Feeds
Artikel
Kommentare

„Ja, er hat viele politische Fehler gemacht. Seine Ideen, seine wirtschaftlichen Ideen waren richtig, aber er konnte diese Ideen den Menschen in Deutschland nicht beibringen oder, sollen wir mal sagen, nicht verkaufen. Die Unterstützung für die soziale Marktwirtschaft war eher schwach und fußte nur auf dem Wohlstand, den sie den Menschen gebracht hatte, nicht auf einem tieferen Verständnis ihrer Grundsätze.“ Diese Einschätzung seines Biographen Alfred C. Mierzejewski im DLF wurde von Ex-Linken-Vize Sara Wagenknecht 2013 instrumentalisiert: Er wäre bei uns mit seinen Ansprüchen am besten aufgehoben, schrieb sie in „Freiheit statt Kapitalismus“, und Leute wie er hätten „vor genau jener Fehlentwicklung gewarnt, deren Konsequenzen wir heute erleben“: Ludwig Erhard, dessen 125. Geburtstag sich am 4. Februar jährt.

Der Sohn eines Einzelhandelskaufmanns wuchs mit drei Geschwistern auf, durchlitt mit zwei Jahren eine Kinderlähmung, die ihm einen deformierten Fuß bescherte, und begann nach dem Besuch der Realschule in Fürth 1913 eine kaufmännische Lehre. Im Ersten Weltkrieg Artillerist, wurde er 1918 bei Ypern durch eine Handgranate schwer verwundet und genas erst nach sieben Operationen. Dies habe er laut Biographen körperlich, aber nicht seelisch verarbeitet. Nach dem Krieg nahm er ein Studium an der Handelshochschule in Nürnberg auf, das er 1923 mit dem Diplom beendete. Im selben Jahr heiratete er die verwitwete Volkswirtin Luise Schuster, die aus erster Ehe eine Tochter hatte. Beide bekamen eine weitere Tochter. Er schrieb er sich an der Universität Frankfurt für Betriebswirtschaftslehre, Nationalökonomie und Soziologie ein und promovierte im Jahr darauf mit einem währungspolitischen Thema.

Ludwig Erhard mit seinem Bestseller. Quelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5448680

Von 1925 bis 1928 arbeitete Erhard als Geschäftsführer im elterlichen Betrieb – der allerdings in Konkurs ging. Danach wurde er Assistent beim Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule in Nürnberg und wirkte als ökonomisch-politischer Publizist. Er schrieb gelegentlich in der linksliberalen Wochenschrift Das Tage-Buch gegen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des späteren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht an und forderte in einem Aufsatz die Regierung auf, den Missbrauch durch Kartelle und Monopole, insbesondere der Investitionsgüterindustrie, zu unterbinden; statt dessen sollte die Verbrauchsgüterproduktion gefördert werden. Im Gegensatz zum damals vorherrschenden Protektionismus trat er für eine Wettbewerbswirtschaft und freie Marktpreisbildung ein. Seit 1930 war das Zigarrenrauchen Erhards Markenzeichen – er soll immer Zigarren vom Witzenhäuser Hersteller Leopold Engelhardt geraucht haben, weshalb ihm die Stadt ein Denkmal spendierte.

Kriegsniederlage vorausgesehen

Die Arbeit am Institut, aus dem sowohl die Nürnberger Akademie für Absatzwirtschaft (NAA) und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK e. V.) entstanden, verlieh Erhard den Ruf eines Wirtschaftsspezialisten. Dazu trug auch bei, dass er bis 1940 die „Wirtschaftspolitischen Blätter der deutschen Fertigindustrie“ redigierte. Im Auftrag der deutschen Zivilverwaltung betreut Erhard von 1940 bis 1945 die lothringische Glasindustrie. Nach einem Konflikt mit der Institutsleitung verließ er 1942 die Einrichtung, um sein eigenes Forschungsinstitut zu gründen. Hier tat er sich 1944 mit einer wirtschaftspolitischen Denkschrift zur Neuordnung Deutschlands nach der Kriegsniederlage hervor, die Erhard voraussah und die damals als Hochverrat gewertet werden konnte.

