder Kommandeur, auf den man sich verlassen kann. Nach der Eroberung von Tobruk ernennt Hitler Rommel im Juni zum Generalfeldmarschall, dem jüngsten Deutschlands, woraus weitere Konflikte mit der Generalstabsführung erwachsen. Er rückt bis El Alamein in Ägypten vor, tritt im Berliner Sportpalast auf und wird von der Propaganda als Kriegsheld gefeiert. Nach der Gegenoffensive erteilt Hitler den Befehl zum Halten der Stellung, doch im November beginnt Rommel den Rückzug.

mutiger Feldherr und großer Taktiker

Als die Niederlage der deutschen Truppen abzusehen war, verließ Rommel, zuvor noch zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Afrika ernannt, am 6. März 1943 den Kontinent: Die von der deutschen Bevölkerung verehrte Propagandafigur sollte nicht mit der Niederlage in Verbindung gebracht werden. Nur Tage später verlieh Hitler Rommel die Brillanten zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern als erstem Soldat des Heeres. Wegen seiner Befehlsmissachtung war es erstmals zu Spannungen zwischen Hitler und Rommel gekommen, die sich erst auflösten, als sich Rommels Einschätzung der nicht mehr abzuwendenden Niederlage in Nordafrika im Mai schließlich bestätigte. Insgesamt brachten ihm die Erfolge im Afrikafeldzug große Popularität in der Heimat und offenen Respekt im Ausland sowie den Spitznamen „Wüstenfuchs“ ein. Er gilt als risikobereiter Befehlshaber, der im Gefecht die gegnerischen Schwächen brillant ausnutzen, die Gegenseite durch schnelle und überraschende Vorstöße überrumpeln kann und auch von den Gegnern als mutiger Feldherr und großer Taktiker anerkannt wurde. Im Ausland galt er als der nach Hitler bekannteste Deutsche.

Rommel mit Speidel 1944. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 101I-719-0240-22 / Jesse / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5413491

Nach der alliierten Landung in Sizilien erhält Rommel das Kommando über die Heeresgruppe B. Als im August Benito Mussolini gestürzt wird, besetzt Rommel mit seiner Heeresgruppe Italien. Im November bekommt er den Auftrag zur Kontrolle der Verteidigungsmaßnahmen an der französischen Atlantikküste und ist damit Hitler direkt unterstellt – er galt, obwohl nie NSDAP-Mitglied, als Hitlers Lieblingsgeneral. Im März 1944 unterzeichnete Rommel wie alle anderen Generalfeldmarschälle eine Loyalitätserklärung gegenüber Hitler, obwohl er diese als unnötig empfand, da seiner Ansicht nach ein einmal gegebenes soldatisches Treuegelöbnis ohnehin dauerhaften Bestand habe.

Noch im Juni 1944, als die alliierte Invasion unmittelbar bevorsteht, beteiligt er sich an Plänen des Propagandaministers, eine „Zersetzungspropaganda“ gegenüber den westalliierten Truppen aufzubauen. „Er ist auch persönlich an dieser Propaganda interessiert und möchte sie mit allen Mitteln fördern. Er hat sich selbst Gedanken darüber gemacht und bringt praktische Vorschläge für einzelne Sendungen und Themen!“, schreibt Goebbels Beauftragter Alfred-Ingemar Berndt nach einem Frankreich-Besuch bei Rommel. Sowohl in persönlichen Besprechungen mit Hitler im Juni 1944 als auch in seinem Schreiben „Betrachtungen zur Lage“ vom 15. Juli machte er dann deutlich, dass er einen Sieg der deutschen Truppen für unwahrscheinlich hielt.

Am 17. Juli wurde Rommel bei einem Tieffliegerangriff schwer verwundet: er erlitt einen dreifachen Schädelbruch und ein zugeschwollenes linkes Auge, dessen Bewegungsnerven abgequetscht waren. Nachdem er seinen Oberbefehl über die Heeresgruppe niedergelegt hatte, hielt er sich zur Erholung in seinem Haus in Herrlingen auf. Nach dem Attentat vom 20. Juli wird er aus Kreisen der Wehrmachtsführung der Beteiligung am Widerstand beschuldigt: Er habe von den Anschlagsplänen gewusst und sich einer möglichen neuen deutschen Regierung im Vorfeld als potentieller Reichspräsident zur Verfügung gestellt. Schon in den Wochen vor seinem Tod habe der Vater gegenüber der Familie von Todesängsten gesprochen, berichtet Manfred Rommel in Interviews nach dem Krieg. Er bekommt am 7. Oktober den Befehl, sich in Berlin zu melden, um sich vor dem Volksgerichtshof zu verantworten. Mit Verweis auf seinen gesundheitlichen Zustand lehnt er ab. Daraufhin sind am 14. Oktober Hitlers Chefadjutant Wilhelm Burgdorf und der Chef für Ehrenangelegenheiten im Heerespersonalamt Ernst Maisel bei Rommel in Herrlingen angemeldet.

