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Glaubt man der jüngsten Debatte im Feuilleton, sei die Romantik für das Anwachsen des impfkritischen Protest-Milieus verantwortlich. Wir lernen: Sucht man sie zu erzwingen, kann Aktualisierung nur schiefgehen.

Meine Februar-Kolumne für Tumult, die gern verbreitet werden kann.

Sein erster Roman, den er in gewisser Weise nicht mehr überboten hat, handelt von der Erfahrung des Hungers – eine Erfahrung, die er am eigenen Leib gemacht hatte, in der Stadt, die damals noch nicht Oslo, sondern Kristiania hieß. „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist …“ – Es gibt Bücher, die schon mit ihrem ersten Satz faszinieren und eine unverwechselbare Melodie anstimmen, und ihm gelang eine dieser Melodien. Viele andere sollten folgen.

Freilich ist das Autobiographische stark stilisiert und literarisch transponiert. Das Buch wird aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der in Norwegens Hauptstadt in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auf der sozial tiefsten Stufe dahinvegetiert. Vergeblich versucht er, die von ihm verfassten Zeitungsartikel in verschiedenen Redaktionen unterzubringen, seine finanziellen Reserven sind längst erschöpft, aber in verbissener Selbstachtung lehnt er fremde Hilfe ab, so dass er immer mehr in eine körperliche und seelische Notlage gerät.

Die Beschreibung des Hungers und des nackten Existenzkampfes, die ungemein einprägsame Wirklichkeitsschilderung lässt einen Schriftsteller des Naturalismus vermuten. Doch nicht die soziale Komponente des Hungers steht im Vordergrund, sondern es sind seine psychischen Auswirkungen, die Ekstase, die Gewalt der Fieberphantasie, die Spannung zwischen dem verfallenden Körper und der sich leidenschaftlich zur Wehr setzenden Seele, die er zu erfassen sucht: Knut Hamsun, der vor 70 Jahren, am 19. Februar 1952, starb.

Hamsun. Quelle: https://img.nzz.ch/2019/10/13/c32891e8-537e-4d0b-8e3f-62bce650c58a.jpeg?width=654&height=872&fit=crop&quality=75&auto=webp

Geboren wurde Hamsun am 4. August 1859 als Knud Pedersen in der südnorwegischen Provinz. Der spätere Eigentümer eines Gutshofs im klassizistischen Stil kam aus kleinsten Verhältnissen. Hamsun verbringt seine Kindheit auf dem Hof mit den Eltern, als viertes von sieben Geschwistern. Die Mutter ist nervenkrank. Immer öfter rennt sie aus dem Haus über die Felder, schreit wirres Zeug. Die Leute im Dorf tuscheln. Sie wird zum siebten Mal schwanger, das schwächt sie weiter. Für liebevolle Zuneigung fehlt die Kraft. Der Vater kann nicht mit Geld umgehen, im zugigen Holzhaus ist kaum genug Platz für alle. Also wird Knut 1868 in den Nachbarort zum Onkel geschickt, einem Junggesellen.

Der leidet, obwohl erst Anfang vierzig, bereits an Parkinson, prügelt ihn, lässt ihn schuften. Hamsun will fliehen, wieder und wieder, versucht es mit einem Ruderboot. Einmal, als es ganz schlimm wird, hackt er sich mit einer Axt in den Fuß, in der Hoffnung, verletzt zurück zu den Eltern zu dürfen. Erfolglos. Der Junge wurde aber nicht nur für harte körperliche Arbeit, sondern dank seiner schönen Schrift auch für Schreibdienste eingesetzt. Und weil der Onkel nebenbei die Gemeindebücherei verwaltete, kam er an Bücher und Traktate – der Anfang autodidaktischer Lehrjahre.

Nach seiner Konfirmation war er bei einem Kaufmann als Ladengehilfe beschäftigt und kritzelte dort erste Verse auf die Türrahmen des Ladens. Die Hamsun-Biografin Ingar Sletten Kolloen schreibt darüber: „Zum ersten Mal erlebte Knut einen Menschen, den er vorbehaltlos bewunderte: einen souveränen Patriarchen, einen Mann mit mysteriösem Wissen und großen Geheimnissen, unnachgiebig, wenn nötig, milde, wo Milde verdient war.“ Das Problem dieser biographischen Episode hieß Laura, war 16 und die Tochter des Kaufmanns. Knut verliebt sich, doch dem Chef gefällt nicht, dass ein junger Handlanger sich für seine Tochter interessiert. Nach nur einem Jahr muss Hamsun wieder gehen.

nicht gut genug zu sein

Einige Biographen vertreten die Theorie, dass Hamsun wegen Laura den Job verlor, und sind überzeugt, dass sie die Vorlage für viele Frauen in Hamsuns Romanen ist. Ein Indiz dafür, wie eng Leben und Werk miteinander verbunden sind. Und ein Hinweis darauf, wie sehr diese frühen Jahre, die Erfahrung, nicht gut genug zu sein, nicht dazuzugehören, ihn geprägt haben. Diese Rolle hat Hamsun in seinem späteren Leben nicht nur immer wieder erlebt, „er hat sie nahezu gesucht und gelernt, sich darin zu gefallen. Und was wäre die größtmögliche Außenseiterrolle in einem Land, das gegen die Nazis kämpft, als sich für die Nazis einzusetzen“, fragt Christian Vooren im Tagesspiegel.

Als Straßenbahnschaffner in Chicago. Quelle: Von Autor unbekannt – Ursprung unbekannt, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=826314

Die Härte und Strenge hat er sich zu Eigen gemacht, die in vielerlei Hinsicht rückständige, fast feudale Gesellschaft mit ihren patriarchalischen Beziehungen zwischen Herren und Untergebenen seine konservative Grundeinstellung mit bedingt. In seinen Romanen erklärte er das Leben auf dem Land, die feudalen Strukturen, die Entbehrungen und die Einfachheit zum Ideal. Zugleich wurde ihm der Hass auf England eingepflanzt: Er hörte immer wieder, wie die Engländer Norwegen ausbeuteten. England beherrschte den Welthandel. Hunger, Notjahre, Krieg und Engländer, das alles hänge zusammen, erfuhr er – auch ein entscheidender Punkt für sein Verhalten nach 1933.

1875, mit sechzehn Jahren, begab sich Hamsun auf Wanderschaft durch Norwegen, um das Land kennenzulernen, arbeitete als Hafenarbeiter, fahrender Händler und Gemeindeschreiber. Seine ersten literarischen Versuche unternahm er 1877 mit „Der Rätselhafte“ und der Bauernnovelle „Der Bürger“ von 1878, die in Kleinstädten des Nordens gedruckt und vertrieben, andernorts aber nicht wahrgenommen wurden. Im selben Jahr fügte er den Hofnamen als Autornamen hinzu: Knut Pedersen Hamsund. In einem Essay von 1885 tauchte erstmals, angeblich durch einen Druckfehler, der Name Hamsun auf, den er fortan beibehielt – Pflicht wurde ein Familienname in Norwegen erst 1923.

Zwischen 1882 und 1888 wanderte er zweimal in die USA aus und arbeitete unter anderem als Straßenbahnschaffner, Farmarbeiter, Handlungsgehilfe und Sekretär, später als Redakteur. Hamsun vermochte in den USA nie richtig Fuß zu fassen; der American Way of Life stieß ihn von vornherein ab. Der 1890 erschienene Roman „Hunger“ brachte ihm erste literarische Anerkennung. Heute gilt er als Pionierwerk der literarischen Moderne, der ein neues Interesse an psychischen Grenzzuständen zeigt, die bereits in einer Art Bewusstseinsstrom protokolliert werden. Seine ersten Bücher flankierte Hamsun mit provokativen Vorträgen, in denen er die Größen der skandinavischen Literatur vom Sockel zu stoßen suchte. Vor allem schoss er sich auf Ibsen ein, diesen „Typendichter“. Anschließend lebte er für mehrere Jahre in Paris, wo er mit seinen Defiziten konfrontiert wurde: Das hohe Aufkommen von gebildeten, wohlstudierten Menschen weckte seine alten Minderwertigkeitsgefühle.

Danach unternahm er ausgedehnte Reisen in verschiedene Länder, darunter Finnland, Russland, Türkei und Persien. Mit seinem nächsten Roman „Mysterien“ schrieb sich Hamsun an die Spitze der europäischen Avantgarde. Inzwischen war das Publikum der naturalistischen Elends-Inszenierungen überdrüssig geworden und suchte psychische Raffinessen. „Mysterien“ bot sie im Übermaß. Das Delirierende, Fieberhafte, Halluzinierende, wie man es von den Bildern Edvard Munchs kennt, bestimmt diesen Roman, mit dem Unterschied, dass Hamsun viel Komik hinzu gibt. Die Hauptfigur Johan Nilsen Nagel ist die Verkörperung der „Nervosität“, ein raffinierter Hysteriker, der sich selbst unermüdlich inszeniert. Das Faszinierende besteht darin, dass nicht nur über Nagel erzählt wird, sondern dass die Sprache selbst in den „Nagel-Zustand“ gerät: „eine geschmeidige, geistreich flirrende Verunsicherungs-Prosa, voller Gesten, Gebärden und Gelächter“, so Wolfgang Schneider im Deutschlandfunk.

Mit Marie und Kindern. Quelle: Von Anders Beer Wilse – Norwegische Nationalbibliothek, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38224031

Eines seiner Hauptwerke wurde der 1894 erschienene „Pan“. Das Werk wurde anfänglich als Glorifizierung der Natur aufgefasst, jedoch wird diese Stimmung von Hamsun im zweiten Teil des Buches konterkariert. Zwischen 1895 und 1898 entstand eine Dramen-Trilogie, 1898 heiratete Hamsun Bergljot Bech, mit der er eine Tochter hatte und von der er sich 1906 wieder scheiden ließ. In den Jahren danach erschien seine „Wandertrilogie“, in deren Zentrum ein Wanderer steht, der sich nicht binden will, zuletzt „Die letzte Freude“ (1912). Dies waren die letzten in der Ich-Form geschriebenen Werke.

„wirklich der Allergrößte“

1909 heiratete Knut Hamsun eine 22 Jahre jüngere Schauspielerin, die als Kinderbuchautorin Marie Hamsun bekannt wurde. Das Paar bekam vier Kinder. 1911 erwarb er einen Bauernhof. Das Landleben sollte Marie dem Theaterbetrieb und den verderblichen Einflüssen der Stadt entziehen. Auch für ihn selbst war es ein ethisches Programm: „Ich war von all den Feinheiten, die ich mir in vielen Jahren angewöhnt hatte, verdorben worden, musste erst wieder zum Bauern zurückstudieren“, heißt es im Roman „Gedämpftes Saitenspiel“. Er wollte seine überreizten Nerven und seine Melancholie kurieren. Aber bald meldete sich der literarische Impuls zurück, und er ging monatelang auf Reisen, um zu schreiben, so zwei Romane über den Untergang alter Gutsbesitzerfamilien.

1917 erschien sein bekanntester Roman „Segen der Erde“, für den er 1920 den Literaturnobelpreis erhielt und in dem er die Geschichte des tugendhaften Ödlandbauern Isak beschreibt, der über Jahre hinweg sein Land urbar macht und von den Früchten seiner Arbeit lebt. Thomas Mann fand, die Wahl sei „nie auf einen Würdigeren“ gefallen, auch Hermann Hesse, Stefan Zweig und Kurt Tucholsky äußerten sich euphorisch. Die Ehrung gerade dieses einen Werks bedeutete in der noch jungen Geschichte des Preises ein Novum, denn alle bisher Geehrten waren für ihr Gesamtwerk oder große Teile davon ausgezeichnet worden. Zudem, folgenreich für die Hamsun-Rezeption, war es die Hervorhebung des einzigen seiner Romane, der eine „positive“ Botschaft vermittelt. „Hamsuns Gesang von der Landlust, vom einfachen, naturverbundenen Leben wirkte nach dem Horror der Materialschlachten wie ein Therapeutikum“, würdigt Schneider den Text.

„Wer sich der Stadt anheimgibt, verfehlt das richtige Leben. Mit diesem doppelten Signal beeinflusste ‚Segen der Erde‘ die rechtsgewirkte, industrie- und zivilisationskritische deutsche Heimatliteratur der 20er und 30er Jahre“, befindet dagegen Jochen Pohlandt in der Frankfurter Rundschau und schreibt von einer „fragwürdigen Ehrung“. Wer selektiv liest – die Charaktere sind sehr komplex, die raffinierte Handlungsführung verunsichert den Leser immer wieder – kann in „Segen der Erde“ eine heile Welt finden, die den Roman für die NS-Ideologie anschlussfähig machte. NS-Literaturkritiker sahen in ihm ein idealtypisches Werk der Blut-und- Boden-Literatur und verengten ihn zum Bauernroman. Goebbels sorgte für eine billige Frontbuchausgabe. Chefideologe Alfred Rosenberg machte Isak „mit dem rostigen Bart und dem zu untersetzten Körper, er war wie ein gräulicher Mühlgeist“ gar zum schönen nordischen Menschen schlechthin.

Die Landstreichertrilogie in einem Band. Quelle: https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/91N4r-ed70L.jpg

Es folgten weitere Romane wie „Das letzte Kapitel“ (1923) über ein Sanatorium, das den „Zauberberg“ (1924) des Hamsun-Verehrers Thomas Mann vorwegnahm. Eine weitere Trilogie erschien in den Jahren 1927 bis 1933 mit den drei „Landstreicher August“-Romanen, die die Themen Auswanderung, Heimat und Industrialisierung in Norwegen thematisierten. 1936 erschien sein letzter Roman „Der Ring schließt sich“, der am Beispiel eines jungen Totalverweigerers alle traditionellen Werte in Frage stellt. Die Hauptfigur wäre in Deutschland ein Fall fürs Arbeitslager gewesen, belustigt sich Schneider: „Abel, der Nichtstuer und Träumer, eine der antriebsärmsten Gestalten der Weltliteratur, die viel von Camus‘ ‚Fremdem‘ vorwegnimmt.“

In seinen Romanen zeigte Hamsun eine gewisse Sympathie für die Schwachen, gleichzeitig verherrlichte er den Hang Nazideutschlands zu vermeintlicher Stärke und zu Härte. Hamsun verachtete die Briten mit ihrer Aristokratie, ihrer High Society und ihrem Kolonialismus. Sie waren der Gegenentwurf zu Hamsuns Lebensideal des einfachen Mannes auf dem Land. Und: Während Hamsuns Erfolg als Schriftsteller sich zunächst nicht einstellen wollte, weder in Norwegen, England oder sonst in Europa, verkauften sich seine Geschichten in Deutschland schon früh sehr gut. Eine für ihn ungewohnte Erfahrung: gefragt und angesehen zu sein. Auch diese Erfahrung führte zu seiner fast irrationalen Haltung zu Hitler und dem NS-Deutschland.

„Geste der Ritterlichkeit“

Deutschland, dessen Sprache er nie beherrschte, symbolisierte für Hamsun das „junge Europa“. Er bezog in Zeitungsartikeln für die Politik Hitlers Stellung, während seine literarische Produktion zum Erliegen kam. 1935 unterstellte er dem „merkwürdigen Friedensfreund“ Carl von Ossietzky, der im KZ Esterwegen gefangen saß, dass er vorsätzlich in Deutschland geblieben sei, um als Märtyrer zu erscheinen. Als Ossietzky den Friedensnobelpreis erhielt, äußerte er öffentlich massive Kritik und rechtfertigte die Errichtung von Konzentrationslagern. 1936 rief Hamsun zur Wahl des Führers der norwegischen „Nasjonal Samling“, Vidkun Quisling, auf und appellierte während der deutschen Invasion 1940 an seine Landsleute: „Werft das Gewehr weg und geht wieder nach Hause! Die Deutschen kämpfen für uns alle und brechen jetzt Englands Tyrannei über uns und alle Neutralen.“

Hamsuns Gut. Quelle: https://www.gbm.no/media/1521/kjoep-av-noerholm.jpg?width=1200

In Deutschland wirkte in vier Kriegswintern derweil Hamsuns Frau Marie, eingeladen von der Nordischen Gesellschaft, deren Schirmherr Alfred Rosenberg war. Bei mehr als hundert Auftritten von Tilsit bis Karlsruhe, von Kiel bis Wien überbrachte sie Grüße von Knut und las vor durchschnittlich 500 Menschen aus Hamsuns Werken. „Die Hauptnummer waren die ersten Kapitel in ,Segen der Erde‘“, berichtet Thorkild Hansen in seinem Buch „Der Hamsun-Prozeß“ und charakterisiert diese Auftritte als Feiern, bei denen Marie als „Priesterin“ und das Publikum sich dem großen Dichter Knut Hamsun andachtsvoll hingaben.