Die Denkschrift, die er kurz vor dem 20. Juli auch an Carl Goerdeler gesandt hatte, bescherte ihm nach Kriegsende die Ernennung zum Wirtschaftsberater der amerikanischen Militärbehörden in Nürnberg. Erhard war nun für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Franken verantwortlich und wurde noch im Herbst 1945 als Staatsminister für Handel und Gewerbe in die bayerische Landesregierung aufgenommen. 1947 schien ihm eine Honorarprofessur an der Universität München endlich die wissenschaftliche Karriere zu eröffnen, doch folgte er dem Ruf der amerikanischen Besatzungsmacht in die Zweizonenverwaltung für Wirtschaft in Frankfurt. Hier leitete er die Vorbereitung der westdeutschen Währungsreform und stieg im März 1948 zum Leiter der Zweizonenverwaltung für Wirtschaft auf. Die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark löste einen überraschenden Wirtschaftsaufstieg aus.

1949 zog er für die die CDU erstmals ins neue westdeutsche Parlament ein und stand bis 1963 als wiederholter Bundeswirtschaftsminister unter Kanzler Adenauer für die wirtschaftspolitische Kontinuität und den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik zur führenden Industrienation. Erhard glaubte fest an den freien Markt und unterstützte staatliches Handeln im Einklang mit dem Markt, um sozialwünschenswerte Ziele zu erreichen: „Die Schwierigkeit lag, wie er wohl wusste, in der Definition dessen, was sozial wünschenswert ist“, erkennt Mierzejewski. „Ludwig Erhard könnte man als Lehrer ansehen. Er wollte die deutsche Bevölkerung über diese Ideen von Freiheit und eine freie Marktwirtschaft informieren und hoffentlich überzeugen. Aber als Theoretiker war er eigentlich ziemlich schwach.“

Erhard als Minister in Bayern. Quelle: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wirtschaft/geschichte_der_d_mark/portraetdmwohlstandgjpg100~_v-gseapremiumxl.jpg

In seinem populären Buch „Wohlstand für Alle“ (1957) legte Erhard seine Vorstellungen allgemeinverständlich dar. Er trat für die Liberalisierung des Außenhandels und für die Konvertierbarkeit internationaler Währungen ein, was ihm auch in den eigenen Reihen den Ruf eines Dogmatikers einbrachte. Obwohl 1957 noch unter der dritten Regierung Adenauers zum Vizekanzler nominiert, gestaltete sich das Verhältnis zu ihm politisch schwierig und menschlich spannungsreich. „Er mochte Erhards lässige Kleidung nicht und missbilligte den Zigarrenrauch, mit dem sich Erhard gern einnebelte, ebenso wie die Zigarrenasche, die sich auf seinem Revers ansammelte“, so Mierzejewski. „Erhards Alkoholkonsum betrachtete er als moralischen Affront. Und schließlich war ihm Erhards Hang zum Selbstmitleid unerträglich.“

Adenauers Hauptvorwürfe waren häufige Abwesenheit, mangelnde Kontrolle des Ministeriums und unbedachte Reden. Seine Anhänger wurden scherzhaft „Brigade Erhard“ genannt – nach einer Marineeinheit aus dem Kapp-Putsch von 1920. Einer der Höhepunkte der Differenzen zeigte sich bei der Rentenreform 1957, die Adenauer mit seiner Richtlinienkompetenz als Kanzler durchsetzte. Das seitdem bestehende Umlageverfahren („Generationenvertrag“) lehnte Erhard als nicht zukunftsfähig ab. Adenauer setzte sich jedoch mit dem bekannten Ausspruch „Kinder kriegen die Leute sowieso“ über diese Bedenken hinweg. Weitreichende Entscheidungen aus seiner Zeit als Wirtschaftsminister waren die Neuordnung des Kartellrechts mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957, das Bundesbankgesetz aus dem gleichen Jahr sowie die Privatisierung von Unternehmen, die sich bis dahin noch im Staatsbesitz befanden wie die Preussag AG 1959 oder die Volkswagen AG 1960, wobei die Anteile jedes Mal als Volksaktien erworben werden konnten.

„kein Abschied von der Politik“

Seit dem Bundestagswahlkampf von 1961 zum voraussichtlichen Kanzler-Nachfolger gekürt, wurde Ludwig Erhard nach dem Rückzug Konrad Adenauers am 16. Oktober 1963 zum neuen Bundeskanzler gewählt. 1964 ließ er im Park des Palais Schaumburg den Kanzlerbungalow als Wohn- und Empfangsgebäude des Bundeskanzlers erbauen. Als Atlantiker, der den Beziehungen zu den USA gegenüber denen zu Frankreich Vorrang gab, warf man ihm aus den Reihen der CDU vor, er sei für eine Abkühlung der deutsch-französischen Beziehungen verantwortlich. Erhard veranlasste – ohne formelle Kabinettsentscheidung – die Aufnahme von Verhandlungen zur Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel, die im Mai 1965 abgeschlossen wurden; es war die einzige Richtlinienentscheidung seiner Amtszeit. Nach dem Botschafteraustausch brachen zahlreiche Nahost-Staaten die Beziehungen zur Bundesrepublik ab.