„Offizier aus dem Geiste des Nationalsozialismus“

Nach späteren Verhörprotokollen soll Burgdorf das Protokoll eines Verhörs mit von Hofacker, einem der am Attentat Beteiligten, dabeigehabt haben. Von Hofacker belastet Rommel darin schwer. Auch Maisel gibt später zu Protokoll, dass Rommel, konfrontiert mit der Aussage von Hofackers, geantwortet habe: „Ich habe mich vergessen und ich werde die Konsequenzen ziehen.“ Nach anderen Quellen streitet Rommel die Vorwürfe ab und sieht sich als Opfer einer Intrige. Die Abgesandten Hitlers bleiben unbeeindruckt. Die Generäle stellen ihn vor die Wahl: Entweder er wird dem Volksgerichtshof überstellt und seine Familie in Sippenhaft genommen, oder er begeht Selbstmord und erhält ein Staatsbegräbnis. Rommel entscheidet sich für den Selbstmord. Den Generalen soll Rommel noch gesagt haben: „Ich habe den Führer geliebt und liebe ihn noch…“.

Gedenkstein für Erwin Rommel am Ort des Suizids in Herrlingen. Quelle: Von Olga Ernst – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78676578

Der 15 Jahre alte Manfred darf sich noch von seinem Vater verabschieden, für immer. Kurz hinter dem Ortsausgang von Herrlingen nimmt sich der Generalfeldmarschall mit der von den Generalen mitgebrachten Zyankali-Kapsel das Leben. Offiziell heißt es: „Generalfeldmarschall Rommel ist an den Folgen einer schweren Kopfverletzung, die er als Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe im Westen durch einen Kraftfahrzeugunfall erlitten hatte, verstorben.“ Die NS-Propaganda kann aufgrund seines Nimbus den Slogan „Unser Rommel“ nicht ohne Prestigeverlust Hitlers und seines Regimes ins Gegenteil verkehren. Sie muss den Schein wahren, ja ihn durch ein Staatsbegräbnis sogar noch stärken. Rommel muss gewusst haben, dass er dadurch die Deutung seiner Person und seiner Taten an das Regime abtreten würde. Um seine Familie vor Verfolgung zu schützen, schweigt er und fügt sich in das Unabwendbare. Beim feierlichen Staatsakt im Ulmer Rathaus lässt sich Hitler vom Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall von Rundstedt, vertreten: Rommel sei ein Offizier „aus dem Geiste des Nationalsozialismus“ gewesen. Sein Herz habe dem Führer gehört.

Rommels Bewertung als unpolitischer, genialer Befehlshaber und Opfer des Nationalsozialismus prägt sein Bild bis heute. Die erste Biographie schrieb ausgerechnet der Brite Desmond Young 1950, der in Nordafrika selbst gegen Rommel gekämpft hatte. Im selben Jahr hatte Rommels Witwe seine Memoiren veröffentlicht mit dem Titel „Krieg ohne Hass“. Damit war laut Daniel Sternal auch „eine positive Leitfigur“ in den Nachkriegswirren erschaffen und dankbar angenommen worden. Weiteren Auftrieb bekam seine Popularisierung mit dem Hollywoodfilm „The Desert Fox: The Story of Rommel“ mit James Mason, der 1952 zum Kassenschlager wurde. Nach dem Krieg entstanden Gruppen wie der „Verband Deutsches Afrika-Korps e.V.“ sowie das „Rommel Sozialwerk e.V.“, die ein Übriges taten.