Übergriffe der Besatzungsmacht auf die norwegische Bevölkerung erfüllten Hamsun dagegen mit Sorge. Er setzte sich für einige Norweger ein, die von der Besatzungsmacht hingerichtet werden sollten, teilweise auch mit Erfolg, für andere aber auch nicht, obwohl er dazu aufgefordert worden war. Das brutale Auftreten des Reichskommissars Josef Terboven veranlasste Hamsun 1943 schließlich persönlich, auf dessen Ablösung hinzuwirken. Einem Besuch von Propagandaminister Joseph Goebbels, der Hamsuns Werke sehr schätzte, am 18. Mai 1943 in dessen Berliner Privatwohnung schloss sich im Juni die Schenkung seiner Nobelpreis-Medaille an Goebbels an. Tage später hielt Hamsun auf der ersten, von Goebbels organisierten Tagung der Union der nationalen Journalisten-Verbände in Wien vor ca. 500 Journalisten aus 40 Ländern eine englandfeindliche Rede, in der er sich offen für den Nationalsozialismus aussprach.

Ein Treffen mit Hitler Ende Juni geriet dagegen zum Desaster. Hamsun wagte es, den Führer mit den Worten zu unterbrechen: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“ Als Hamsun nicht locker ließ, brach Hitler das Gespräch ab und sparte seinen Wutausbruch aus Respekt für Hamsun auf, bis er gegangen war. Dessen ungeachtet pries Hamsun Hitler in einem Nachruf als einen „Verkünder des Evangeliums vom Recht aller Nationen“, als eine „reformatorische Gestalt höchsten Ranges“. Von seinem Sohn Tore nach der Motivation für diesen Nachruf gefragt, antwortete Knut Hamsun: „Es war eine Geste der Ritterlichkeit einer gefallenen Größe gegenüber.“ Manche Literaturwissenschaftler betonen bis heute, Hamsuns Eintreten für Hitler und das Nazi-Regime habe sich nur in seinen politischen Artikeln niedergeschlagen, in denen er gegen Verstädterung, Industrialisierung und Demokratisierung polemisiert.

Auf dem Weg in den Gerichtssaal. Quelle: https://www.gbm.no/media/1528/hovedforhandling-og-dom.jpg?width=1200

Der Charakter der ideologischen Nähe Hamsuns zum Nationalsozialismus ist umstritten: Teils werden gemeinsame Werte von Rasse, Mythos, Blut und Boden, Disziplin und Abenteuer betont, teils dagegen die Ablehnung des Bürgertums als Bindeglied zu Hitler. „Hamsun ist kein ergiebiger Fall für die Literaturgeschichte des Bösen“, befindet auch Schneider. „Das Faszinosum einer reaktionären Intellektualität, wie es bei Benn, Céline, Ernst Jünger oder Carl Schmitt eine Rolle spielt, sucht man bei ihm vergebens.“ Starrsinn und Verblendung kennzeichneten seinen Glauben an den Nationalsozialismus, Affinitäten gab es allerdings in Bezug auf Germanophilie sowie den Jugend- und Gesundheitskult. Doch „nichts in Hamsuns Romanen“ berechtige dazu, ihn „als Nazi abzustempeln“.

„nachhaltig seelisch geschwächt“

Nach Kriegsende versuchte Norwegen, Hamsun für seine Sympathie mit der Besatzungsmacht zur Rechenschaft zu ziehen. Wegen seines Alters (86) und seiner Verdienste wurde er nicht in Untersuchungshaft genommen, sondern zunächst in ein Altersheim in Landvik gebracht, dann zu einer längeren Untersuchung in die psychiatrische Klinik in Vinderen (Oslo) eingewiesen. Seine Begutachtung als „nachhaltig seelisch geschwächt“ sollte zu seiner Entlastung vor Gericht dienen. Hamsun kommentiert später sarkastisch, dass diese Diagnose erst durch den Aufenthalt eingetreten sei, und bestand auf Rechtfertigung seines Verhaltens während der Besatzungszeit in einem Gerichtsprozess. Die Anklage vor dem Obersten Gericht wegen einer Straftat wurde als nicht haltbar fallengelassen und der Fall nach der Landesverratsanordnung weiterbehandelt, die Kollaborateure zu Entschädigungszahlungen verpflichtete.

Das Amtsgericht Grimstad verurteilte ihn am 16. Dezember 1947 mit den Stimmen zweier Laienrichter gegen die Stimme des Gerichtsvorsitzenden zu einer „Entschädigung“ von 425.000 Kronen zuzüglich Zinsen und Verfahrenskosten wegen „Schadens gegenüber dem norwegischen Staat“. Im Anschluss an dieses Urteil durfte er auf sein Gut Nørholm bei Grimstad zurückkehren. Im Revisionsverfahren wurde 1948 die Summe zwar auf 325.000 Kronen reduziert, was aber den finanziellen Ruin der Familie nicht abwendete. Er verarbeitete diese Erlebnisse in seinem letzten Werk, dem Tagebuch „Auf überwachsenen Pfaden“ (1949). Nicht nur nach seinem Tod: Hamsun polarisiert in seiner Heimat bis heute. Vielen kommunalen Ehrungen durch Straßen oder Denkmäler steht etwa der Intendant des Trondheimer Theaters entgegen, der sein Haus zur hamsunfreien Zone erklärte.

Sydow als Hamsun. Quelle: https://m.media-amazon.com/images/M/MV5BMmE2MTJkNzItZTNlNC00YzcwLTg4MmMtZWE5YWI2ZGZmMDlkXkEyXkFqcGdeQXVyMjUyNDk2ODc@.V1.jpg

Die Hamsun-Verehrung in Deutschland endete 1945 keineswegs. Eine 1955 von der Schriftstellerin Hilde Fürstenberg gegründete Knut-Hamsun-Gesellschaft verschrieb sich bis 1998 der Pflege seines Werks mehr huldigend als kritisch. Der Film „Hamsun“ (1996) behandelt die letzten 17 Jahre seines Lebens, verkörpert wird er von Max von Sydow. Außerdem wurden mehrere seiner Romane und Erzählungen als Theaterstücke bearbeitet oder verfilmt. Das Jubiläum bietet Anlass, einen der größten europäischen Schriftsteller wiederzuentdecken. Er ist, in Triumph und Verhängnis, auch ein Stück deutscher Literaturgeschichte.

„Er ist Ehemann, Vater und Vorstand eines Kleinbetriebs mit der Verantwortung für Familie und Angestellte. Daneben kämpft er auf Tausenden von Seiten mit den Gestalten seiner Phantasie, erfindet deren Lebenswege und spielt für sie Schicksal. Eine weitere Sphäre und ebenso abgeschlossen vom ‚wirklichen Leben‘ ist die Welt der Sanatorien, Kuranstalten und Nervenkliniken, die er in immer kürzeren Abständen aufsuchen muss.“ So beschreibt der Germanist Peter Walther die an Gegensätzen reichen Lebenssphären jenes Autors der „Neuen Sachlichkeit“, der am 5. Februar vor 75 Jahren starb: Rudolf Ditzen, der sich später Hans Fallada nannte.

Geboren wird er am 21. Juli 1893 als Sohn eines Reichsgerichtsrats in Greifswald. 1899 zog die Familie mit vier Kindern nach Berlin, zehn Jahre später nach Leipzig. Doch trotz harmonisch und gesichert anmutender Familienverhältnisse entwickelte sich der kleine Rudolf zu einem Knaben, der sich von Konflikten, Krankheiten und Katastrophen verfolgt sah. Neben der unsteten Kindheit litt er unter dem Verhältnis zum Vater, der für seinen Sohn eine Juristenlaufbahn vorgesehen hatte. Für seine frühen Jahre zeichnet sich ein Muster ab, in dem sich Rudolf und die Familie einzurichten versuchen: „Ich bin ein tüchtiger Pechvogel gewesen, der jede Treppe hinunterfiel, sich Mühlsteine auf die Finger warf, unter galoppierende Pferde sich legte, immer auf der Schule erwischt wurde, wenn er mal mogelte.“

Er galt an allen Schulen als Außenseiter und zog sich immer mehr in sich selbst zurück – trotz des Versuchs, sein Pechvogel-Muster herumzudrehen und daraus das Signum einer besonderen, gegen alle Welt kritischen Außenseiterhaltung zu machen. 1911 wird er mehrfach in Sanatorien eingewiesen – er schrieb „Satanorien“. Mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker beschloss er am 17. Oktober, einen als Duell getarnten Doppelsuizid zu vollziehen. Bei dem Schusswechsel starb von Necker, während Ditzen schwer verletzt überlebte. Er wurde wegen Totschlags angeklagt und landete in der der psychiatrischen Klinik Tannenfeld. Wegen Schuldunfähigkeit wurde die Anklage fallengelassen. Ditzen verließ das Gymnasium ohne Abschluss.

Fallada. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/literarischewelt/mobile196647435/1992505887-ci102l-w1024/Hans-Fallada.jpg

Nach der Entlassung arbeitet er ab 1913 in der Landwirtschaft, meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wird aber wegen seiner Alkohol- und Morphiumsucht für untauglich befunden. Bis 1919 kommt er immer wieder in Entzugskliniken, vor allem nach Posterstein/Thüringen, eine dauerhafte Heilung erreicht er aber nicht. Er beginnt zu schreiben, 1920 veröffentlicht er den expressionistisch beeinflussten Debütroman „Der junge Goedeschal“, drei Jahre später „Anton und Gerda“ – beide im Rowohlt-Verlag, dem er bis 1945 verbunden bleibt. Seit dem Goedeschal nannte er sich Hans Fallada in Anlehnung an zwei Märchen der Brüder Grimm: Der Vorname bezieht sich auf den Protagonisten von „Hans im Glück“ und der Nachname auf das sprechende Pferd Falada aus „Die Gänsemagd“ – der abgeschlagene Kopf des Pferdes verkündet so lange die Wahrheit, bis die betrogene Prinzessin zu ihrem Recht kommt.

im Einklang mit den eigenen Defekten

Da Fallada in Posterstein eine landwirtschaftliche Lehre absolviert hatte, konnte er sich in Berlin mit Gelegenheitstätigkeiten über Wasser halten: Vor allem als Gutsverwalter, aber auch als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der Landwirtschaftskammer Stettin und später als Angestellter einer Kartoffelanbaugesellschaft. Zur Finanzierung seines Morphin- und Alkoholkonsums beging er Unterschlagungen, die 1923 zu einer dreimonatigen Haftstrafe führten. Es folgte 1926 eine zweieinhalbjährige Haftstrafe wegen Betrugs. Nach seiner zweiten Haftentlassung 1928 lernte er in Hamburg Anna kennen, von ihm Suse genannt – das Vorbild für seine Romanfigur Lämmchen. Nach der Heirat 1929 bekommen sie zwei Söhne und zwei Töchter – eine davon starb als Baby, mit 17 die andere. Fallada arbeitete zunächst als Anzeigenwerber und Reporter für den General-Anzeiger und war vorübergehend Mitglied der Guttempler und der SPD.

Ab 1930 – inzwischen ist er Lektor im Rowohlt-Verlag – hat er mit seinen Texten zunehmend Erfolg. Sein erster großer Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ (1931) zeigt eine Kleinstadt während der Bauernunruhen Ende der zwanziger Jahre. Er beruht auf Falladas Erfahrungen als Gerichtsreporter beim „Landvolk-Prozess“ 1929. In ihm zeichnet er ein realistisches Bild der Zustände und der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Fallada wendet sich vermehrt sozialkritischen Themen zu, bemüht sich um die Darstellung der Realität, beinahe im Stile einer dokumentarischen Literatur. Das bevorzugte Milieu seiner Romane wird das Kleinbürgertum, das unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu leiden hat. Durch die einfache, leicht verständliche Sprache seiner Werke wird Fallada nicht nur zum Autor über, sondern besonders für diese Gesellschaftsschicht.

Als Wandervogel 1910. Quelle: http://www.literaturland-thueringen.de/wp-content/uploads/2015/10/Hans-Fallada-als-Wandervogel-1910-Hans-Fallada-Archiv-179×258.jpg

Der Roman „Kleiner Mann, was nun“ bringt Fallada 1932 Weltruhm ein; er kommt auf 45 Auflagen und 20 Auslandsausgaben. Er schildert das Leben eines kleinen Angestellten, der unter der Weltwirtschaftskrise leidet und statt des erhofften sozialen Aufstiegs den Abstieg in Arbeitslosigkeit und Armut erlebt. Ab 1933 bewirtschaftet er sein eigenes Gut in Carwitz (Mecklenburg), das er nach dem Erfolg seines letzten Buchs erworben hat – Biographen meinen, es seien die schönsten Jahre seines Lebens gewesen. Fallada galt als fanatischer Schreiber, erfüllte pedantisch sein Tagespensum, bevor er Zeit für Frau Anna und die drei Kinder erübrigte. Dann aber erwies er sich als rühriger Vater, der seine Bücher auch für den eigenen Nachwuchs schrieb. „Wir schenken ihnen eine Kindheit, deren Glück man aus ihren Augen abliest“, sagte er. „Hoppelpoppel wo bist du“ oder die „Geschichten aus der Murkelei“ wurden bis ins 21. Jahrhundert verlegt.

1934 schildert er in dem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ das Schicksal eines ehemaligen Strafgefangenen, der vergeblich versucht, in ein „normales“ Leben zurückzufinden. Das Werk wird von der nationalsozialistischen Kritik abgelehnt. Nahezu die gesamte Spanne von Falladas Schriftstellerleben fiel mit dem Dritten Reich zusammen. Das hatte Konsequenzen für seinen Ruf, seine Arbeit, seine Entwicklung. Von den nationalsozialistischen Machthabern wurden seine Bücher unterschiedlich beurteilt. Joseph Goebbels und seine Reichsschrifttumskammer waren von Fallada sehr angetan. Sein Buch „Wolf unter Wölfen“, als Kritik an der Weimarer Republik interpretiert, wurde positiv beurteilt und von Goebbels ausdrücklich gelobt. Alfred Rosenberg dagegen und das ihm unterstellte Amt Rosenberg sahen Fallada sehr kritisch; er ließ das Buch verbieten.

Zu den überraschendsten Folgen gehörte, dass Falladas Autorenfleiß, der zwischen 1933 und 1944 zwanzig Romane hervorbrachte, darunter ebenso wenig litt wie sein finanzieller Erfolg: Seine jährlichen Einnahmen aus Buch- und Zeitungsveröffentlichungen, Film- und Aufführungsrechten haben sich von 1941 bis 1943 auf hohem Niveau zwischen 61.000 und knapp 75.000 RM eingepegelt. Dabei wurde ihm die permanente Grenzüberschreitung zwischen bürgerlicher Sphäre und den Anstalten für psychisch Kranke oder Gesetzesbrecher scheinbar zur Selbstverständlichkeit. Später ging Fallada, wann immer es geboten erschien, in Nervenheilanstalten oder Entzugskliniken wie andere ins Hotel. Das war seine Art, sich im Einklang mit den eigenen Defekten durchs Leben zu bewegen.