Um seinem rasanten Autoritätsverlust entgegenzuwirken, lässt er sich 1966 zum CDU-Vorsitzenden wählen – umsonst. Das Devisenausgleichsabkommen, mit dem die Kosten für die Stationierung der US-Truppen auf deutschem Boden ausgeglichen werden sollten, brach ihm das politische Genick. Während in den ersten beiden Adenauer-Abkommen die Erfüllung der Forderungen unter deutschem Haushaltsvorbehalt standen, verpflichtete sich Erhard zur vorbehaltlosen Zahlung. Als Deutschland die nicht termingerecht abwickeln konnte, versuchte Erhard in Washington bei US-Präsident Lyndon B. Johnson Zugeständnisse zu erreichen; die Reise wurde ein völliger Fehlschlag. Daraufhin trat der Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Walter Scheel (FDP) zurück, die übrigen FDP-Minister schlossen sich an. Am 1. Dezember 1966 tritt Erhard als Bundeskanzler zurück.

Adenauer und Erhard. Quelle: https://www.fr.de/bilder/2008/06/13/11590400/527347177-898178-156b.jpg

„Der Kanzlerwechsel ist für mich kein Abschied von der Politik. Sie werden mir auch in Zukunft aktiv im politischen Leben dieses Staates begegnen“, sagte er zum Abschied. Sein Nachfolger wird Kurt Georg Kiesinger mit einer Regierung der Großen Koalition. Die CDU nahm ihm übel, dass er ein Kanzler ohne Fortüne geblieben war. Seine Glücklosigkeit hatte sich sowohl in der Außen- wie in der Wirtschaftspolitik gezeigt. Mit dieser fand der Wirtschaftsfachmann Erhard kein Rezept gegen die Rezession und den damit verbundenen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Erhards politische Aktivität spielte sich noch elf Jahre hauptsächlich auf den Hinterbänken des Bundestages ab. Zweimal durfte er die Legislatur als Alterspräsident eröffnen.

Bei zahlreichen Gelegenheiten äußerte er sich weiter zu wirtschaftspolitischen Fragen und tat sich in der Öffentlichkeit als Gralshüter der sozialen Marktwirtschaft hervor. Erhard genoss die Ehrenbürgerschaft von Tokio, Lima, Houston, Bonn und Ulm und besaß zahlreiche in- und ausländische Ehrenpromotionen. 1967 gründete er die Ludwig-Erhard-Stiftung, die seine wirtschaftswissenschaftlichen und Wirtschaftsordnungs-Vorstellungen wissenschaftlich und publizistisch weiter pflegen sollte. Ludwig Erhard starb am 5. Mai 1977 in Bonn und wurde nach einem Staatsakt auf dem Bergfriedhof in Gmund am Tegernsee beigesetzt. In vielen deutschen Städten sind Straßen, Wege, Plätze oder Brücken nach ihm benannt.

Erfinder des Exportweltmeisters

In den Nachrufen wird als sein Verdienst gewürdigt, sich Deutschlands hoch entwickelter Ökonomie in den Fünfzigerjahren bedient und diese weltweit erfolgreich gemacht zu haben. Nach Albrecht Ritschl bestehe die große Leistung von Erhard „weniger darin, Reformen gestaltet zu haben – sondern darin, falsche Entscheidungen verhindert zu haben.“ Seine Zeit als Bundeskanzler wird jedoch oft als „glücklos“ gesehen, sein politisches Scheitern nicht zuletzt darauf zurückgeführt, dass ihm als „Quereinsteiger“ in die Politik Durchsetzungsfähigkeit fehlte und sein kollegialer Stil als Führungsschwäche ausgelegt wurde. „Erhard war ein Antipolitiker, der sich der Folgen, die sich aus seinen eigenen Anschauungen ergaben, nie ganz bewusst war. Er weigerte sich, dass politische Ränkespiel mitzuspielen, war aber nicht konsequent genug, ihm ein Ende zu setzen“, befindet Mierzejewski.