Ausgerechnet der rechtskonservative Historiker David Irving hatte mit einer 1978 auf Deutsch erschienen Rommel-Biographie erstmals mit großer öffentlicher Resonanz die Beteiligung Rommels am Widerstand angezweifelt. Linke haben inzwischen nachgezogen, vor allem beim Umgang mit seinen Denkmälern, zumal dem am Ortsrand seiner Geburtsstadt Heidenheim. Die „Heidenheimer Geschichtswerkstatt“ hat dessen Umgestaltung oder gar Entfernung gefordert. Eine 2011 angebrachte Informationstafel mit Erläuterungen wurde als peinliches Dokument geschichtlicher Ahnungslosigkeit 2014 wieder entfernt. Seit 2020 wirft ein Gegendenkmal einen „Schatten“ darauf – ein Minenopfer an Krücken, um auf Rommels „Teufelsgärten“ hinzuweisen: Labyrinthe aus hufeisenförmigen Minenfeldern, deren Öffnungen in Richtung der britischen Widersacher wiesen.

Erwin Rommel mit Frau Lucie und Sohn Manfred 1941 in Wiener Neustadt. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/bd55352f-0001-0004-0000-000000612032_w860_r1.5167548500881833_fpx35.47_fpy49.92.jpg

„Wenn es um ‚Führerkult‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ ging, stand Rommel dem Nationalsozialismus sehr positiv gegenüber. Wenn man aber unter einem ‚Nazi‘ einen Antisemiten, einen Kriegsverbrecher und einen radikalen Weltanschauungskrieger versteht, dann war Rommel kein ‚Nazi‘. Im Gegenteil, er missachtete mehrmals verbrecherische Befehle“, so der Potsdamer Militärhistoriker Jürgen Lieb in der Welt. In der wissenschaftlichen Literatur überwiegt heute das Bild des opportunistischen Karrieristen, der als Produkt seiner Generation wie große Teile des deutschen Offizierskorps lange unfähig, aber bis zu einem gewissen Grad auch unwillig war, die politischen Ziele des Nationalsozialismus in adäquater Weise zu erfassen.

Stirbt die Natur zum Winter hin, werden die Menschen im Sternbild Skorpion geboren. Kein Wunder, dass ihnen zu Leid, Vergänglichkeit, Tod, Trauer und Erlösung eine besondere existenzialistische Nähe nachgesagt wird – die sie manchmal suchen, die sie manchmal aber auch ungewollt ereilt. Sein Leben und Werk ist ein Paradebeispiel dafür. Als kleiner Junge lief er voller Angst vor einem Wolf durch ein Sonnenblumenfeld in die Arme des Bauern Marai, der mit seinen erdverschmierten Fingern ein Kreuz auf seine Stirn malt, erinnert er sich. „Er war ein Vertrauter der Hölle“ schrieb Thomas Mann. Seit seiner Kindheit Epileptiker, erlebte er bei seinen Anfällen Gefühle, die aus Nahtod-Erfahrungen bekannt sind: „Ich fühlte mich, als wenn der Himmel auf die Erde herabgekommen wäre und mich einhüllte“, schreibt er in einem Brief.

Die tiefste Erfahrung aber wurde ihm am 22. Dezember 1849 in Petersburg zuteil – der 28jährige war gemeinsam mit anderen wegen des Vorwurfs umstürzlerischer Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. In weiße Leichenkittel und Kappen eingekleidet und bereits an den Pflöcken festgebunden, wurde dann ein Erlass von Zar Nikolaus verlesen, der ihm alle Vermögensrechte absprach, ihn für vier Jahre zur Zwangsarbeit in die Verbannung schickte und danach zum einfachen Soldaten verpflichtete – Stefan Zweig gestaltet dieses Ereignis in den Sternstunden der Menschheit. 1864 musste er dann den Tod seiner ersten Frau, seines Bruders Michail und eines guten Freundes verkraften, woraufhin er 1865 nach Wiesbaden fuhr und aus Verzweiflung versuchte, seine finanzielle Lage durch das Roulettespiel zu verbessern. Er verlor jedoch alles, was er besaß, und wurde spielsüchtig. Auch zwei der vier Kinder seiner zweiten Frau musste er früh begraben – und lebte und schrieb weiter.

Dostojewski. Quelle: Von Wassili Grigorjewitsch Perow – kgHBFHS7SpcayQ at Google Arts & Culture, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=13499483

Der dänische Slawist Adolf Stender-Petersen hat sein Schreiben als „psychologischen Realismus“ charakterisiert. Jahrzehnte vor der Begründung der Psychoanalyse sondierte er minutiös die menschliche Seele, zeigte ihre inneren Widersprüche und die Macht des Unbewussten auf und bemühte sich um eine Rehabilitierung des Irrationalen. Sigmund Freud und Alfred Adler haben sein Werk studiert und konnten bei der Entwicklung ihrer Lehren aus Entdeckungen schöpfen, die er bereits ausführlich dargestellt hatte. Friedrich Nietzsche hat einmal geschrieben, er sei der einzige Psychologe, von dem er habe lernen können. „Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen“, wies ihm Albert Camus gar eine prophetische Begabung zu: Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, der am 11. November 1821 als jüngster Sohn einer verarmten Adelsfamilie in Moskau geboren wurde.