„etwas Erfreuliches schreiben“

Fallada verzichtet auf eine klare politische Stellungnahme. Es erscheinen „neutral“ gehaltene Werke wie „Das Märchen vom Stadtschreiber, der einmal aufs Land flog“, „Wir hatten mal ein Kind“, „Kleiner Mann, großer Mann – alles vertauscht“, „Der ungeliebte Mann“ sowie seine Autobiographie „Damals bei uns daheim“. Neben „Wolf unter Wölfen“ veröffentlichte er mit „Der eiserne Gustav“ eine weitere zeitkritische Milieustudie, die er auf Geheiß des Propagandaministeriums 1938 sogar umschreibt. Für gewisse Kompromisse war er zu haben, zum platten Gesinnungsknecht eignete er sich dagegen nicht. Dem Verlangen von Goebbels nach einem antisemitischen Roman zur Kutisker-Affäre mochte er nicht nachkommen.

Falladas Frau Suse mit Sohn Ulrich auf Usedom 1932. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/literarischewelt/mobile177675832/1830245987-ci3x2l-w780/Fallada-Archiv-Carwitz.jpg

Ebenfalls 1938 lernte er die 18-jährige Marianne kennen, später unter dem Namen Wintersteiner Autorin mehrerer Frauenbiographien. Es entstand eine tiefe, aber platonische Liebesbeziehung, die fast bis zu seinem Tod anhielt. Zu ihrem 19. Geburtstag schenkte Fallada ihr das Manuskript „Pechvogel und Glückskind“. Seine Ehe dagegen scheitert: Nach seiner Rückkehr als „Sonderführer des Reichsarbeitsdiensts“ in Frankreich ließ sich das Paar 1944 scheiden. Bei einem Besuch, um einige Habseligkeiten abzuholen, brach ein Streit zwischen ihm und Anna aus, schließlich zog Fallada eine Taschenpistole, die Kugel traf einen Tisch. Das Gericht wies Fallada nach einem Verfahren wegen versuchten Totschlags zur Beobachtung in die Landesanstalt Neustrelitz ein.

Hier entstand das Manuskript zum „Trinker“ – erst 1950 wird der Roman veröffentlicht. Er konnte nicht ahnen, dass der Titel ein Menetekel war. Kurzzeitig Bürgermeister in Feldberg, übersiedelte er auf Wunsch des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Bechers nach Berlin, schreibt für die Tägliche Rundschau und heiratet die ebenfalls alkoholabhängige Ursula Boltzenthal. Seine letzten Lebensjahre verbringt Fallada häufig schwer krank in Berliner Krankenhäusern, darunter der Charite. 1946 schreibt er hier innerhalb von nur dreieinhalb Wochen „Jeder stirbt für sich allein“. Lange Zeit war es ruhig um die Geschichte eines Berliner Ehepaars, das den Nationalsozialisten Widerstand leistete, nachdem ihr Sohn im Frankreichfeldzug gefallen war.

Das Buch beruht auf einer wahren Begebenheit. Ab 1940 legten Otto und Elise Hampel in Berlin zwei Jahre lang rund 200 Karten in ungelenkem Deutsch mit Forderungen wie „Deutsche Männer und Frauen Wir müssen an uns selbst glauben! Nicht dem Schurken Hitler“ in Treppenhäusern, Telefonzellen und U-Bahnhöfen aus. Beide werden verhaftet, in Verhören gegeneinander ausgespielt und verurteilt – er wird hingerichtet, sie kommt kurz vor Kriegsende im Gefängnis bei einem Bombenangriff ums Leben. Becher gab Fallada die Gestapo-Akte des Falls. Seine Bitte, daraus einen Roman zu schreiben, lehnte der Schriftsteller zunächst ab, weil er lieber über „etwas Erfreuliches schreiben möchte“ und nicht „mit mahnendem Zeigefinger erinnern“. Doch Becher hat gute Argumente: Er sorgt für eine Wohnung, Lebensmittel und Morphium, ohne das Fallada zu jener Zeit nicht mehr leben konnte – der Autor hatte 30.000 Mark Steuerschulden, dazu kam eine ausstehende Geldstrafe von 10.000 Mark und mehrere tausend Mark Zechschulden.

Werke in Einzelausgaben. Quelle: https://www.zvab.com/servlet/BookDetailsPL?bi=30935911753&cm_mmc=ggl--ZVAB_Shopp_Rare--naa-_-naa&gclid=Cj0KCQiAi9mPBhCJARIsAHchl1ywD4QhyOEnsdVHWx6j_LfgfTRtwfvyxxmhy9juMFUnhchpyaAzz-MaAkg6EALw_wcB#&gid=1&pid=1

In einem rauschhaften Zustand tippte er 36 Schreibmaschinenseiten pro Tag. Ergebnis: ein Meisterwerk, das 60 Jahre fast vergessen war. Seit 2009 ist das anders: Übersetzt in über 30 Sprachen, darunter Hebräisch und Norwegisch, hat es eine späte Karriere hingelegt. Der Roman gilt als das erste Buch eines deutschen nicht-emigrierten Schriftstellers über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Unter dem Titel „Alone In Berlin“ wurde es in Großbritannien zum Bestseller, 300.000 Exemplare sind verkauft. In den USA, dort heißt das Buch „Every Man Dies Alone“, sind es 200.000 Stück – bemerkenswert in einem Land, dessen Leser sich für europäische Literatur kaum interessieren. Insgesamt sind 18 Neuübersetzungen in Arbeit oder bereits veröffentlicht. Dennis Johnson, bei Melville House Falladas amerikanischer Verleger, kann nicht verstehen, dass die englischsprachige Welt den Autor 60 Jahre lang kaum wahrgenommen habe: „Er verdient seinen Platz in der Weltliteratur.“

„wenn ich hätte tanzen können“

Fallada sollte die Veröffentlichung seines letzten Romans nicht mehr erleben. Im Dezember 1946 wurde er in die Berliner Charité zwangseingewiesen. Ein Professor führte den Patienten im Rollstuhl seinen Medizinstudenten vor: „Das, meine Herren, wie Sie sehen, ist der Ihnen allen bekannte Schriftsteller Hans Fallada, oder vielmehr das, was die Sucht nach dem Rauschgift aus ihm gemacht hat: Ein Appendix.“ Fallada erlitt in der Folge dieser Demütigung einen Schwächeanfall. Es gelang seiner Frau noch, ihn in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen, wo er dann an Herzversagen starb – als „hochbegabter Selbstzerstörer“, so Thomas Hüetlin im Spiegel.

Fallada schrieb mit leidenschaftlicher Hingabe und konnte in erstaunlich kurzer Zeit riesige Textmengen produzieren. Im Hinblick auf seine erzählerischen Impulse bezeichnete er sich einmal als „Menschensammler“, das heißt seine Figuren, ihre Beweggründe und Geschichten waren für ihn wichtiger als alle hehren Ziele. Das Schreiben sei bei ihm Teil seiner Triebstruktur, befindet Walther: „Die Gestalten seiner Phantasie drängen darauf, in die Welt entlassen zu werden; sich von ihnen zu entlasten ist ein notwendiges Ereignis, keines, das nach Sinn oder Unsinn, Zweckhaftigkeit oder Zwecklosigkeit fragt.“ Er erkannte Anzeichen dafür, dass das Schreiben bei Fallada ebenfalls Suchtcharakter hatte. Schreibräuschen konnte er sich sogar dort hingeben, wo andere verstummt wären, in Heilanstalten, Entzugskliniken oder Gefängnissen. Wenn er mit einem Text durch war, litt er wie unter Entzugserscheinungen.

Armin Mueller-Stahl in „Wolf unter Wölfen.“ Quelle: https://www.filmdienst.de/bild/filmdb/226757

Etliche seiner Werke sind verfilmt worden, so 1933 „Kleiner Mann was nun?“ mit Victor de Kowa, 1958 „Der eiserne Gustav“ mit Heinz Rühmann, 1964 „Wolf unter Wölfen“ mit Armin Mueller-Stahl, 1975 „Jeder stirbt für sich allein“ mit Hildegard Knef und, vielbeachtet und hochgelobt, 1995 „Der Trinker“ mit Harald Juhnke. Auch auf deutschen Bühnen kehrt Fallada zurück. In Erinnerung an den Schriftsteller vergibt die Stadt Neumünster seit 1981 den Hans-Fallada-Preis. Jedes Jahr um seinen Geburtstag herum erinnert die Hans-Fallada-Gesellschaft an seinem einstigen Wohnort Carwitz in der Feldberger Seenlandschaft – das Haus ist heute Museum – mit den Hans-Fallada-Tagen an den Schriftsteller. „Manchmal glaube ich, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ich hätte tanzen können“, heißt es in seiner Autobiographie. Er konnte es nicht. Aber schreiben, das konnte er.

„Ja, er hat viele politische Fehler gemacht. Seine Ideen, seine wirtschaftlichen Ideen waren richtig, aber er konnte diese Ideen den Menschen in Deutschland nicht beibringen oder, sollen wir mal sagen, nicht verkaufen. Die Unterstützung für die soziale Marktwirtschaft war eher schwach und fußte nur auf dem Wohlstand, den sie den Menschen gebracht hatte, nicht auf einem tieferen Verständnis ihrer Grundsätze.“ Diese Einschätzung seines Biographen Alfred C. Mierzejewski im DLF wurde von Ex-Linken-Vize Sara Wagenknecht 2013 instrumentalisiert: Er wäre bei uns mit seinen Ansprüchen am besten aufgehoben, schrieb sie in „Freiheit statt Kapitalismus“, und Leute wie er hätten „vor genau jener Fehlentwicklung gewarnt, deren Konsequenzen wir heute erleben“: Ludwig Erhard, dessen 125. Geburtstag sich am 4. Februar jährt.

Der Sohn eines Einzelhandelskaufmanns wuchs mit drei Geschwistern auf, durchlitt mit zwei Jahren eine Kinderlähmung, die ihm einen deformierten Fuß bescherte, und begann nach dem Besuch der Realschule in Fürth 1913 eine kaufmännische Lehre. Im Ersten Weltkrieg Artillerist, wurde er 1918 bei Ypern durch eine Handgranate schwer verwundet und genas erst nach sieben Operationen. Dies habe er laut Biographen körperlich, aber nicht seelisch verarbeitet. Nach dem Krieg nahm er ein Studium an der Handelshochschule in Nürnberg auf, das er 1923 mit dem Diplom beendete. Im selben Jahr heiratete er die verwitwete Volkswirtin Luise Schuster, die aus erster Ehe eine Tochter hatte. Beide bekamen eine weitere Tochter. Er schrieb er sich an der Universität Frankfurt für Betriebswirtschaftslehre, Nationalökonomie und Soziologie ein und promovierte im Jahr darauf mit einem währungspolitischen Thema.

Ludwig Erhard mit seinem Bestseller. Quelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5448680

Von 1925 bis 1928 arbeitete Erhard als Geschäftsführer im elterlichen Betrieb – der allerdings in Konkurs ging. Danach wurde er Assistent beim Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule in Nürnberg und wirkte als ökonomisch-politischer Publizist. Er schrieb gelegentlich in der linksliberalen Wochenschrift Das Tage-Buch gegen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des späteren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht an und forderte in einem Aufsatz die Regierung auf, den Missbrauch durch Kartelle und Monopole, insbesondere der Investitionsgüterindustrie, zu unterbinden; statt dessen sollte die Verbrauchsgüterproduktion gefördert werden. Im Gegensatz zum damals vorherrschenden Protektionismus trat er für eine Wettbewerbswirtschaft und freie Marktpreisbildung ein. Seit 1930 war das Zigarrenrauchen Erhards Markenzeichen – er soll immer Zigarren vom Witzenhäuser Hersteller Leopold Engelhardt geraucht haben, weshalb ihm die Stadt ein Denkmal spendierte.

Kriegsniederlage vorausgesehen

Die Arbeit am Institut, aus dem sowohl die Nürnberger Akademie für Absatzwirtschaft (NAA) und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK e. V.) entstanden, verlieh Erhard den Ruf eines Wirtschaftsspezialisten. Dazu trug auch bei, dass er bis 1940 die „Wirtschaftspolitischen Blätter der deutschen Fertigindustrie“ redigierte. Im Auftrag der deutschen Zivilverwaltung betreut Erhard von 1940 bis 1945 die lothringische Glasindustrie. Nach einem Konflikt mit der Institutsleitung verließ er 1942 die Einrichtung, um sein eigenes Forschungsinstitut zu gründen. Hier tat er sich 1944 mit einer wirtschaftspolitischen Denkschrift zur Neuordnung Deutschlands nach der Kriegsniederlage hervor, die Erhard voraussah und die damals als Hochverrat gewertet werden konnte.

Die Denkschrift, die er kurz vor dem 20. Juli auch an Carl Goerdeler gesandt hatte, bescherte ihm nach Kriegsende die Ernennung zum Wirtschaftsberater der amerikanischen Militärbehörden in Nürnberg. Erhard war nun für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Franken verantwortlich und wurde noch im Herbst 1945 als Staatsminister für Handel und Gewerbe in die bayerische Landesregierung aufgenommen. 1947 schien ihm eine Honorarprofessur an der Universität München endlich die wissenschaftliche Karriere zu eröffnen, doch folgte er dem Ruf der amerikanischen Besatzungsmacht in die Zweizonenverwaltung für Wirtschaft in Frankfurt. Hier leitete er die Vorbereitung der westdeutschen Währungsreform und stieg im März 1948 zum Leiter der Zweizonenverwaltung für Wirtschaft auf. Die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark löste einen überraschenden Wirtschaftsaufstieg aus.

1949 zog er für die die CDU erstmals ins neue westdeutsche Parlament ein und stand bis 1963 als wiederholter Bundeswirtschaftsminister unter Kanzler Adenauer für die wirtschaftspolitische Kontinuität und den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik zur führenden Industrienation. Erhard glaubte fest an den freien Markt und unterstützte staatliches Handeln im Einklang mit dem Markt, um sozialwünschenswerte Ziele zu erreichen: „Die Schwierigkeit lag, wie er wohl wusste, in der Definition dessen, was sozial wünschenswert ist“, erkennt Mierzejewski. „Ludwig Erhard könnte man als Lehrer ansehen. Er wollte die deutsche Bevölkerung über diese Ideen von Freiheit und eine freie Marktwirtschaft informieren und hoffentlich überzeugen. Aber als Theoretiker war er eigentlich ziemlich schwach.“

Erhard als Minister in Bayern. Quelle: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wirtschaft/geschichte_der_d_mark/portraetdmwohlstandgjpg100~_v-gseapremiumxl.jpg

In seinem populären Buch „Wohlstand für Alle“ (1957) legte Erhard seine Vorstellungen allgemeinverständlich dar. Er trat für die Liberalisierung des Außenhandels und für die Konvertierbarkeit internationaler Währungen ein, was ihm auch in den eigenen Reihen den Ruf eines Dogmatikers einbrachte. Obwohl 1957 noch unter der dritten Regierung Adenauers zum Vizekanzler nominiert, gestaltete sich das Verhältnis zu ihm politisch schwierig und menschlich spannungsreich. „Er mochte Erhards lässige Kleidung nicht und missbilligte den Zigarrenrauch, mit dem sich Erhard gern einnebelte, ebenso wie die Zigarrenasche, die sich auf seinem Revers ansammelte“, so Mierzejewski. „Erhards Alkoholkonsum betrachtete er als moralischen Affront. Und schließlich war ihm Erhards Hang zum Selbstmitleid unerträglich.“

Adenauers Hauptvorwürfe waren häufige Abwesenheit, mangelnde Kontrolle des Ministeriums und unbedachte Reden. Seine Anhänger wurden scherzhaft „Brigade Erhard“ genannt – nach einer Marineeinheit aus dem Kapp-Putsch von 1920. Einer der Höhepunkte der Differenzen zeigte sich bei der Rentenreform 1957, die Adenauer mit seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler durchsetzte. Das seitdem bestehende Umlageverfahren („Generationenvertrag“) lehnte Erhard als nicht zukunftsfähig ab. Adenauer setzte sich jedoch mit dem bekannten Ausspruch „Kinder kriegen die Leute sowieso“ über diese Bedenken hinweg. Weitreichende Entscheidungen aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister waren die Neuordnung des Kartellrechts mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957, das Bundesbankgesetz aus dem gleichen Jahr sowie die Privatisierung von Unternehmen, die sich bis dahin noch im Staatsbesitz befanden wie die Preussag AG 1959 oder die Volkswagen AG 1960, wobei die Anteile jedes Mal als Volksaktien erworben werden konnten.