Statue in Witzenhausen. Quelle: https://www.hna.de/bilder/2020/02/14/13540574/1674834025-witzenhausen-stadtpark-ludwig-erhard-statue-2ma7.jpg

„Erhard hat schon in den frühen Fünfzigerjahren erkannt, dass die deutsche Wirtschaft mit ihrer führenden Stellung bei Investitionsgütern nicht nur den europäischen, sondern den Weltmarkt im Blick haben muss“, würdigt ihn der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser im Spiegel. „Daraus hat er die Strategie entwickelt, mit gezielter Unterstützung der Wirtschaftsverbände auch weit entfernte Märkte in Asien oder Lateinamerika zu erobern. Mit dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft heute 50 Prozent ihrer Exporte außerhalb der EU absetzt.“ Daher sei er weniger der Vater des Wirtschaftswunders als vielmehr der Erfinder des Exportweltmeisters. Er wollte aus Europa eine Freihandelszone machen und stand der wirtschaftlichen Integration Europas lange skeptisch gegenüber.

Wie eine Bombe schlug 2007 ein Stern-Interview mit Horst Friedrich Wünsche ein, Geschäftsführer der Erhard-Stiftung: „Er war nie Mitglied der CDU.“ Günter Buchstab, der Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, die das Parteiarchiv verwaltet, bestätigte: „Die Mitgliedschaft lässt sich aktenmäßig nicht nachvollziehen“, seines Wissens habe Erhard an die CDU auch „keine Beiträge gezahlt“ – obwohl er 28 Jahre für die Christdemokraten im Bundestag saß und bis zu seinem Tod 1977 gar Ehrenvorsitzender war. In Personenarchiven und deutschen Medien fand hatte die Version Aufnahme, Erhard sei anlässlich seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden am 23. März 1966 in die CDU eingetreten, wobei der offizielle Beitritt um drei Jahre auf 1963 rückdatiert worden sei. Das wurde nun dementiert. Erhard wäre damit formaljuristisch nie CDU-Vorsitzender gewesen und hätte auf keinem Parteitag an Abstimmungen teilnehmen dürfen. Ein Parteivorsitzender ohne gültige Mitgliedschaft – ein Kuriosum in der deutschen Parteiengeschichte.

„Trotzköpfchenhaft“ kommentierte Edo Reents in der FAZ, dass sich Angela Merkel zum Großen Zapfenstreich 2021 gerade ihren größten Hit „Für mich soll‘s rote Rosen regnen“ gewünscht hatte: „…sich nie den Mund verbieten lassen, es sollen andauernd Wunder geschehen und das Schicksal ganz, ganz lieb zu einem sein; lauter Dinge, die ein Anspruchsdenken verraten, wie man es von einer verwöhnten Göre erwarten mag, aber nicht von der Bundeskanzlerin.“ Die diesen Hit 1968 kurz nach der Geburt ihrer Tochter schrieb und 24 Jahre später mit der NDW-Band „Extrabreit“ erneut aufnahm und damit 22 Wochen die Charts anführte, starb am 1. Februar 2002: Hildegard Frieda Albertina Knef.

Geboren am 28. Dezember 1925 als Tochter eines flämisch stämmigen Tabakkaufmanns in Ulm, verliert sie ihren Vater 1926 durch Syphilis. Die Mutter zog mit ihrer Tochter nach Berlin und heiratete 1933 einen Lederfabrikanten. Ihre Kindheit war wenig glücklich. So heißt es in ihrer Autobiografie: „Da waren ewig neue, endlose, zahllose, familienzermürbende Krankheiten, Tropfen- und Tablettenströme. ‚Hilde ist dauernd krank’, hieß es. Da waren geschwollene Augen und Gerstenkörner, da waren die Gummibeine der Kinderlähmung, gebrochenes Schlüsselbein, das nicht heilen wollte, Rheuma, das meine Mutter und mich schlaflos machte.“

Mit 15 Jahren begann sie eine Ausbildung als Zeichnerin in der Trickfilmabteilung der UFA-Filmstudios. 1943 wurde UFA-Filmchef Wolfgang Liebeneiner auf sie aufmerksam verhalf ihr zu einer Ausbildung zur Schauspielerin. 1944 begann sie eine Affäre mit dem Reichsfilmdramaturgen Ewald von Demandowsky, um an Rollen zu kommen. Noch vor Ende des Krieges trat sie erstmals in Filmen auf (u. a. Unter den Brücken, 1944; Fahrt ins Glück, 1945), die erst nach dem Krieg Premiere feierten. Die traumatische Flucht der 20jährigen Jungschauspielerin aus dem zerbombten Berlin wird charakterbildend – als Mann verkleidet, in Soldatenuniform im russischen Gefangenenlager.