Ideal eines christlichen Sozialismus

Er hatte acht Geschwister, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Der russisch-orthodoxe Glaube spielte in der Familie eine große Rolle: Die Mutter hatte die Söhne mit religiösen Kinderbüchern alphabetisiert. Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte Dostojewski in der Klinik, in der sein Vater als Arzt arbeitete. Diese bedrückende Atmosphäre prägte den Charakter des jungen Fjodor, der wenig Kontakt zur Außenwelt hatte und früh die Welt der Bücher für sich entdeckte. Vor allem Puschkin verehrte Dostojewski sein ganzes Leben lang als Halbgott. Er war Vielleser und verschlang daneben auch populäre Unterhaltungsliteratur der Zeit. Von 1833 bis 1837 besuchten er und sein Lieblingsbruder Michail zwei private Internatschulen. Nach dem frühen Tod der Mutter siedelte die Familie 1837 nach St. Petersburg über, wo zwei Jahre später auch sein Vater starb.

Ab 1838 studierte Dostojewski an der Militärakademie und begann im August 1843 seinen Dienst als Militäringenieur, zunächst als unbedeutender Militärzeichner. Als ihm eine Versetzung außerhalb Petersburgs drohte, reichte er 1844 seinen Abschied ein. In diesem Jahr hatte sich Dostojewski mit der Übersetzung französischer Prosa beschäftigt; seine Übertragung von Balzacs Eugénie Grandet wurde gedruckt. Aus Briefen ist bekannt, dass er daneben eigene schriftstellerische Versuche unternahm, die jedoch verloren gegangen sind. Sein erster erhaltener Text ist 1845 der Briefroman Arme Leute. Er porträtierte als erstes Werk in der russischen Literatur Menschen in Armut und Elend mit der ganzen Zartheit und Komplexität ihrer Gefühle und ihres Leidens. Die russische Intelligenzija feierte es enthusiastisch. Im selben Jahr lernte er den Kritiker Belinskij kennen, der einen atheistischen Sozialismus vertrat, ihn für die Lektüre von Ludwig Feuerbach warb und 1846 seine Novelle Der Doppelgänger veröffentlichte.

zeitgenössische Darstellung der Schein-Erschießung. Quelle: Von B. Pokrovsky – This file is available from the «Runivers» project website (runivers.ru)and its original description available at the link.This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons:Licensing for more information., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10535140

Parallel zur Publikation weiterer kleiner Prosaarbeiten wie „Weiße Nächte“ (1848) nahm er an Treffen der Petraschewzen teil und las dort ein „kriminelles Schreiben“ Belinskijs an Nikolai Gogol vor – nach Denunziation führte diese Lesung zum Prozess und zum Todesurteil. 1850-54 verbrachte er in Ketten in der Omsker Katorga, wo die politischen Häftlinge zusammen mit gewöhnlichen Kriminellen untergebracht waren. Er durfte nicht schreiben, lag aber einige Zeit in der Krankenstation, wo er heimlich ein Notizbuch führen konnte. Revolutionsideen und früheren politischen Überzeugungen schwor Dostojewski während der Gefangenschaft und des anschließenden Militärdienstes vollständig ab, hielt jedoch sein Leben lang am Ideal eines christlichen Sozialismus fest: der Idee, dass Menschlichkeit durch ihre spirituelle Kraft ein Paradies auf Erden schaffen könne.

Nach der Entlassung musste er sich im westsibirischen Semipalatinsk (heute Semei/Kasachstan) dem 7. Sibirischen Linienbataillon anschließen. Weil sich Freunde für ihn einsetzten, brauchte er nicht in der Kaserne zu wohnen, wurde 1855 zum Offizier befördert und durfte seit 1856 wieder veröffentlichen. Sein erster Text waren die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen er präzise und authentisch die dürftigen Bedingungen der Katorga schilderte. Die Veröffentlichung mehrerer Kapitel scheiterten zuerst an der Zensur: Dostojewski hatte befürchtet, dass seine Enthüllung der Grausamkeit der Lagerrealität Anstoß erwecken würde. Doch das Gegenteil war der Fall: Ein Zensor kritisierte, dass potenzielle Straftäter durch die Schilderung nicht ausreichend abgeschreckt würden. Der Text begründete das Genre der „Lagerliteratur“, in dessen Tradition später auch Solshenizyn schrieb.