„kein Abschied von der Politik“

Seit dem Bundestagswahlkampf von 1961 zum voraussichtlichen Kanzler-Nachfolger gekürt, wurde Ludwig Erhard nach dem Rückzug Konrad Adenauers am 16. Oktober 1963 zum neuen Bundeskanzler gewählt. 1964 ließ er im Park des Palais Schaumburg den Kanzlerbungalow als Wohn- und Empfangsgebäude des Bundeskanzlers erbauen. Als Atlantiker, der den Beziehungen zu den USA gegenüber denen zu Frankreich Vorrang gab, warf man ihm aus den Reihen der CDU vor, er sei für eine Abkühlung der deutsch-französischen Beziehungen verantwortlich. Erhard veranlasste – ohne formelle Kabinettsentscheidung – die Aufnahme von Verhandlungen zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel, die im Mai 1965 abgeschlossen wurden; es war die einzige Richtlinienentscheidung seiner Amtszeit. Nach dem Botschafteraustausch brachen zahlreiche Nahost-Staaten die Beziehungen zur Bundesrepublik ab.

Um seinem rasanten Autoritätsverlust entgegenzuwirken, lässt er sich 1966 zum CDU-Vorsitzenden wählen – umsonst. Das Devisenausgleichsabkommen, mit dem die Kosten für die Stationierung der US-Truppen auf deutschem Boden ausgeglichen werden sollten, brach ihm das politische Genick. Während in den ersten beiden Adenauer-Abkommen die Erfüllung der Forderungen unter deutschem Haushaltsvorbehalt standen, verpflichtete sich Erhard zur vorbehaltlosen Zahlung. Als Deutschland die nicht termingerecht abwickeln konnte, versuchte Erhard in Washington bei US-Präsident Lyndon B. Johnson Zugeständnisse zu erreichen; die Reise wurde ein völliger Fehlschlag. Daraufhin trat der Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel (FDP) zurück, die übrigen FDP-Minister schlossen sich an. Am 1. Dezember 1966 tritt Erhard als Bundeskanzler zurück.

Adenauer und Erhard. Quelle: https://www.fr.de/bilder/2008/06/13/11590400/527347177-898178-156b.jpg

„Der Kanzlerwechsel ist für mich kein Abschied von der Politik. Sie werden mir auch in Zukunft aktiv im politischen Leben dieses Staates begegnen“, sagte er zum Abschied. Sein Nachfolger wird Kurt Georg Kiesinger mit einer Regierung der Großen Koalition. Die CDU nahm ihm übel, dass er ein Kanzler ohne Fortüne geblieben war. Seine Glücklosigkeit hatte sich sowohl in der Außen- wie in der Wirtschaftspolitik gezeigt. Mit dieser fand der Wirtschaftsfachmann Erhard kein Rezept gegen die Rezession und den damit verbundenen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Erhards politische Aktivität spielte sich noch elf Jahre hauptsächlich auf den Hinterbänken des Bundestages ab. Zweimal durfte er die Legislatur als Alterspräsident eröffnen.

Bei zahlreichen Gelegenheiten äußerte er sich weiter zu wirtschaftspolitischen Fragen und tat sich in der Öffentlichkeit als Gralshüter der sozialen Marktwirtschaft hervor. Erhard genoss die Ehrenbürgerschaft von Tokio, Lima, Houston, Bonn und Ulm und besaß zahlreiche in- und ausländische Ehrenpromotionen. 1967 gründete er die Ludwig-Erhard-Stiftung, die seine wirtschaftswissenschaftlichen und Wirtschaftsordnungs-Vorstellungen wissenschaftlich und publizistisch weiter pflegen sollte. Ludwig Erhard starb am 5. Mai 1977 in Bonn und wurde nach einem Staatsakt auf dem Bergfriedhof in Gmund am Tegernsee beigesetzt. In vielen deutschen Städten sind Straßen, Wege, Plätze oder Brücken nach ihm benannt.

Erfinder des Exportweltmeisters

In den Nachrufen wird als sein Verdienst gewürdigt, sich Deutschlands hoch entwickelter Ökonomie in den Fünfzigerjahren bedient und diese weltweit erfolgreich gemacht zu haben. Nach Albrecht Ritschl bestehe die große Leistung von Erhard „weniger darin, Reformen gestaltet zu haben – sondern darin, falsche Entscheidungen verhindert zu haben.“ Seine Zeit als Bundeskanzler wird jedoch oft als „glücklos“ gesehen, sein politisches Scheitern nicht zuletzt darauf zurückgeführt, dass ihm als „Quereinsteiger“ in die Politik Durchsetzungsfähigkeit fehlte und sein kollegialer Stil als Führungsschwäche ausgelegt wurde. „Erhard war ein Antipolitiker, der sich der Folgen, die sich aus seinen eigenen Anschauungen ergaben, nie ganz bewusst war. Er weigerte sich, dass politische Ränkespiel mitzuspielen, war aber nicht konsequent genug, ihm ein Ende zu setzen“, befindet Mierzejewski.

Statue in Witzenhausen. Quelle: https://www.hna.de/bilder/2020/02/14/13540574/1674834025-witzenhausen-stadtpark-ludwig-erhard-statue-2ma7.jpg

„Erhard hat schon in den frühen Fünfzigerjahren erkannt, dass die deutsche Wirtschaft mit ihrer führenden Stellung bei Investitionsgütern nicht nur den europäischen, sondern den Weltmarkt im Blick haben muss“, würdigt ihn der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser im Spiegel. „Daraus hat er die Strategie entwickelt, mit gezielter Unterstützung der Wirtschaftsverbände auch weit entfernte Märkte in Asien oder Lateinamerika zu erobern. Mit dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft heute 50 Prozent ihrer Exporte außerhalb der EU absetzt.“ Daher sei er weniger der Vater des Wirtschaftswunders als vielmehr der Erfinder des Exportweltmeisters. Er wollte aus Europa eine Freihandelszone machen und stand der wirtschaftlichen Integration Europas lange skeptisch gegenüber.

Wie eine Bombe schlug 2007 ein Stern-Interview mit Horst Friedrich Wünsche ein, Geschäftsführer der Erhard-Stiftung: „Er war nie Mitglied der CDU.“ Günter Buchstab, der Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, die das Parteiarchiv verwaltet, bestätigte: „Die Mitgliedschaft lässt sich aktenmäßig nicht nachvollziehen“, seines Wissens habe Erhard an die CDU auch „keine Beiträge gezahlt“ – obwohl er 28 Jahre für die Christdemokraten im Bundestag saß und bis zu seinem Tod 1977 gar Ehrenvorsitzender war. In Personenarchiven und deutschen Medien fand hatte die Version Aufnahme, Erhard sei anlässlich seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden am 23. März 1966 in die CDU eingetreten, wobei der offizielle Beitritt um drei Jahre auf 1963 rückdatiert worden sei. Das wurde nun dementiert. Erhard wäre damit formaljuristisch nie CDU-Vorsitzender gewesen und hätte auf keinem Parteitag an Abstimmungen teilnehmen dürfen. Ein Parteivorsitzender ohne gültige Mitgliedschaft – ein Kuriosum in der deutschen Parteiengeschichte.

„Trotzköpfchenhaft“ kommentierte Edo Reents in der FAZ, dass sich Angela Merkel zum Großen Zapfenstreich 2021 gerade ihren größten Hit „Für mich soll‘s rote Rosen regnen“ gewünscht hatte: „…sich nie den Mund verbieten lassen, es sollen andauernd Wunder geschehen und das Schicksal ganz, ganz lieb zu einem sein; lauter Dinge, die ein Anspruchsdenken verraten, wie man es von einer verwöhnten Göre erwarten mag, aber nicht von der Bundeskanzlerin.“ Die diesen Hit 1968 kurz nach der Geburt ihrer Tochter schrieb und 24 Jahre später mit der NDW-Band „Extrabreit“ erneut aufnahm und damit 22 Wochen die Charts anführte, starb am 1. Februar 2002: Hildegard Frieda Albertina Knef.

Geboren am 28. Dezember 1925 als Tochter eines flämisch stämmigen Tabakkaufmanns in Ulm, verliert sie ihren Vater 1926 durch Syphilis. Die Mutter zog mit ihrer Tochter nach Berlin und heiratete 1933 einen Lederfabrikanten. Ihre Kindheit war wenig glücklich. So heißt es in ihrer Autobiografie: „Da waren ewig neue, endlose, zahllose, familienzermürbende Krankheiten, Tropfen- und Tablettenströme. ‚Hilde ist dauernd krank’, hieß es. Da waren geschwollene Augen und Gerstenkörner, da waren die Gummibeine der Kinderlähmung, gebrochenes Schlüsselbein, das nicht heilen wollte, Rheuma, das meine Mutter und mich schlaflos machte.“

Mit 15 Jahren begann sie eine Ausbildung als Zeichnerin in der Trickfilmabteilung der UFA-Filmstudios. 1943 wurde UFA-Filmchef Wolfgang Liebeneiner auf sie aufmerksam verhalf ihr zu einer Ausbildung zur Schauspielerin. 1944 begann sie eine Affäre mit dem Reichsfilmdramaturgen Ewald von Demandowsky, um an Rollen zu kommen. Noch vor Ende des Krieges trat sie erstmals in Filmen auf (u. a. Unter den Brücken, 1944; Fahrt ins Glück, 1945), die erst nach dem Krieg Premiere feierten. Die traumatische Flucht der 20jährigen Jungschauspielerin aus dem zerbombten Berlin wird charakterbildend – als Mann verkleidet, in Soldatenuniform im russischen Gefangenenlager.

Die Knef. Quelle: Von Koch, Eric / Anefo – Nationaal Archief, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29112775

Sie spielte dann an der „Tribüne“ am Berliner Kurfürstendamm Pagnol und Shakespeare. Im ersten deutschen Nachkriegsfilm „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte hat Knef 1946 ihre erste Hauptrolle, eine ehemalige KZ-Insassin, die einen Kriegsheimkehrer davon abhält, einen unentdeckten Nazi-Schergen zu richten. In dem Film, der sie auch im Ausland berühmt macht, erlangt sie ihren Durchbruch als Charakterdarstellerin. Sie spielte weiter Theater und synchronisierte nebenbei sowjetische Filme für die DEFA. 1948 erhielt sie in Locarno den Festspielpreis als beste Schauspielerin für Ihre Rolle im „Film ohne Titel“. Am 1. August dieses Jahres war die Knef auf dem Cover der ersten Ausgabe der neuen Illustrierten Stern abgebildet und wurde zum ersten großen deutschen Nachkriegsstar. Anschließend kehrte sie Deutschland den Rücken, heiratete den amerikanischen Filmoffizier Kurt Hirsch, zog in die USA und wird amerikanische Staatbürgerin.

„So oder so ist das Leben“

1950 kehrte Knef kurz in die Bundesrepublik zurück, um die Schmonzette „Die Sünderin“ zu drehen. Durch Proteste der katholischen Kirche wurde der melodramatische Streifen, der die Tabus Prostitution und Suizid thematisierte und eine kurze Nacktszene Knefs beinhaltete, zu einem der größten Skandale im deutschen Nachkriegskino: mit Demonstrationszügen für und gegen den Film, verbarrikadierten Kinos, Filmverboten in zahlreichen deutschen und europäischen Städten sowie Klageverfahren bis hin zum Bundesverwaltungsgericht und zum Bundesgerichtshof. Die Sünderin wurde damals allein in der Bundesrepublik von über sieben Millionen Kinobesuchern gesehen. Im Zusammenhang mit dem Erfolg des Films veröffentlichte Knef im Oktober 1951 ihre erste Schallplatte „Ein Herz ist zu verschenken“.

Den Grundstein für ihre Laufbahn als Sängerin aber legen die Dreharbeiten zu „Schnee am Kilimandjaro“ (1952) an der Seite von Gregory Peck. Darin muss sie eine Cole Porter-Nummer singen, von der Porter so angetan ist, dass er ihr die Hauptrolle in seinem Broadway-Musical „Silk Stockings“ („Seidenstrümpfe“) nahe legt. Mit insgesamt 675 Vorstellungen als „Ninotschka“ erlangt sie Mitte der fünfziger Jahre den internationalen Durchbruch. Sie ist die einzige Deutsche, der es bisher gelungen ist, in einer Hauptrolle am Broadway zu debütieren. Selbst ihr Vorbild Marlene Dietrich, die seinerzeit in New York wohnt, besucht Vorstellungen und ist von ihr schwer begeistert. 1953 wurde ihre Ehe geschieden.

Knef signiert. Quelle: Von Croes, Rob C. / Anefo – Nationaal Archief 928-3210, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29087954

Nach einem Streit mit der 20th Century Fox kehrte sie 1957 nach Deutschland zurück. Nach dem Film-Flop „Madeleine und der Legionär“ verpönt, drehte sie in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren vornehmlich in England und Frankreich zum Teil in anspruchsvollen und auch erfolgreichen, doch überwiegend in mittelmäßigen Produktionen (z. B. La Strada dei Giganti). 1959 lernte sie bei Dreharbeiten in Großbritannien ihren zweiten Ehemann, den damals noch verheirateten David Cameron kennen, den sie drei Jahre später heiratete. Rollen in den Filmen „Die Dreigroschenoper“ und „Wartezimmer zum Jenseits“ verhelfen ihr zu weiterer Popularität, und so beginnt Knef mit großem Erfolg eine zweite Karriere als Chansonsängerin mit immer mehr eigenen Texten, die genau den richtigen Ton zwischen Ironie, einer Prise Weltschmerz und trotzigem Optimismus trafen.

1962 veröffentlicht sie das Debütalbum „So oder so ist das Leben“. Zehn weitere Soloalben und eine unüberschaubare Vielzahl an Samplern, Compilations und Best-Ofs legen bis heute ein beeindruckendes Zeugnis ihrer musikalischen Zeitlosigkeit ab. 1965 nimmt sie ihr zweites Album „Hildegard Knef spricht und singt Kurt Tucholsky“ auf. Bereits wenige Monate später etabliert sie sich mit „Ich seh die Welt durch deine Augen“ endgültig als intelligente Chansongöre. 1966 geht sie mit Günter Noris und seiner Big Band auf Tournee. 1968 wird sie als beste deutschsprachige Sängerin ausgezeichnet und erhält mehrere Goldene Schallplatten für über drei Millionen verkaufte Exemplare. Mit ihren eleganten Hosenanzügen gilt sie zunehmend als Trendsetter, ja Stilikone.

In kantig-schönen Zeilen wie „Das Glück kennt nur Minuten, der Rest ist Warterei“ fasst sie die kollektive Volksseele der Wirtschaftswunderzeit in Worte, die auch heute noch Gültigkeit besitzen. Ihr großes Plus: Man glaubt ihr, was sie singt. Wie keine andere schafft es Hildegard Knef, den Menschen aus den Herzen zu sprechen und dabei nahe und antastbar zu bleiben. „Ich kenne die heutige Zeit nicht sehr gut. Genauso wenig, wie ich damals meine Zeit kannte. Ich kenne nur mich und meine Reaktionen auf das, was um mich herum geschieht“, sagt sie in den 90er Jahren. Ihr Markenzeichen wird die rauchig-verruchte Stimme: „Die größte Sängerin ohne Stimme“ wurde sie von ihrer Jazz-Kollegin Ella Fitzgerald genannt. „Ich hatte nie den Ehrgeiz, gut zu singen“, sagte sie.