Die Knef. Quelle: Von Koch, Eric / Anefo – Nationaal Archief, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29112775

Sie spielte dann an der „Tribüne“ am Berliner Kurfürstendamm Pagnol und Shakespeare. Im ersten deutschen Nachkriegsfilm „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte hat Knef 1946 ihre erste Hauptrolle, eine ehemalige KZ-Insassin, die einen Kriegsheimkehrer davon abhält, einen unentdeckten Nazi-Schergen zu richten. In dem Film, der sie auch im Ausland berühmt macht, erlangt sie ihren Durchbruch als Charakterdarstellerin. Sie spielte weiter Theater und synchronisierte nebenbei sowjetische Filme für die DEFA. 1948 erhielt sie in Locarno den Festspielpreis als beste Schauspielerin für Ihre Rolle im „Film ohne Titel“. Am 1. August dieses Jahres war die Knef auf dem Cover der ersten Ausgabe der neuen Illustrierten Stern abgebildet und wurde zum ersten großen deutschen Nachkriegsstar. Anschließend kehrte sie Deutschland den Rücken, heiratete den amerikanischen Filmoffizier Kurt Hirsch, zog in die USA und wird amerikanische Staatbürgerin.

„So oder so ist das Leben“

1950 kehrte Knef kurz in die Bundesrepublik zurück, um die Schmonzette „Die Sünderin“ zu drehen. Durch Proteste der katholischen Kirche wurde der melodramatische Streifen, der die Tabus Prostitution und Suizid thematisierte und eine kurze Nacktszene Knefs beinhaltete, zu einem der größten Skandale im deutschen Nachkriegskino: mit Demonstrationszügen für und gegen den Film, verbarrikadierten Kinos, Filmverboten in zahlreichen deutschen und europäischen Städten sowie Klageverfahren bis hin zum Bundesverwaltungsgericht und zum Bundesgerichtshof. Die Sünderin wurde damals allein in der Bundesrepublik von über sieben Millionen Kinobesuchern gesehen. Im Zusammenhang mit dem Erfolg des Films veröffentlichte Knef im Oktober 1951 ihre erste Schallplatte „Ein Herz ist zu verschenken“.

Den Grundstein für ihre Laufbahn als Sängerin aber legen die Dreharbeiten zu „Schnee am Kilimandjaro“ (1952) an der Seite von Gregory Peck. Darin muss sie eine Cole Porter-Nummer singen, von der Porter so angetan ist, dass er ihr die Hauptrolle in seinem Broadway-Musical „Silk Stockings“ („Seidenstrümpfe“) nahe legt. Mit insgesamt 675 Vorstellungen als „Ninotschka“ erlangt sie Mitte der fünfziger Jahre den internationalen Durchbruch. Sie ist die einzige Deutsche, der es bisher gelungen ist, in einer Hauptrolle am Broadway zu debütieren. Selbst ihr Vorbild Marlene Dietrich, die seinerzeit in New York wohnt, besucht Vorstellungen und ist von ihr schwer begeistert. 1953 wurde ihre Ehe geschieden.

Knef signiert. Quelle: Von Croes, Rob C. / Anefo – Nationaal Archief 928-3210, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29087954

Nach einem Streit mit der 20th Century Fox kehrte sie 1957 nach Deutschland zurück. Nach dem Film-Flop „Madeleine und der Legionär“ verpönt, drehte sie in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren vornehmlich in England und Frankreich zum Teil in anspruchsvollen und auch erfolgreichen, doch überwiegend in mittelmäßigen Produktionen (z. B. La Strada dei Giganti). 1959 lernte sie bei Dreharbeiten in Großbritannien ihren zweiten Ehemann, den damals noch verheirateten David Cameron kennen, den sie drei Jahre später heiratete. Rollen in den Filmen „Die Dreigroschenoper“ und „Wartezimmer zum Jenseits“ verhelfen ihr zu weiterer Popularität, und so beginnt Knef mit großem Erfolg eine zweite Karriere als Chansonsängerin mit immer mehr eigenen Texten, die genau den richtigen Ton zwischen Ironie, einer Prise Weltschmerz und trotzigem Optimismus trafen.