finsterste Winkel der menschlichen Seele

1857 heiratete er die Witwe Marija Issajewa, die einen 9-jährigen Sohn mit in die Ehe brachte, erhielt seine Bürgerrechte zurück und schrieb weiter, so die Novelle Onkelchens Traum oder den Roman Erniedrigte und Beleidigte. Da sich seine Epilepsie verschlimmerte, wurde er 1859 aus dem Militärdienst entlassen, siedelte erst nach Twer und nach Zar Nikolaus‘ Tod wieder nach Petersburg über. Ab 1861 gab er zusammen mit seinem Bruder die Zeitschrift Die Zeit heraus, nach deren Verbot Die Epoche. Seine Einnahmen ermöglichten ihm dann drei größere Europareisen, auf denen ihn teilweise seine Geliebte Polina Suslowa begleitete. Die dritte diente zur Bewältigung seines Schicksalsjahres 1864. Die Zeit der großen Ideenromane begann – insgesamt 35 Romane wird Dostojewski am Ende geschrieben haben, in denen er die finstersten Winkel der menschlichen Seele ausleuchtet, auch die seiner eigenen.

Gesamtausgabe des Aufbau-Verlags. Quelle: https://images.booklooker.de/x/024sHI/Fjodor-Dostojewski+S%C3%A4mtliche-Romane-und-Erz%C3%A4hlungen.jpg

1866 erschien Schuld und Sühne, in dem er die seelischen Reuequalen von Rodion Raskolnikow gestaltet, der aus Nächstenliebe und Mitleid zum Mörder wird. Im selben Jahr engagierte er die 20-jährige Stenographin Anna Snitkina, der er in 24 Tagen den Kurzroman „Der Spieler“ diktierte – und die er 1867 heiratet. Die Personalie „könnte im Zeitalter von MeToo Brisanz entfalten“, zieht Tilman Krause in der Welt genüsslich vom Leder. Denn seine zweite Gattin sei nicht nur „zur kompetenten Mitarbeiterin, ja sogar zur Verlegerin mutiert. Sie schrieb dann auch die erste Dostojewski-Biografie. War das nun Ausbeutung oder Förderung?“ Im selben Jahr flüchtet er wegen anhaltender finanzieller Schwierigkeiten mit Anna bis 1871 ins Ausland, darunter lange nach Deutschland. Er spielte wieder, überwarf sich mit Turgenjew, erlebte in der Schweiz Geburt und Tod seiner ersten Tochter und veröffentlichte 1868 Der Idiot, in dem er seinen Fürst Myschkin mit seiner christusähnlichen Mitleidskraft zum Sonderling der Gesellschaft macht. Im Jahr darauf kam seine zweite Tochter Ljubow in Dresden zur Welt, wo er mit Unterbrechungen zwei seiner vier Auslandsjahre verbrachte. Heute erinnert ein Denkmal an der Elbe nahe dem Sächsischen Landtag daran.

Die Eheleute Dostojewski spazieren auf den Spuren des hoch verehrten Friedrich Schiller, trinken Kaffee in der  „Schillerlinde“, hören im Großen Garten die Konzerte der Regimentskapelle, machen Dampferfahrten auf der Elbe oder holen sich russische Bücher aus der Pachmann‘schen Leihbibliothek in der Wilsdruffer Straße. Und fast täglich besuchen sie die Gemäldegalerie und dort immer wieder Raffaels „Sixtinische Madonna“, wobei er Ärger mit einem Wärter bekommt, da der Kurzsichtige auf einen Stuhl steigt, um sie besser betrachten zu können. Hier schreibt Dostojewski die ersten zwei Bände der Dämonen und nennt darin Dresden einen „Schatz in einer Schnupftabakdose“, der „noch dazu eine kleine Schweiz im Taschenformat hat“. In den fast 60 Briefen, die Dostojewskij aus Dresden schrieb, spielt ihr Leben in der Stadt jedoch kaum eine Rolle. Mit seinen Gedanken war er allein in Russland, von dessen missionarischer Sendung für die Welt er sich durch seine Erfahrungen in Westeuropa bestätigt fühlte. In einem Brief spricht er vom „Licht aus dem Osten, das zu der erblindeten Menschheit im Westen strömt, die Christus verloren hat“.