„Nein ich gebe niemals auf“

Die Platten der Knef wurden Bestseller, sie tourte mit erstklassigen Bands umjubelt durch deutsche Hallen: „Auf der Bühne kreuzte sie die berlinerische Koketterie von Claire Waldoff mit der beinahe schläfrigen Lakonie einer Marlene – aber glaubwürdig in ihrer eigenen Weltgewandtheit aus Los Angeles und dem Spaß an der ironischen Respektlosigkeit des Pop-Zeitalters“, befand Laf Überland im DLF. Ihre Lieder waren Lebensberatung, sie konnte den real existierenden Alptraum des Daseins in wunderleichte Lieder packen. Bei ihr ging es immer, herbe und sachlich, um das wirkliche Leben als Desaster – und wie man irgendwie doch durchkommt: „Aus dem ungewöhnlich geschnittenen, großen Mund ließ sie abgehackt Sätze purzeln, die manchmal hart und klar wie Kieselsteine klangen“, so Überland. 1968 kam ihre Tochter Christina Antonia durch einen Kaiserschnitt zur Welt. Sie selbst schwebte kurzzeitig in Lebensgefahr.

Die Knef singt. Quelle: https://cdns-images.dzcdn.net/images/artist/823c87438f5f6010897ee584e9aa8bec/500×500.jpg

1970 wird ein einschneidendes Jahr für die Berlinerin. Zunächst erscheint ihr ambitioniertes Album „Knef“, für das sie mit ihrem Langzeit-Arrangeur Hans Hammerschmid neue Wege geht und sich aus dem Chanson-Korsett löst. Das Publikum geht auf Abstand, das Album floppt. Doch Knef hat gar keine Zeit, darüber zu trauern, denn kurz darauf wird ihre Autobiografie „Der geschenkte Gaul“ zu einem Sensationserfolg, der eine Auflage von über drei Millionen Exemplaren erzielte, in 17 Sprachen übersetzt wurde und zum international erfolgreichsten Buch eines deutschen Autors seit 1945 avancierte. Statt Konzerte absolviert sie daher zahlreiche Lesungen, bevor sie ihr Schaffen aufgrund einer Krebsdiagnose für mehrere Jahre unterbrechen muss – 1973 wird sie operiert. Diese Erfahrungen verarbeitet sie in „Ich brauch‘ Tapetenwechsel“ (1972) und „Das Urteil“ (1975). Im selben Jahr wird ihre zweite Ehe geschieden.

Ihre Karriere als Chansonsängerin wird in zwei Fernseh-Produktionen dokumentiert: „Die Knef. Bericht über ein Konzert“ (1969) und „Hildegard Knef und ihre Lieder“ (1975). Es folgen schwere Jahre: Knef leidet unter der schweren Abhängigkeit der Morphium-Ersatzdroge Methadon und der Scheidung des zweiten Ehemanns David Cameron, der auch ihre Alben produzierte. Einen bitteren Kampf um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Christina gewinnt die Musikerin. Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit drehte sie auch in diesen Jahren Filme, unter anderem „Jeder stirbt für sich allein“ nach dem Roman von Hans Fallada sowie mit Billy Wilder „Fedora“ (1978).

Bereits 1977 erhält Hildegard Knef den Bundesfilmpreis für ihr Lebenswerk. Im selben Jahr heiratete sie in dritter Ehe den 15 Jahre jüngeren Paul von Schell, einen ungarisch-amerikanischen Adeligen. Fünf Jahre später „flüchtete“ sie 1982 mit ihrem Mann und ihrer Tochter von Berlin nach Los Angeles. Nach dem Presserummel (Krankheit, Scheidungskrieg, Facelifting, Welttournee) war Knef für die nächsten Jahre im deutschsprachigen Raum abgeschrieben. Vorbereitet durch ein TV-Porträts mit dem Titel „Nein ich gebe niemals auf“, landete sie schon vier Jahre später mit einer Rolle im Musical „Cabaret“ am Berliner Theater des Westens einen weiteren Bühnenerfolg. Im Herbst 1989 kehrte sie endgültig nach Deutschland zurück. Es folgten verschiedene TV-Rollen, und Wim Wenders engagierte sie für seinen Film „In weiter Ferne, so nah“ (1993). „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ hieß dann eine Kino-Hommage über Hildegard Knef, die im Herbst 1995 in die Lichtspielhäuser kam.

„Es ist ein einsamer Kampf“

Sie fing an zu malen, Bücher schrieb sie sowieso immer weiter, und 1997 gab sie in Leipzig sogar ihr Debüt als Modeschöpferin von Modellen für aktive, ältere Frauen. 1999 betritt sie wieder ein Aufnahmestudio und feiert mithilfe von Trompeter Till Brönner ein Albumcomeback („17 Millimeter“), das mit einem German Jazz Award ausgezeichnet wurde. Nach der „Goldenen Kamera“ und dem „Echo“ (2000) folgt 2001 der Bambi für ihr Lebenswerk, das insgesamt 39 Filme, 11 Langspielplatten, drei Bücher und zahllose Gemälde umfasst. Sie starb in einer Berliner Spezialklinik an den Folgen einer akuten Lungenentzündung. Sie ruht auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in einem Ehrengrab der Stadt Berlin.

Ehrengrab in Berlin. Quelle: Von OTFW, Berlin – Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11699747

Schon 2002 gab die Deutsche Post im Rahmen der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ ihr zu Ehren eine Sonder-Briefmarke heraus. In Ulm wurden ein Platz und eine Straßenbahn nach ihr benannt, die Bahn taufte einen ICE auf ihren Namen. 2003 wurde die Musicalfassung ihrer Autobiografie, geschrieben u.a. von ihrem Ehemann Paul von Schell, mit großem Erfolg und bundesweitem Medienecho uraufgeführt. 2009 feierte die Kinoproduktion „Hilde“, eine Verfilmung von Knefs Autobiografie Weltpremiere, in der Hauptrolle war Heike Makatsch zu sehen. 2010 erhielt Hildegard Knef einen Stern auf dem Boulevard der Stars in Berlin. Anlässlich ihres 90. Geburtstages wurde das Tributealbum „Für Hilde“ veröffentlicht, für das insgesamt 19 Pop-Künstler (darunter Mark Forster, Die Fantastischen Vier und Johannes Oerding) Titel von ihr neuinterpretiert haben. Auf dem Album sind außerdem Lieder zu finden, die auf zuvor nicht veröffentlichten Texten basieren.

Es war Hildegard Knefs Markenzeichen und ihr Überlebensmittel, sich nie zu verbiegen und immer zu kämpfen. „Zu kämpfen ist es schon, wenn Sie ein Buch schreiben und alleine vor der Schreibmaschine sitzen. Es ist ein einsamer Kampf, auf der Bühne zu stehen, das heißt, für jeden Schauspieler, jeden Chansonsänger… Es ist ein harter Beruf, der viel abfordert von einem. Viel mehr als man ahnt“, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews 2001. Da sollten wir doch froh sein, dass sich Merkel gerade für dieses Lied entschieden hatte. Zur Wahl hätte aus dem Knef-Kanon auch „Von nun an ging’s bergab“ gestanden. Aber das hätte die Bevölkerung nur unnötig beunruhigt.

Der Liederfürst

Er hat sein Lebenswerk in 31 Jahren vollenden müssen, davon die letzten sechs unter der Syphilis, die auf vielfache Weise hineinwirkte in sein Leben und auch in seine Kunst. Der Kontrast zwischen ereignisarmem Lebenslauf und kurzfristigem, intensivem, unvorstellbar inspiriertem Schaffensprozess irritiert bis heute. Seine Produktivität ist absolut unfassbar. Er hat wohl 30 000 Stunden mit Komponieren zugebracht, selbst beim Schlafen seine Brille getragen, um Einfälle sofort notieren zu können. Wie mancher vor und nach ihm, sollte auch er nach seiner neunten Sinfonie sterben. Seine einzigartige Existenz innerhalb seiner Musik ging bis zum Unvermögen, ein konventionell-soziales Leben zu führen: „Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Componieren auf die Welt gekommen“, hat er zwei Jahre vor seinem frühen Tod geschrieben: Franz Schubert, der am 31. Januar vor 225 Jahren in Himmelpfortgrund bei Wien geboren wurde.

Er war das dreizehnte von zwanzig Kindern des örtlichen Schulmeisters – von seinen Geschwistern erreichten nur acht das Erwachsenenalter. Der Vater erkannte früh sein Talent und gab ihm mit fünf Jahren Violinunterricht, mit sechs Jahren bekam er von seinem älteren Bruder Ignaz Klavierunterricht, mit sieben vom Kapellmeister der Lichtentaler Pfarrkirche dann Orgelunterricht. An Sonn- und Feiertagen wurden in der Familie regelmäßig Streichquartettabende veranstaltet, bei denen sein Vater Violoncello, er selbst Viola und seine Brüder Violine spielten. Wegen seiner schönen Stimme wurde er im Oktober 1808 als Sängerknabe in die Wiener Hofmusikkapelle und in das kaiserliche Konvikt aufgenommen, Antonio Salieri war sein Lehrer und Förderer. Er wirkte nicht bloß als Solist im Gesang, sondern lernte als zweiter Violinist im Konviktorchester auch die Instrumentalwerke Haydns und Mozarts kennen.  

Seine erste Komposition, eine Klavierfantasie G-Dur zu vier Händen, ist auf den April 1810 datiert – er ist er einer der ersten, der gute Musik für Piano zu vier Händen schreibt. Als er sich besonders in Mathematik und Latein verschlechterte, kehrte er im Oktober 1813 ins elterliche Haus zurück – und komponierte seine Sinfonie Nr. 1 D-Dur. 1814 – er besuchte inzwischen eine Lehrerbildungsanstalt –wurde ein Schicksalsjahr für ihn. Neben seiner ersten Oper „Des Teufels Lustschloss“ sowie mehreren Liedern wie „Gretchen am Spinnrade“ (aus Goethes Faust) und „Der Taucher“ (nach Schiller) komponierte er seine Messe Nr. 1 F-Dur. Die Uraufführung am 25. September 1814 in der Lichtentaler Pfarrkirche war die erste öffentliche Aufführung eines seiner Werke.

Franz Schubert. Quelle: Von Wilhelm August Rieder, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=797711

Dabei wurde das Sopransolo von der 16-Jährigen Therese Grob gesungen – die zur unglücklichen Liebe seines Lebens werden sollte. Sie wirkte auch bei den ersten Aufführungen der nächsten Messen mit, Schubert widmete ihr ein Streichquartett. In seinen Erinnerungen zitiert Anselm Hüttenbrenner Schubert so: „Gut war sie, herzensgut. Drei Jahre hoffte sie, dass ich sie ehelichen werde; ich konnte jedoch keine Anstellung finden, wodurch wir beide versorgt gewesen wären. Sie heiratete dann nach einem Wunsch der Eltern einen anderen, was mich sehr schmerzte. Ich liebe sie noch immer, und mir konnte seitdem keine andere so gut und besser gefallen wie sie. Sie war mir halt nicht bestimmt.“ Schubert wird definitiv bindungsunfähig.

mit glitzernden Augen komponiert

Für zwei Jahre Schulgehilfe seines Vaters, erlebt er 1815 seinen „Liederfrühling“ mit der Komposition  von 150 Liedern. Im Herbst dieses Jahres soll er den „Erlkönig“ in die Hand bekommen, sofort „mit glitzernden Augen“ komponiert und noch am selben Abend aufgeführt haben. Er soll auch, nach einem langen Abend mit Freunden, etlichen Flaschen Wein und Zigarren, sich ans Pult gesetzt und „die Forelle“ geschrieben haben. Wahr an den Anekdoten könnte sein, dass Schubert  – wie Mozart – im Kopf komponierte und dann nur noch niederzuschreiben brauchte. Er hatte ja meist auch kein Piano zur Verfügung. 1816 wird Goethe das ihm zugesandte Liederheft unter anderem mit dem „Erlkönig“ und „Gretchen am Spinnrade“ ignorieren.

1818, mit 21 Jahren, will Schubert sein Leben als „Berufskomponist“ ganz der Musik widmen, was den zeitweisen Bruch mit seinem Vater nach sich zog. Zunächst wirkt er als Musiklehrer beim Grafen Esterházy in Zseliz (heute Ungarn). Für die Komtessen Marie und Caroline, die Töchter des Grafen, schrieb er vierhändige Stücke und Lieder und schuf seine Sinfonie Nr. 6 C-Dur. Während der ihm noch verbleibenden zehn Jahre lebt er in Wohngemeinschaften bei verschiedenen Freunden, zu denen er auch homosexuelle Beziehungen unterhalten haben soll, er galt als bisexuell. Seinen ersten Auftritt als Liedkomponist hatte er 1819 mit „Schäfers Klagelied“. Schubert wird Zentrum und Magnet kunstliebender Zirkel, der sogenannten „Schubertiaden“, die die musikalische Bürgerfamilie Sonnleithner zu seinen Ehren organisierte und die in ähnlicher, aber völlig anders organisierter Form noch immer stattfinden, so als Schubertiade-Festival in Vorarlberg.

Das große öffentliche Publikum blieb ihm eher verschlossen. Zu seinen Bewunderern gehörte unter anderem Franz Grillparzer oder Moritz von Schwind. Ermutigt von den Erfolgen versuchte Schubert nun, sich als Bühnenkomponist zu etablieren, wurde aber in seinen Hoffnungen enttäuscht. Sowohl „Alfonso und Estrella“ als auch „Die Verschworenen“ wurden vom Theater abgelehnt, „Fierrabras“ nach ersten Proben abgesetzt. Im Alter von 25 Jahren entdeckt er dann Symptome für Syphilis und wird im AK Wien behandelt, damals das modernste Krankenhaus Europas, wo er in ekel- und angsterregender Umgebung von Geschwürskranken die schönsten Müllerin-Lieder schreibt.

Therese Grob. Quelle: Von Heinrich Hollpein – Wien Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25446225

Die Symphonie Nr. 8 wird unvollendet bleiben und spiegelt seine Krankheit: Die zwei vorhandenen Sätze sind von eindringlicher emotionaler Spannung – Musik strahlenden inneren Lichts, gefangen in Traurigkeit und Einsamkeit. Werke wie die zwei Liederzyklen „Winterreise“ und „Schwanengesang“ sind auch in Beziehung zu seiner Krankheit zu sehen: Zeitlebens hat er eine Neigung gehabt zur Thematik von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Verlassensein, Einsamkeit, Tod und, alles umfassend, Wanderschaft: schicksalhafte Unstetigkeit, von der es Erlösung durch Liebe vielleicht, gewiss aber nur durch den Tod gibt. 1823 entsteht die beliebte „Rosamunde“-Musik, 1824 „Der Tod und das Mädchen“.

Auch in den nächsten Jahren arbeitete Schubert unermüdlich und produzierte zahlreiche Kompositionen. Es entstanden Werke wie der Liederzyklus „Die Winterreise“, der einen Gipfel in der Gattung des Liedes im 19. Jahrhundert darstellte. Jeden Morgen begann er nach dem Aufstehen mit dem Komponieren, aß um zwei Uhr, ging spazieren und wandte sich dann erneut der Komposition zu oder besuchte Freunde. Mit zunehmendem Alter wurde er korpulenter und neigte zu alkoholischen Exzessen. Wegen seiner Größe von nur 1,56 m wird er „Schwammerl“ gerufen. Im Frühjahr 1824 scheint die Krankheit den Komponisten psychisch besonders schwer belastet zu haben: „Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen der Welt“ schrieb er. Es ist davon auszugehen, dass sich Schubert fortan wiederholt Quecksilberkuren unterzog, die mit heftigen Nebenwirkungen verbunden waren.