1962 veröffentlicht sie das Debütalbum „So oder so ist das Leben“. Zehn weitere Soloalben und eine unüberschaubare Vielzahl an Samplern, Compilations und Best-Ofs legen bis heute ein beeindruckendes Zeugnis ihrer musikalischen Zeitlosigkeit ab. 1965 nimmt sie ihr zweites Album „Hildegard Knef spricht und singt Kurt Tucholsky“ auf. Bereits wenige Monate später etabliert sie sich mit „Ich seh die Welt durch deine Augen“ endgültig als intelligente Chansongöre. 1966 geht sie mit Günter Noris und seiner Big Band auf Tournee. 1968 wird sie als beste deutschsprachige Sängerin ausgezeichnet und erhält mehrere Goldene Schallplatten für über drei Millionen verkaufte Exemplare. Mit ihren eleganten Hosenanzügen gilt sie zunehmend als Trendsetter, ja Stilikone.

In kantig-schönen Zeilen wie „Das Glück kennt nur Minuten, der Rest ist Warterei“ fasst sie die kollektive Volksseele der Wirtschaftswunderzeit in Worte, die auch heute noch Gültigkeit besitzen. Ihr großes Plus: Man glaubt ihr, was sie singt. Wie keine andere schafft es Hildegard Knef, den Menschen aus den Herzen zu sprechen und dabei nahe und antastbar zu bleiben. „Ich kenne die heutige Zeit nicht sehr gut. Genauso wenig, wie ich damals meine Zeit kannte. Ich kenne nur mich und meine Reaktionen auf das, was um mich herum geschieht“, sagt sie in den 90er Jahren. Ihr Markenzeichen wird die rauchig-verruchte Stimme: „Die größte Sängerin ohne Stimme“ wurde sie von ihrer Jazz-Kollegin Ella Fitzgerald genannt. „Ich hatte nie den Ehrgeiz, gut zu singen“, sagte sie.

„Nein ich gebe niemals auf“

Die Platten der Knef wurden Bestseller, sie tourte mit erstklassigen Bands umjubelt durch deutsche Hallen: „Auf der Bühne kreuzte sie die berlinerische Koketterie von Claire Waldoff mit der beinahe schläfrigen Lakonie einer Marlene – aber glaubwürdig in ihrer eigenen Weltgewandtheit aus Los Angeles und dem Spaß an der ironischen Respektlosigkeit des Pop-Zeitalters“, befand Laf Überland im DLF. Ihre Lieder waren Lebensberatung, sie konnte den real existierenden Alptraum des Daseins in wunderleichte Lieder packen. Bei ihr ging es immer, herbe und sachlich, um das wirkliche Leben als Desaster – und wie man irgendwie doch durchkommt: „Aus dem ungewöhnlich geschnittenen, großen Mund ließ sie abgehackt Sätze purzeln, die manchmal hart und klar wie Kieselsteine klangen“, so Überland. 1968 kam ihre Tochter Christina Antonia durch einen Kaiserschnitt zur Welt. Sie selbst schwebte kurzzeitig in Lebensgefahr.

Die Knef singt. Quelle: https://cdns-images.dzcdn.net/images/artist/823c87438f5f6010897ee584e9aa8bec/500×500.jpg

1970 wird ein einschneidendes Jahr für die Berlinerin. Zunächst erscheint ihr ambitioniertes Album „Knef“, für das sie mit ihrem Langzeit-Arrangeur Hans Hammerschmid neue Wege geht und sich aus dem Chanson-Korsett löst. Das Publikum geht auf Abstand, das Album floppt. Doch Knef hat gar keine Zeit, darüber zu trauern, denn kurz darauf wird ihre Autobiografie „Der geschenkte Gaul“ zu einem Sensationserfolg, der eine Auflage von über drei Millionen Exemplaren erzielte, in 17 Sprachen übersetzt wurde und zum international erfolgreichsten Buch eines deutschen Autors seit 1945 avancierte. Statt Konzerte absolviert sie daher zahlreiche Lesungen, bevor sie ihr Schaffen aufgrund einer Krebsdiagnose für mehrere Jahre unterbrechen muss – 1973 wird sie operiert. Diese Erfahrungen verarbeitet sie in „Ich brauch‘ Tapetenwechsel“ (1972) und „Das Urteil“ (1975). Im selben Jahr wird ihre zweite Ehe geschieden.