Denkmal in Dresden. Quelle: Von Corradox – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9382696

Zurück in Petersburg gebar seine Frau den ersten Sohn Fjodor. Er vollendet den dritten Teil der Dämonen und veröffentlicht 1875 Der Jüngling. Im selben Jahr kommt sein zweiter Sohn Aljoscha zur Welt, der drei Jahre später schon wieder stirbt. 1880 erschien der letzte und umfangreichste Roman Die Brüder Karamasow, eine hochkomplexe kriminalistische Familiengeschichte mit einer immensen Anzahl an Figuren und vielen Handlungssträngen, in denen Dostojewski sämtliche Ideen und Menschenentwürfe, die ihn bis dahin bewegt hatten, erneut behandelte. Die zentralen Fragen, die von den Protagonisten auf jeweils eigene Weise beantwortet werden, sind die nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens. Das künstlerische Autorentum Dostojewskis erreicht hier seinen Höhepunkt, was Sigmund Freud zu dem Urteil veranlasste, dies sei „der großartigste Roman, der je geschrieben wurde“. Hermann Hesse las ihn als Prophezeiung des Unterganges des europäischen Geistes. Dostojewskis mehrdeutige Sentenz „Wir sind Revolutionäre (…) aus Konservatismus“ wurde 1921 von Thomas Mann aufgegriffen und in das Schlagwort einer „konservativen Revolution“ umgemünzt. Seine finanzielle Lage hatte sich in den letzten Jahren aufgrund seines Ruhmes verbessert, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Fjodor Dostojewski verstarb am 28. Januar 1881 nach einem Blutsturz infolge eines Lungenemphysems.

getrieben von Liebe und Sehnsucht

An der Trauerfeier am 31. Januar nahmen 60.000 Menschen teil. Begraben ist er auf dem Tichwiner Friedhof im Alexander-Newski-Kloster. Mit Iwan Turgenjew und Leo Tolstoi gehört Dostojewski zum unangefochtenen Dreigestirn des russischen Romans, zu den Giganten der russischen Literatur. Er avancierte mit moderner psychologischer Erzählweise und der philosophischen Komplexität seiner Gedankenwelt zu einem der bedeutendsten Autoren des 19. Jahrhunderts, der seinerseits nahezu alle namhaften Autoren nach ihm beeinflusste. Bezeichnend für seinen Stil ist die große emotional-emphatische Eindringlichkeit der Beschreibung der Charaktere seiner Protagonisten. Seine Gestalten sind entweder von einem bösen Dämon gerittene Wesen, andere wieder von einer fast überirdischen Reinheit und Weichheit. Immer ist er von tiefstem Mitleid und Verstehen der gequälten Menschheit besessen. „Thema seines gesamten Schaffens ist das Leben der Erniedrigten und die verzweifelte Menschenseele, die aber trotz aller Verirrungen sich immer wieder erhebt, getrieben von Liebe und Sehnsucht nach dem Guten“, befindet Georg Bürke auf dem Blog Deutschland-Lese.

Begräbniszug. Quelle: Von V. Porfiryev – http://www.smolgazeta.ru/culture/5895-k-godovshhine-uxoda-smert-i-poxorony-dostoevskogo.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19043421

Seine Romane spielen fast ausnahmslos in der Großstadt, besonders in Petersburg, dessen Elendsviertel er mit ungeheurer Kraft und Anschaulichkeit schildert und ins Unheimliche, ja Dämonische steigert. Doch er lehnt alle Versuche ab, die sozialen Probleme durch äußere Mittel zu lösen, und ersehnt Erlösung allein durch die erbarmende Liebe Gottes, der sich dem Demütigen und Liebenden offenbart, selbstherrliches Übermenschentum aber an der eigenen Überheblichkeit scheitern lässt. Besonders in seinem Spätwerk zeigt sich als leitendes Motiv die vom Sozialismus übernommene Idee eines goldenen Zeitalters. Trotzdem wurde er, beginnend bei Lenin und Maxim Gorki, bis 1956 in seiner Heimat als „reaktionär“, „bourgeois“ und „individualistisch“ verfemt. Seine Werke wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt. „Bei Dostojewski gab es Glaubhaftes und Unglaubhaftes“, bilanzierte Ernest Hemingway seine Lektüre, „aber manches davon so wahr, dass es beim Lesen einen anderen Menschen aus dir macht“.

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