„hier ist mein Ende“

im Sommer dieses Jahres war er zum zweiten Mal bei Esterházy engagiert. Er widmete der 19-jährigen Komtesse Caroline drei Lieder, angeblich soll er sie umworben haben. 1825 hatte Schubert noch einmal eine glücklichere Phase, in die eine Reise durch Österreich zur Kur nach Bad Gastein fiel. Er arbeitete an der „Gmunden-Gasteiner Sinfonie“ und schrieb Klaviersonaten D-Dur, die er zu einem recht hohen Preis veröffentlichen konnte. Das war nicht selbstverständlich: Einen Gulden pro Lied bekommt er von Verlegern, die seine Not um Geld für Medikamente schamlos ausnutzen. Von 1826 bis 1828 hielt sich Schubert in Wien und seinen Vorstädten auf. Die Stelle des Vizekapellmeisters an der kaiserlichen Hofkapelle, um die er sich 1826 bewarb, bekam er nicht. Am 26. März 1828 gab er das einzige öffentliche Konzert seiner Karriere, das ihm 800 Gulden Wiener Währung einbrachte. Zahlreiche Lieder und Klavierwerke waren inzwischen gedruckt worden; doch das Geld gab Schubert vor allem im Wirtshaus beim Wein aus.

Schubertiade. Quelle: Von Moritz von Schwind – Unbekannt, uploaded by User:LeastCommonAncestor as a version of File:Moritz von Schwind Schubertiade.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=535713

In seinem letzten Lebensjahr schreibt Schubert, wie Mozart, tief inspirierte Kompositionen. Sein Tagebuch wird spärlicher: Isolation, Kälte, Lebensverneinung. „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Im Kontrast zu Schuberts Melancholie ist es beruflich ein gutes Jahr: Einladungen, beachtliche Privatkonzerte, Veröffentlichungen. Er schreibt die C-Dur-Sinfonie Nr. 9, die Große, 1838 von Robert Schumann entdeckt; und im Mai die letzten drei Impromptus, die dann 30 Jahre lang verschollen bleiben. Für seine Kopfschmerzen wird Landluft verordnet, so zieht er im Juni zum Bruder Ferdinand. Die große Messe Es-Dur, die Klaviersonaten in c-Moll und A-Dur sind aus diesem letzten Sommer, und das Streichquintett in C-Dur.

Trotz Schwindel und unerträglichen Kopfschmerzen wandert er noch Anfang Oktober mit Bruder Ferdinand und zwei Freunden nach Eisenstadt zum Grab des verehrten Haydn und zurück, 70 Kilometer zu Fuß. Schuberts Tod meldet sich gespenstisch beim Abendessen: „Da er nun am letzten Oktober abends einen Fisch speisen wollte“, schreibt Ferdinand, „warf er, nachdem er das erste Stückchen gegessen, plötzlich Messer und Gabel auf den Teller und gab vor, es ekle ihn gewaltig vor dieser Speise, und es sei ihm gerade, als habe er Gift genommen. Von diesem Augenblick an hat Schubert fast nichts mehr gegessen und getrunken, bloß Arzneien geschluckt.“ Bei einem Aderlass soll Schubert dann dem Arzt starr ins Auge gesehen, an die Wand gegriffen und gesagt haben: „Hier, hier ist mein Ende.“

Er stirbt an Typhus, der gleichen Krankheit wie seine Mutter, nachmittags um drei an ihrem Namenstag, dem 19. November 1828. Begraben nahe Beethoven, wurden seine Gebeine 1888 in ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof überführt. Sein Grabmal trugt eine Inschrift Grillparzers: „Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz; aber noch viel schönere Hoffnungen.“ Dass er lange als „verkanntes Genie“ dargestellt wurde, das seine Meisterwerke unbeachtet von der Öffentlichkeit schuf, liegt daran, dass er mit seinen Großwerken – etwa seinen Sinfonien – keine große Wirkung erzielte und ihm mit seinen Opern nicht der ersehnte Durchbruch gelang. Allerdings suchte er selbst auch nicht die Öffentlichkeit und konnte anders als Mozart und Beethoven erst spät zu einem eigenen Konzert überredet werden. Er gilt neben Beethoven als der Begründer der romantischen Musik im deutschsprachigen Raum, schuf weltliche und geistliche Chormusik, sieben vollständige und fünf unvollendete Sinfonien, Ouvertüren, Bühnenwerke, Klaviermusik und Kammermusik, vor allem Quartette und Quintette.

Erste Grabstätte. Quelle: Von HeinzLW – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 at, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16629007

Einschließlich der drei großen Lieder-Zyklen komponiert Schubert rund 700 Lieder, in denen er meistens das „Strophenlied“ verlässt und die Möglichkeiten des Klaviers über das Begleiterische hinaus zu dramatischer Gestaltung der künstlerischen Aussage entwickelt. „Er hat das Kunstlied auf eine bis dahin nicht gekannte Höhe geführt“, so Dietrich Fischer-Dieskau. Das Besondere an Schuberts Liedern gründet darin, dass nicht eine musikalische Idee leitend ist, sondern die sprachliche Vorgabe. Seine Mittel, der vorgegebenen melodischen und metrisch-rhythmischen Sprachgestalt musikalisch zu folgen, sind neben äußeren Mitteln wie gezielte Text-Wiederholungen oder Wechseln des Tongeschlechts in einem Lied auch die Klavier-Imitation realer Schallphänomene wie plätscherndes Wasser, Hundegebell oder Wetterereignisse. Ernst Keil gab ihm 1866 den Titel „Liederfürst“. Franz Liszt beschrieb Schubert als den „poetischsten Musiker, der je gelebt hat.“

Kinderlieder dürfen als rassistisch diffamiert und Xavier Naidoo Antisemit genannt werden – der ideologische Furor wird in der Musik publizistisch und juristisch geadelt. Das ist ein schlechtes Zeichen für die Kunst und ein fatales für die Demokratie.

Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Er versuchte später, sein Verhalten in den Jugendjahren nicht zu bagatellisieren, sondern nannte sich selbst einen Nazijungen. Er war als junger Mensch gefangen in der Ideologie des 3. Reichs – wie der größte Teil seiner Altersgefährten auch. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen dieser Jahrgänge hat er aus dieser Vergangenheit nie ein Geheimnis gemacht, die eigene Vergangenheit nicht verdrängt, anstatt ihr auf den Grund zu gehen. Diese versäumten es, von den „Kindheitsmustern“ (Christa Wolf) zu sprechen, in die sie gepresst worden waren, und die noch lange als Herkunftsmonster in ihrem Bewusstsein spukten. Er tat es.

Denn gerade solche Dokumente intensiver Selbstanalyse einer politischen Verirrung sind für eine lebendige Demokratie wertvoll. In der DDR war Franz Fühmann, neben Wolf, eine Ausnahme. Seine Werke sind zu einem ganz wesentlichen Teil ein radikaler Versuch, den Wurzeln eines ideologischen und totalitären Denkens auf die Spur zu kommen. Ein Versuch, der nie bis zum Roman reichte, sondern immer nur häppchenweise zu bewältigen war, in Erzählungen, Novellen, Essays oder Fragmenten wie seinem letzten, dem Haupt- und Alterswerk „Im Berg“: Franz Fühmann, der am 15. Januar 1922 in Rochlitz im Riesengebirge (heute: Rokytnice nad Jizerou) geboren wurde.

Sein Vater war Apotheker und hatte mit einem Knoblauchsaft gegen Arterienverkalkung eine kleine pharmazeutische Fabrik auf die Beine gestellt. Er wuchs nach eigenen Angaben in einer „Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus“ auf: Das Zusammenleben mit einem autoritären und zugleich an den Kindern kaum interessierten Vater und mit einer frömmelnden, bigotten Mutter, die eine Ehe voll Zank und Streit führten, muss bedrückend gewesen sein. Also flüchtete Franz in die Phantasie. Jeden Winter wurde Rochlitz eingeschneit – und da fing er an zu fabulieren und später zu schreiben: Anfangs wurde er von einer Hauslehrerin unterrichtet. In seiner Heimat gab es überall Eulen, Abhänge, Steinbrüche mit geheimnisvollen Eingängen, Büschen, verkrüppelten Bäumen. In jeder Höhle wohnte ein Geist, für den er einen Namen und eine Genealogie erfand. Auf diese Weise gründete er ein eigenes Reich mit Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Die Natur schien beseelt, doch nur wenige dieser versteckten Geschöpfe waren freundlich gesonnen.

Franz Fühmann. Quelle: https://henschel-schauspiel.de/serve_image/5a631270b9bb1df913282255

Ab 1932 besuchte er das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, aus dem er 1936 flüchtete. Er ging dann auf das Gymnasium in Reichenberg (Liberec), trat dem Deutschen Turnverein bei und wurde 1937 Mitglied der pennalen Burschenschaft Hercynia. Als 15-Jähriger ist er dabei, als am 9. November 1938 die Synagoge in Reichenberg zerstört wird. Er tritt in die Reiter-SA ein. Seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht 1939 wird abgelehnt, weil er noch zu jung ist. 1941 darf er dann endlich an die Front, als Funker erst nach Russland, später nach Griechenland. Doch Fühmann will dichten. Sein Vater sei stolz gewesen, als „Nacht am Peipussee“ und vier weitere Gedichte des 20-jährigen Soldaten gedruckt werden. Noch im Januar 1945 schafft es der junge Fühmann mit einem Gedicht sogar auf Seite eins der Wochenzeitschrift Das Reich: Deren Herausgeber, dem promovierten Germanisten Hermann Goebbels, gefiel die heroische Endzeit-Lyrik: „Karg und klar ist die Zeit. / Ehern waltet die Not“. Dann gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

„Er hatte recht“

Die vier Jahre unter anderem an der Antifa-Schule in Noginsk verwandeln Fühmann in einen gläubigen Kommunisten, der 1949 in die DDR zieht – Mutter und Schwester hatte es bereits dorthin verschlagen, sein Vater war kurz nach Kriegsende gestorben. Inzwischen ist seine sowjetische Abschlussbeurteilung zugänglich: „Am Anfang war er geprägt von halbfaschistischen und kleinbürgerlichen Vorurteilen. Er war voll von deutschem pseudointelligenten Hochmut und Individualismus und missachtete das Kollektiv. Unter dem Einfluss der intensiven Beschäftigung mit dem Lehrgangsprogramm und der politischen Erziehungsarbeit der Gruppe hat Fühmann diese Eigenschaften abgelegt und gewann größere Autorität im Kollektiv, entwickelte sich zu einem klugen Antifaschisten, der die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht, einige theoretische Grundwerke durchstudiert hat und ständig bereit zum Kampf um das neue demokratische Deutschland ist.“ Für Günther Rüther gleicht Fühmanns Wandlung vom Nationalsozialisten zum Stalinisten „damit einem Film, in dem das Negativ zum Positiv entwickelt wird“.

Prompt wurde er für leitende Tätigkeiten etwa in der zentralen SED-Presse empfohlen. Gern wäre er der SED beigetreten, aber er wurde zur NDPD abkommandiert: Die Nationaldemokratische Partei  sollte ehemalige Nationalsozialisten, Offiziere, Soldaten, Mittelständler an die DDR binden. Vorsitzender war der Altkommunist Lothar Bolz, der lange als Außenminister der DDR fungierte. lm Führungspersonal gab es viele umerzogene Militärs, auch Mitglieder des von Stalin gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ wie Wehrmachtsgeneral Vinzenz Müller, der die Volksarmee der DDR aufbaute und dessen persönlicher Referent Fühmann zunächst wurde. Er heiratete 1950 Ursula Böhm, zwei Jahre später kam die gemeinsame Tochter Barbara zur Welt. Er schrieb Artikel für parteieigene Zeitungen, war ab 1952 Mitglied des NDPD-Landesvorstands und von 1954 bis 1959 von der Stasi als IM „Salomon“ erfasst. Da er jedoch weder Berichte lieferte noch zu konspirativen Treffen bereit war, entpflichtete die Stasi ihn wieder. Später wurde er selbst Beobachtungsobjekt unter dem Decknamen „Filou“.

Seinen ersten großen literarischen Erfolg und damit auch Durchbruch als Prosaautor erlebt Fühmann mit der Novelle „Kameraden“. Sie erscheint 1955, wird in viele Sprachen übersetzt und zwei Jahre nach ihrem Erscheinen auch verfilmt. Er leitete bis 1958 die Hauptabteilung Kulturpolitik der NDPD und gehört der Partei bis 1972 an. Der Funktionär Fühmann dichtete und schrieb weiter, Lieder junger Traktoristen oder den Chor der Komsomolzen – eine aufstrebende literarische Karriere in der DDR. Prompt bekam er 1955 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, 1956 den Heinrich-Mann-Preis und 1957 den Nationalpreis der DDR. Von 1958 bis zu seinem Tode war Fühmann freier Schriftsteller und Nachdichter, letzteres vorrangig im Bereich der Lyrik (vor allem aus dem Tschechischen und Ungarischen), nachdem die Quelle des eigenen lyrischen Schaffens versiegt war – die Abkehr vom Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 erschütterte seine Überzeugungen nachhaltig. Einen Abschluss dieser Periode bildet der Band „Die Richtung der Märchen“ (1962).

Marcel Reich-Ranicki fällte in diesem Jahr sein Verdikt über den frühen Fühmann in der Zeit: „Unverfälschte NS-Lyrik aus der Feder eines Mannes, der mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun haben wollte und ihn – daran kann kein Zweifel bestehen – zutiefst hasste.“ Und: „Man hatte ihn auf der ‚Antifaschule‘ nur ‚umfunktioniert‘: Daher schrieb er HJ-Gedichte mit FDJ-Vorzeichen.“ Fühmann später schonungslos gegenüber sich selbst: „Er hatte recht.“ Fühmann ging härter mit sich ins Gericht, als jeder andere es hätte tun können: „Er übersteigerte seine Schuld selbstquälerisch, anstatt sie zu bagatellisieren“, befand Uwe Wittstock in der Welt. Prompt rückte in den späteren Texten die Verarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der unschuldig-schuldhaft in die Nazi-Verbrechen verstrickten jungen Generation in den Vordergrund, so in „Das Judenauto“ (1962), seiner wohl berühmtesten Erzählung, in der er Grundmotive antisemitischer Hetze vorführt, oder „König Ödipus“ (1966).

„süßes Rauschgift zerbrannter Saaten“

Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968 war für ihn das nächste einschneidende Moment. Hatte er 1961 den Mauerbau noch gerechtfertigt – es sei gut, dass sozialistische Panzer am Brandenburger Tor stünden, denn er kenne den Unterschied zwischen roten und braunen Panzern, obwohl beide aus Stahl gebaut und mit Kanonen bestückt seien – war Fühmann zu Rechtfertigungen dieser Art nicht mehr bereit. Aber er geriet in der kritischen Situation, wie er später formulierte, auf den „schwarzen Weg des Alkoholismus“. Die Metaphern vom „weißen Magier“ und dem „süßen Rauschgift zerbrannter Saaten“ nutzt er oft. Seine existentielle Krise überwand er durch ein radikales Umdenken. „Die hartnäckige, sich über Jahrzehnte erstreckende Beschäftigung mit den Verirrungen seiner Jugend weiteten sich zur psychoanalytischen Trauerarbeit“, bilanziert Wittstock.

Schaffensquerschnitt. Quelle: eigene Collage

„Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genauso funktioniert, wie Du in Charkow oder Athen hinter dem Fernschreiber funktioniert hast“, schrieb Fühmann selbst. Er ging zunehmend auf Abstand zur Politik der DDR, zog sich aus dem Schriftstellerverband zurück und unterstützte diskriminierte Autoren: Er wird zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehören. 1977 schrieb er an Klaus Höpke, damals als Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel einer der höchsten Zensoren des Landes, einen offenen Brief: „Weder ein Einzelner, noch ein Berufsstand, noch irgendeine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit.“ Höpke dürfte der Atem gestockt haben – und der offene Brief wurde selbstverständlich nicht veröffentlicht.

Da war Fühmann längst die Selbstbefreiung gelungen, in ständigen Kämpfen gegen den Alkohol und die Machthaber: „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“, ein Ungarn-Reisetagebuch, wird 1973 zu einem bahnbrechenden fragmentarischen Memoir. In dem Werk, mit dem der Autor seine literarische Existenz am liebsten erst beginnen ließe, kann man nachlesen, wie schwer es ihm wurde, die Entscheidung zu annullieren, als „willenloses Werkzeug“ der neuen guten Ordnung zu wirken. Mit dem SED-Staat hatte er innerlich gebrochen – nicht mit dem Sozialismus. Zunehmend verzweifelt, aber unermüdlich setzt er sich für diejenigen ein, die in der DDR nicht gedruckt werden. Als einer der Ersten erkennt er das Genie des dichtenden Heizers Wolfgang Hilbig. „Er hatte ein Gespür dafür, ob Texte echt sind“, erklärte 1997 Uwe Kolbe die Wirkung seines Mentors auf seine eigenen Gedichte. „Da sagt er dir schon mal: ‚Ne, in der Zeit hättest du auch was anderes machen können‘.“ In Uwe Tellkamps „Der Turm“ trägt die Figur des Georg Altberg deutlich Fühmann‘sche Züge.

In vielen Texten der 70er Jahre vollzog er eine Rückbesinnung in seine Kindheit in Form einer stärkeren Hinwendung zu Mythos und Phantasie, ergänzt um Traum und Sprachspiel, so in „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978). Einen bedeutenden Teil im Gesamtwerk nimmt bei Fühmann die Essayistik ein, wofür Titel wie „Das mythische Element in der Literatur“ (1975) und „Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“ (1979) stehen. Nach der Ausreise von Sarah Kirsch und Bernd Jentzsch aus der DDR sowie dem Austritt Jurek Beckers trat Fühmann 1977 endgültig vom Vorstand des Schriftstellerverbands zurück und war in der Folgezeit in der DDR künstlerisch wie politisch zunehmend isoliert: mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit eckt er bei allen an und will anecken. Er trat für die Friedensbewegung ein und nahm 1981 an der ersten Berliner Begegnung zur Friedensförderung teil. Eine von Fühmann initiierte Anthologie junger kritischer DDR-Autoren wurde im selben Jahr durch die Leitung der Akademie der Künste und führende Kräfte der SED verhindert.

Im Bergwerk (2.v.l.) Quelle: https://www.cinema.de/sites/default/files/styles/cin_landscape_510/public/sync/cms3.cinema.de/imgdb/import/dreams2/1000/961/3/1000961316.jpg?itok=XVDrY5ca

Der Erzählband „Saiäns-fiktschen“ mit ihren alptraumhaften Negativ-Utopien wird ebenfalls 1981 zur Geburtsstunde der Dystopie in der DDR. Ein Jahr später entdeckt er in „Vor Feuerschlünden“ die Lyrik Georg Trakls für DDR-Leser. Hier beschreibt Fühmann sprachgewaltig, ja in nahezu manischer Intensität den Versuch, sich von jeder ideologischen Doktrin zu befreien, und bekam dafür den Geschwister-Scholl-Preis. Daneben schrieb er das Ballett „Kirke und Odysseus“, einige Filmdrehbücher und brachte zusammen mit dem Fotografen Dietmar Riemann den Bildband „Was für eine Insel in was für einem Meer“ über Menschen mit geistiger Behinderung heraus, mit denen er drei Jahre lang immer wieder gearbeitet hatte.

„der Ort der Wahrheit“

Quer durch alle Schaffensphasen hinweg schuf er immer auch Literatur für Kinder, die für Generationen prägend waren: Beginnend mit „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ (1959), die er auf Anregung seiner Tochter schrieb, über „Kabelkran und Blauer Peter“ (1961) oder „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ (1964) bis hin zu etlichen Nacherzählungen klassischer literarischer Stoffe und Sagen wie „Reineke Fuchs“, „Das Hölzerne Pferd“, „Prometheus. Die Titanenschlacht“ oder „Das Nibelungenlied“ (1971-80). An seinem letzten, dem „Bergwerk-Projekt“, angelegt zwischen Erzählung, Essay und Reportage, verzweifelte er. Mit dem Bergwerk verband sich für Fühmann vieles. Für ihn war es ein Ort der Mythologie, in der der Bergmann – Atlas gleich – den Berg zu tragen schien, ein „jungfräulicher Ort“, in dem „jedes Streb Pionierland war“, das Einblicke in längst vergangene Zeiten bot, aber ebenso Ort, der – Modellcharakter besitzend -, einem die Möglichkeit bot, den Prozess des Eindringens in unbekannte Bezirke zu studieren. In aller erster Linie war für Fühmann die Grube jedoch „der Ort der Wahrheit, in der jeder Handgriff gnadenlos gewogen“ wurde.

Sechs Monate vor seinem Tode brach er die Arbeit an dem Projekt ab und versah das Fragment mit dem Untertitel „Bericht eines Scheiterns“. Am 8. Juli 1984 starb Fühmann an Krebs. Auch sein Testament ist ein Dokument der Bedingungslosigkeit: „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ Und er verfügte, dass kein offizieller Vertreter des Schriftstellerverbands der DDR an seiner Beerdigung teilnehmen soll. Drei Monate danach sendete der Rundfunk der DDR erstmals ein Originalhörspiel für Erwachsene von ihm: „Die Schatten“. Bis zum Umbruch 1989 folgten jährlich weitere Originalhörspiele, die Fühmann kurz vor seinem Tod im Krankenhaus geschrieben hatte. 1993 veröffentlichte Hinstorff, sein Hausverlag, eine „Autorisierte Werkausgabe“ in 8 Bänden mit über 3500 Seiten.

Fühmann bei Trakl. Quelle: https://pbs.twimg.com/media/DhkavuKW0AErgcg.jpg

Am Ende bleibt mehr als einer, der „über Auschwitz zum Sozialismus“ kam, mehr als ein „Täter mit gutem Gewissen“, wie Lothar Fritze behauptete. Er wollte die ganze Wahrheit, „nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt, nicht für Programme zugeschnitten, nicht Strategien untergeordnet, nicht modifiziert nach Erfordernissen, nicht Präzeptoren vorbehalten, die das Volk als das schlechthin Unmündige ansehen, nicht wie Tranquilizer auf Rezepten verordnet…“, wie er in seiner Dankesrede zum Scholl-Preis sagte. Ein dualistisches Weltbild, das nur zwischen Gut und Böse, richtig und falsch unterscheidet, zugunsten eines offenen und differenzierten Blicks auf die Realität in ihrer Konfliktträchtigkeit und Komplexität überwunden zu haben, war nicht vielen Menschen vergönnt – ihm schon. „Sich als Mensch verstehen zu lernen, setzt voraus, den Anderen verstehen zu lernen“ – dieses Credo ist heute nötiger denn je.

Mit 175 Büchern, darunter allein 124 Krimis, gehörte er zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. In 45 Sprachen übersetzt, gilt er als Erfinder des modernen Thrillers und Anfang des 20. Jahrhunderts auch als dessen Hauptvertreter. Ein Gast durfte beobachten, wie er 1931 an einem Wochenende einen kompletten Roman diktierte, damit 4000 Pfund auf einen Schlag verdiente – und sich hinterher für zwei Tage Schlaf zurückzog. Die dauerhafte Anstrengung hatte allerdings ihren Preis: Der Autor konsumierte täglich rund 80 Zigaretten – mit Mundstück, das wurde sein Markenzeichen – und 40 Tassen mit stark gesüßtem Tee. Prompt erlitt er eine Diabetes, die nicht behandelt wurde und an der er am 10. Februar 1932 starb: Richard Horatio Edgar Wallace.

Am 1. April 1875 als unehelicher Sohn der mittellosen Schauspielerin Polly Richards geboren, adoptierte ihn eine Fischträgerfamilie zusätzlich zu ihren zehn Kindern, weil seine Mutter nicht für ihn sorgen konnte. Zum Leidwesen seiner Adoptiveltern brachte der Junge nur wenig Begeisterung für die Schule auf und ging mit zwölf Jahren ab. Dafür liebte er Bücher – und das Theater. Um sich den Eintritt leisten zu können, arbeitete er zuerst als Zeitungsjunge und schloss sich einer Jungenbande an, mit der er kleinere Diebstähle beging. Später versuchte er sich dann in allerhand Berufen: Er arbeitete als Druckergehilfe, Botenjunge, in einem Schuhgeschäft, in einer Tuchfabrik, als Koch auf einem Schleppnetzfischerboot in Grimsby, als Milchkutscher und als Straßenbauer und Bauarbeiter. „Arbeit knochenbrechend“, schrieb er frustriert an seine Familie.

1894 schrieb er sich als 18-Jähriger zur Armee ein und nahm den Namen Edgar Wallace an; angelehnt an den Schriftsteller Lew Wallace, der 1880 „Ben Hur“ veröffentlicht hatte. Zwei Jahre später wurde er in Südafrika stationiert. Seine publizistische Laufbahn begann hier: Er besserte sein Gehalt auf, indem er kurze Texte zu lokalen Ereignissen und Personen für die Presse in Kapstadt schrieb. Zudem schrieb er Gedichte, die vor allem durch die Arbeiten von Rudyard Kipling beeinflusst waren, den er 1898 in Kapstadt traf. Im gleichen Jahr veröffentlichte er ein Sammelwerk seiner Balladen unter dem Titel „The Mission that Failed“.

Edgar Wallace. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-13109 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480868

Seine Karriere als Journalist begann Edgar Wallace während des Zweiten Burenkriegs ab 1899 für die Daily Mail. Aufgrund eines Tricks konnte er als erster Korrespondent die Nachricht vom bevorstehenden Friedenschluss nach London senden: Obwohl der Ort der Verhandlungen strikt abgeschirmt war, signalisierte ihm ein ehemaliger Kamerad durch das Zeigen unterschiedlich-farbiger Taschentücher den Stand der Verhandlungen. Noch in Kapstadt heiratete er die Tochter eines methodistischen Missionars und bekamt eine Tochter, die 1903 mit 10 Monaten an einer Hirnhautentzündung starb. Aufgrund dieses Schocks sowie von Schwierigkeiten mit Wallace‘ Vorgesetzten kehrte das Paar hoch verschuldet nach London zurück.

Plakate mit der Größe einer Wohnzimmerwand

Das sich die Familie mit drei weiteren Kindern vergrößerte und Wallace einem durchaus gehobenen Lebensstil frönte, reichte das Honorar als Journalist und Sonderberichterstatter nicht aus. Wallace beschloss, sich mit einem Krimi wortwörtlich aus den Schulden rauszuschreiben. „Heutzutage sind Religion und Unmoral die einzigen Dinge, durch die man ein Buch verkaufen kann“, schrieb er seiner Frau. Er wusste genau, was er seinen zukünftigen Lesern liefern wollte: „Blut und Verbrechen“. „Die vier Gerechten“ lautete der Titel seines ersten Werks von 1905. Mit einem Trick wollte er Käufer anlocken: Er setzte Preisgelder von insgesamt 500 Pfund für diejenigen Leser aus, die den kniffligen Fall zu lösen vermochten. Wie konnten die Mörder den britischen Außenminister töten, der sich in einem schwer bewachten Raum aufhielt und den niemand betreten hatte?

Wallace bewarb das Buch mit einer gewaltigen Kampagne: „Zusätzlich zu der Anzeigenwerbung“ habe er, so gab er an, „tausend riesige Plakate bestellt, die etwa die Größe einer Wohnzimmerwand haben“. Der Krimi verkaufte sich tatsächlich hervorragend. Zu Wallaces Leidwesen hatte er bei seinem Preisausschreiben allerdings vergessen zu erwähnen, dass jeder Geldgewinn nur einmal zu vergeben war. So stapelten sich bald die richtigen Lösungen. Zu guter Letzt musste ihm seine Zeitung, die Daily Mail, finanziell aushelfen. Weil Wallace das Blatt zudem durch Fehler in seinen Artikeln viele Tausend Pfund an Schadenersatz kostete, endete die Zusammenarbeit bald.

circa 1901: Als Korrespondent (2. v.r. sitzend) in Afrika. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/dd3a76cd-0001-0004-0000-000000825021_w920_r1.2622377622377623_fpx45.12_fpy52.98.jpg

Im Hause Wallace ging der Gerichtsvollzieher ein und aus. Schmuck und andere Wertgegenstände waren bald zu Geld gemacht, trotzdem legte sich der Schriftsteller keinerlei Beschränkung auf. „Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten“, klärte er seine Frau auf, „aber wenn ich darauf warten will, dass ich mir etwas leisten kann, werde ich nie etwas bekommen.“ Er spielte leidenschaftlich gerne, verzockte hohe Summen auf der Pferderennbahn und gönnte sich jeglichen Genuss. Beispielsweise einen cremefarbenen Rolls-Royce und später einen eigenen Rennstall. Am Ende verschaffte ihm sein Talent Ruhm – und Geld. Mit dem 1911 erschienenen Afrikaroman „Sanders vom Strom“ wurde er noch bekannter, er war der erste Roman einer 11-teiligen Serie. Der Bestseller half ihm zugleich, seine Reputation als Journalist wieder zu erlangen.

Daneben brachte er mit zwei eigene Rennsport-Blätter heraus und gründete, um die Arbeit zu bewältigen, ein Schreibbüro. Zum Personal gehörte auch seine spätere zweite Frau, Ethel Violet King, die er zwei Jahre nach seiner Scheidung 1919 heiratete. Das Büro war nötig geworden, da er die einträgliche Krimi-Produktion im Akkord aufgenommen hatte. Der körperlich immer träger und korpulenter werdende Wallace schrieb seine Geschichten nicht mehr selbst auf, sondern diktierte sie seinem Sekretär, der auch die zahlreichen Fehler zu korrigieren hatte. 1921 unterschrieb er einen Vertrag bei Hodder and Stoughton und ließ in Folge alle neuen Romane von diesem verlegen. Wallace wurde zum „King of Thrillers“ aufgebaut und mit dem Slogan „Es ist unmöglich, nicht von Edgar Wallace gefesselt zu sein“ vermarktet. Er arbeitete häufig an mehreren Geschichten gleichzeitig.

„Ich bin völlig blank“

Durch seine Phantasie revolutionierte er den modernen Thriller, indem er den erzählenden und sensationsheischenden Stil der Daily Mail auf seine Werke anwandte, weiterentwickelte und sich immer spektakulärere Mordmethoden ausdachte. Etwa im Fall von Charles Creager, der 1923 durch einen Pfeil starb – abgefeuert vom „Grünen Bogenschützen“. Oder in dem des ehrenwerten Inspektors Genter, den 1925 ein als „Frosch mit der Maske“ verkleideter Schurke mittels Blausäure ins Jenseits beförderte. Frauen und Männer, Reiche und Arme, Ehrliche und Ganoven – er ließ sie alle sterben, ermordet in freier Natur, in verrufenen Schlössern, in heruntergekommen Hafenspelunken oder den besten Vierteln Londons. Seine Bücher beinhalteten Elemente der Komödie und des Science-Fiction-Romans, des Liebesromans und der Kriegsgeschichte.

King Kong und die weiße Frau. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/716881ec-0001-0004-0000-000000825006_w920_r1.296793002915452_fpx46.23_fpy49.98.jpg

In dieser Phase wurden seine Romane zu Zehn-, ja Hunderttausenden verkauft. 1928 wurde geschätzt, dass mit Ausnahme der Bibel eines von vier in England gedruckten und verkauften Büchern von Edgar Wallace geschrieben wurde. Einer von Wallace berühmtesten Krimis wurde „Der Hexer“ (Original: „The Gaunt Stranger“), der als Theaterstück unter dem Namen „The Ringer“ am 1. Mai 1926 mit dem britischen Schauspieler Gerald du Maurier uraufgeführt wurde und ein großer Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Manchmal wurden zwei oder drei Theaterstücke von Wallace in London gleichzeitig aufgeführt; insgesamt 120 wird er zeitlebens geschrieben haben. Kritik an seinen in Windeseile produzierten Geschichten ließ Wallace kalt. „Ich schreibe keine guten Bücher“, erklärte er einmal einem amerikanischen Reporter. „Ich schreibe Bestseller.“ Bizarre Morde, spannende Plots und die Verheißung auf eine baldige Neuerscheinung ließen die Schwächen in Charakterentwicklung und Aufbau schnell vergessen.

Sein Stil hatte Einfachheit, Kraft und Tempo, aber es war die Vielfalt und Originalität seiner Handlungen, die zusammen mit seinem enorm produktiven Schaffen seinen Ruf begründeten. Kinder liebte der berühmte Schriftsteller über alles. Wallace war auch für seine Großzügigkeit bekannt. So unterstützte er eine Theaterkassiererin, deren Kind an Tuberkulose erkrankt war und nahm die beiden mit in den Familienurlaub. 1923 wurde er in den Vorstand des Londoner Presseclubs berufen, wo er nach einigen Jahren einen Fonds für mittellose Journalisten einrichtete. In Hollywood, wo er 1931 für das Drehbuch zu „King Kong“ engagiert wurde, sollte ein neuer Markt erschlossen werden. Eigentlich wäre der Schriftsteller lieber in Großbritannien geblieben. „Es hat keinen Zweck“, klagte er verzweifelt. „Ich bin völlig blank und muss einfach hinüber.“ Seine Heimat sah er ebenso nie wieder wie er den fertigen Streifen je vor Augen bekam. Er schlief in seinem Bett ein. In der Londoner Fleet Street, in der die meisten Zeitungen der Hauptstadt ansässig waren, wurden nach der Überführung seiner Leiche in die Heimat die Flaggen auf Halbmast gesetzt und die Kirchenglocken geläutet.

Nachdem der Wilhelm Goldmann Verlag 1952 „Der Frosch mit der Maske“ als Goldmanns Taschen-Krimi Band 1 herausgab, erwarb der dänische Filmproduzent und Rialto-Chef Preben Philipsen die Filmrechte. 1959 produzierte er den Film, der sich zu einem großen Überraschungserfolg entwickelte. Rialto erwarb daraufhin die Exklusivrechte fast aller Wallace-Romane und begründete in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Boom mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ und den Geräuschen mehrerer Schüsse eingeleitet. Hauptregisseur mit 12 Filmen war Alfred Vohrer, dessen leicht übertriebene Schauspielführung und die pointierte Schnitt- und Zoomtechnik Maßstäbe setzten. Harald Reinl inszenierte fünf Streifen.

Eine Verfilmung mit dem frühen Kinski. Quelle: https://assets.deutschlandfunk.de/FILE_05a4a891e5ef26da32f059f9f87fee3b/1920×1080.jpg?t=1597485763206

Der Erfolg der aufwendigen, handwerklich hochstehenden Produktionen wird zurückgeführt auf das immer auch komische, extravagante Spiel mit dem Grusel und die erstklassigen Besetzungen mit dem Who is Who des bundesdeutschen Nachkriegskinos, die für viele Jungschauspieler zugleich Karrieresprungbrett wurden. Oft stellte Klaus Kinski einen Kriminellen oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern gehörten Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Werner Peters, Heinz Drache oder Karin Dor; viele Stars wie Gert Froebe, Klausjürgen Wussow, Wolfgang Völz, Hans Clarin, Hubert von Meyerinck, Karin Baal, Lil Dagover oder Elisabeth Flickenschildt hatten Gastauftritte. Sowohl Otto als auch Bastian Pastewka versuchten sich seit den 90ern an komödiantischen Persiflagen (bspw. „Der WiXXer“ 2004). Das Archiv des deutschen Kriminalfilms stiftet seit 1999 den Edgar-Wallace-Preis für besondere Verdienste um den Kriminalfilm.

„Dass sie lebendig und geistreich, etwas zu aufgeregt war, wie oft bezeugt ist, machte sie ein wenig zur Außenseiterin. Sie wirkte dem ganz entschlossen und mit aller Klugheit entgegen, wollte sich nicht vom ‚Leben’ ausgeschlossen wissen. Sie sang und komponierte, Lieder wie Singspiele, sie entwarf Szenen und Stücke, leitete Gesellschaftsspiele an, schien über einen Überschuss an Kraft und Begabung zu verfügen, was die standesgemäßen Freier nicht eben anzog.“ Alexander von Bormann hätte im DLF noch hinzufügen können, dass sie daneben die einzige Schriftstellerin ist, die in keiner deutschen Literaturgeschichte fehlt, und eine der wenigen Frauen, deren Porträt einen deutschen Geldschein zierte, nämlich bis 2001 die grüne 20 DM-Note: Annette von Droste-Hülshoff, die am 10. Januar vor 225 Jahren zur Welt kam.

Geboren als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff auf der gleichnamigen Wasserburg als zweites von vier Kindern eines Gutsherrn, setzte sie die Tradition ihres urwestfälischen Adelsgeschlechts in der 20. Generation fort. Bedingt durch ihre frühe Geburt, galt sie als kränklich, war nur ca. 1,50 m groß und zierlich, extrem kurzsichtig, hatte auffällig wirkende Augen und litt oft unter Kopfschmerzen. Das hinderte das wissbegierige Kind nicht daran, eine Bildung zu erwerben, die für die damalige Mädchenerziehung außergewöhnlich war und neben Literatur in lateinischer, griechischer, französischer und englischer Sprache auch geschichtliche, geografische und naturkundliche Kenntnisse umfasste. Dabei wurde sie zusammen mit ihren Geschwistern zunächst von ihrer gebildeten Mutter, dann von einem Hauskaplan und späteren Gymnasialprofessor und von einer französischen Kinderfrau unterrichtet.

Dichtung war ihr als Talent in die Wiege gelegt worden, so sah sie früh ihre Berufung als Dichterin und ließ sich darin nicht beirren. Auf Initiative ihrer Eltern wurde 1812 bis 1819 von Anton Matthias Sprickmann unterrichtet und gefördert, der dem Göttinger Hain nahestand und dessen Lustspiel „Der Schmuck“ in Weimar von Goethe höchstselbst inszeniert wurde. Eine Beziehung zu dem bürgerlichen Göttinger Jurastudenten Heinrich Straube in den Jahren 1819 und 1820 ging auf familiäres Betreiben in die Brüche, was sie traumatisiert hinterließ. Damit waren wohl auch das Denken und die Vorstellungen der künftigen Dichterin in das Konservative gerichtet, das sie auch in ihren Werken äußerte. Sie schloss sich der Familie an, indem sie vor allem ihre Mutter auf Reisen ins Münsterland, ins Paderborner Land und ins Rheinland begleitete, aber auch zensorische Eingriffe in ihre Werke durch ihren Bruder duldete. Von den Reisen brachte sie vielfältige literarische Anregungen mit.

Die junge Freiin. Quelle: https://www.schumann-portal.de/tl_files/img/RobertSchumann_Die_Dichter/Annette_von_Droste_zu_Huelshoff.JPG

In dieser Zeit hatte sie begonnen, einen Zyklus von geistlichen Liedern auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zu verfassen. Vor dem Hintergrund der Straube-Affäre gerieten ihre Texte zum persönlichen Bekenntnis, erst zwanzig Jahre später konnte sie das „Geistliche Jahr“ vollenden. Nach dem Tod des Vaters 1826 zog Annette mit Mutter und Schwester auf den Wohnsitz Haus Rüschhaus nahe Münster und verlegte sich für einige Zeit auf ihr zweites Talent, die Musik; sie sang und arbeitete an den Opernprojekten „Babilon“ und „Der blaue Cherub“ und korrespondierte mit dem Ehepaar Schumann. Erst 1877 kam ihr Wirken als Komponistin ans Licht, als Christoph Bernhard Schlüter einige Lieder aus dem Nachlass veröffentlichen ließ.

„Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen“

In den 1830er Jahren erweiterte sie allmählich ihren Gesichtskreis, insbesondere durch Reisen nach Köln und Bonn sowie in die Schweiz, aber auch den Besuch vieler Gesprächsrunden, auf denen sie die Bekanntschaft etwa von Adele Schopenhauer, Goethes Schwiegertochter Ottilie oder August Wilhelm Schlegel machte. In literarischer Hinsicht beschäftigte sie sich mit der Abfassung von Versepen, die einerseits formal wie inhaltlich dem Zeitgeschmack verpflichtet waren, andererseits ein eigenes, originelles Erzählen dokumentieren, das die üblichen Genregrenzen überschreitet. Mit dem Erscheinen der Gedichtausgabe von 1838, die weitgehend unbeachtet blieb, schließt sich die erste größere Schaffensphase.

Annette ist bereits 41 Jahre alt, eine einsame, unverstandene Frau. Selbst ihre Mutter legt das Buch einfach in den Schrank und verliert kein Sterbenswörtchen darüber. Damals verkauft sich der Gedichtband gerade 74-mal. Im Jahr zuvor hat sie den 15 Jahre jüngeren Levin Schücking kennengelernt, einen Juristen, den sie als „Seelenfreund“ bezeichnete und mütterlich liebte. Seit dieser Zeit verschiedentlich, ab 1841 dann nahezu ständig lebte sie bei ihrer Schwester auf Schloss Meersburg. Sie hatte dort eine abgetrennte Wohnung, zu der auch ein Turm gehörte – heute eine Gedenkstätte – von dem aus sie einen weiten Blick über den Bodensee genoss. Dort hielt ihr ihre Schwester den Rücken frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, andererseits war sie in deren Familie geborgen, zu der auch zwei Zwillingskinder gehörten. Sie und ihr Schwager Joseph von Laßberg schätzten sich zwar, er und die bei ihm verkehrenden Germanisten und Historiker lebten allerdings geistig „in einer anderen Welt“, wie sie meinte. In Meersburg fand die Droste die Balance zwischen Gesellschaft und Einsamkeit. Sie fühlte sich dort freier von Konventionen.

Wohnung auf Meersburg. Quelle: Von –Parpan05 07:22, 5 August 2006 (UTC) – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1019655

1842 erschien ihre Novelle „Die Judenbuche“, die Droste in der literarischen Öffentlichkeit ein wenig mehr Gehör verschaffte. Mit der Geschichte des Friedrich Mergel, der viele Jahre nach dem Mord an einem Juden am Ort der Tat in einer Buche erhängt aufgefunden wird, war ihr ein „Sittengemälde” gelungen, das mit fast naturalistischer Detailschärfe einen Ausschnitt westfälischer Lebenswelt spiegelt. Doch die Judenbuche ist mehr als eine Milieustudie; sie ist gleichzeitig Kriminalgeschichte und Psychogramm, eine Erzählung, die durch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit letztlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Der Text wurde in viele Weltsprachen übersetzt, verfilmt und dreimal vertont, darunter zweimal als Oper.

Die der „Judenbuche“ sekundierenden erzählerischen Versuche, die Fragmente „Ledwina“ (1819–24) und „Joseph“ (1844–45), lassen bei aller Unvollkommenheit die hohe Berufung ihrer Urheberin erkennen; noch mehr das Bruchstück eines Romans „Bei uns zu Lande auf dem Lande. Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz“ (1841–42). Viel Stoff aus dem unvollendeten Buch verwendete sie in den etwa gleichzeitig und wohl als Ersatz geschriebenen „Bildern aus Westfalen“ (1845). „Dieser Essay hat an Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen sowie an Wissen um volkskundliche Einzelheiten kaum seinesgleichen in jener heimatentdeckungsfrohen Zeit“, befindet ihr Biograph Ernst Alker. Vor allem wegen dieser Texte wird sie bis heute als die Dichterin Westfalens wahrgenommen.

Schücking wurde schließlich zu ihrem „Gedichtbefreier“: Angespornt durch ihn gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer bekannten Texte enthält, so „Das Spiegelbild“, „Am Thurme“ oder die heimatbezogenen „Haidebilder“ mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur. Heute spricht man von „Natur- und Bekenntnislyrik“, in der die sinnliche Erfahrbarkeit und der unheimliche Aspekt der Natur miteinander wechselwirken, wie vor allem „Der Knabe im Moor“ zeigt.

„ein Tropfen Wohlgeruch gepresst“

Schücking blieb auch später Anreger neuer literarischer Texte, doch gelang es Droste aufgrund beständiger Krankheiten immer seltener, ihren Pegasus zu satteln. Durch Schückings geschickte Verhandlung mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erhielt Droste erstmals ein ansehnliches Honorar für den Abdruck der Judenbuche im Morgenblatt für gebildete Stände. Hiervon erwarb sie 1843 das Fürstenhäusle oberhalb Meersburgs mit einem kleinen Weinberg – das sie aufgrund zunehmender Krankheit aber nicht mehr oft genießen konnte. Schückings weitere berufliche Entwicklung, seine Heirat einer Dichterin und die Veröffentlichung des adelsfeindlichen „Die Ritterbürtigen“ traf sie ebenso empfindlich wie die Indiskretionen über den Adel, die er darin nach ihren Gesprächen verarbeitete. So kam es – auch auf Druck ihrer Familie – zum Bruch mit ihm, was sie wiederum tief verstörte.

Das Fürstenhäusle. Quelle: Von –louisana – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=186136

Ihr spätes Schaffen beschränkt sich auf das Führen ihrer umfangreichen Korrespondenz, die sie seit der Jugend pflegte, sowie die Fragmente „Joseph. Eine Kriminalgeschichte“ sowie „Bei uns zu Lande auf dem Lande“, die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Am Nachmittag des 24. Mai 1848 verstarb sie vermutlich an einer Lungenentzündung auf Schloss Meersburg; in dem Städtchen ist sie auch begraben. In ihr vermischten sich weibliches und männliches Empfinden, was ihr „jedes Gefühl zwiespältig, fragwürdig und peinigend“ machte, vermutet Alker. „So blieben ihr unmittelbare Glücksmöglichkeiten des Daseins verschlossen.“ Droste dichtete selbst:

„Wär ich ein Jäger auf freier Flur / Ein Stück nur von einem Soldaten, // Wär ich ein Mann doch mindestens nur / So würde der Himmel mir raten; // Nun muss ich sitzen so fein und klar / Gleich einem artigen Kinde, // Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde!“

Ihre Lyrik gehört noch der Romantik, die Judenbuche aber schon dem Realismus an. „Nie zuvor wurde in deutscher Poesie unter Vermeidung der herkömmlichen, abgegriffenen ‚poetischen‘ Mittel sowie der melodischen Reize der Wortmusik, durch Heranziehung des Sprachschatzes des Alltags, der Mundart und der Wissenschaft mit größerer lyrischer Vollkommenheit Natur mit jeder ihrer Formen und Erscheinungen in Worte gefasst“, bilanziert Alker fast enthusiastisch. Ricarda Huch würdigt sie so: „Die Dichtung der Annette ist in Wahrheit eine VerDichtung: Aus tausend Blumenblättern ist ein Tropfen Wohlgeruch gepresst.“ Mit Schiller’schem Pathos nahm Droste gar Nietzsche vorweg:

„Mein Haupt nicht wagt‘ ich aus dem Hohl zu strecken/Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken // Wie Neues quoll und Altes sich zersetzte / War ich der erste Mensch oder der letzte?“

Die Droste auf dem letzten 20-DM-Schein. Quelle: https://www.fembio.org/images/uploads/897/434952.jpg

Mit den Zeilen „Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, antizipierte sie gar ihre Rezeption. Ihre „Entdeckung” hat die Autorin dem Umstand zu verdanken, dass man sie im Kulturkampf der 1870er Jahre zur Galionsfigur stilisierte und sie kurzerhand, versehen mit den Attributen „katholisch” und „westfälisch”, zur „größten deutschen Dichterin” erklärte. Bis in die heutige Zeit wird sie nicht nur im Schulunterricht gelesen, sondern inspirierte ihr Leben und Werk auch zeitgenössische Autoren und besonders Autorinnen, darunter Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen, Sarah Kirsch oder Karen Duve. Ein Brief von ihr an Sprickmann aus dem Jahr 1819 wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufgenommen. Die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes bietet Ansatzpunkte für psychologische und parapsychologische Interpretationen, aber auch für Fehldeutungen im Lichte zeitgenössischer Ideologien. Die Droste bleibt letztlich ein nie ganz ausschöpfbares geniales Dichterphänomen.

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