Ihre Karriere als Chansonsängerin wird in zwei Fernseh-Produktionen dokumentiert: „Die Knef. Bericht über ein Konzert“ (1969) und „Hildegard Knef und ihre Lieder“ (1975). Es folgen schwere Jahre: Knef leidet unter der schweren Abhängigkeit der Morphium-Ersatzdroge Methadon und der Scheidung des zweiten Ehemanns David Cameron, der auch ihre Alben produzierte. Einen bitteren Kampf um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter Christina gewinnt die Musikerin. Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit drehte sie auch in diesen Jahren Filme, unter anderem „Jeder stirbt für sich allein“ nach dem Roman von Hans Fallada sowie mit Billy Wilder „Fedora“ (1978).

Bereits 1977 erhält Hildegard Knef den Bundesfilmpreis für ihr Lebenswerk. Im selben Jahr heiratete sie in dritter Ehe den 15 Jahre jüngeren Paul von Schell, einen ungarisch-amerikanischen Adeligen. Fünf Jahre später „flüchtete“ sie 1982 mit ihrem Mann und ihrer Tochter von Berlin nach Los Angeles. Nach dem Presserummel (Krankheit, Scheidungskrieg, Facelifting, Welttournee) war Knef für die nächsten Jahre im deutschsprachigen Raum abgeschrieben. Vorbereitet durch ein TV-Porträts mit dem Titel „Nein ich gebe niemals auf“, landete sie schon vier Jahre später mit einer Rolle im Musical „Cabaret“ am Berliner Theater des Westens einen weiteren Bühnenerfolg. Im Herbst 1989 kehrte sie endgültig nach Deutschland zurück. Es folgten verschiedene TV-Rollen, und Wim Wenders engagierte sie für seinen Film „In weiter Ferne, so nah“ (1993). „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ hieß dann eine Kino-Hommage über Hildegard Knef, die im Herbst 1995 in die Lichtspielhäuser kam.

„Es ist ein einsamer Kampf“

Sie fing an zu malen, Bücher schrieb sie sowieso immer weiter, und 1997 gab sie in Leipzig sogar ihr Debüt als Modeschöpferin von Modellen für aktive, ältere Frauen. 1999 betritt sie wieder ein Aufnahmestudio und feiert mithilfe von Trompeter Till Brönner ein Albumcomeback („17 Millimeter“), das mit einem German Jazz Award ausgezeichnet wurde. Nach der „Goldenen Kamera“ und dem „Echo“ (2000) folgt 2001 der Bambi für ihr Lebenswerk, das insgesamt 39 Filme, 11 Langspielplatten, drei Bücher und zahllose Gemälde umfasst. Sie starb in einer Berliner Spezialklinik an den Folgen einer akuten Lungenentzündung. Sie ruht auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in einem Ehrengrab der Stadt Berlin.

Ehrengrab in Berlin. Quelle: Von OTFW, Berlin – Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11699747

Schon 2002 gab die Deutsche Post im Rahmen der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ ihr zu Ehren eine Sonder-Briefmarke heraus. In Ulm wurden ein Platz und eine Straßenbahn nach ihr benannt, die Bahn taufte einen ICE auf ihren Namen. 2003 wurde die Musicalfassung ihrer Autobiografie, geschrieben u.a. von ihrem Ehemann Paul von Schell, mit großem Erfolg und bundesweitem Medienecho uraufgeführt. 2009 feierte die Kinoproduktion „Hilde“, eine Verfilmung von Knefs Autobiografie Weltpremiere, in der Hauptrolle war Heike Makatsch zu sehen. 2010 erhielt Hildegard Knef einen Stern auf dem Boulevard der Stars in Berlin. Anlässlich ihres 90. Geburtstages wurde das Tributealbum „Für Hilde“ veröffentlicht, für das insgesamt 19 Pop-Künstler (darunter Mark Forster, Die Fantastischen Vier und Johannes Oerding) Titel von ihr neuinterpretiert haben. Auf dem Album sind außerdem Lieder zu finden, die auf zuvor nicht veröffentlichten Texten basieren.

Es war Hildegard Knefs Markenzeichen und ihr Überlebensmittel, sich nie zu verbiegen und immer zu kämpfen. „Zu kämpfen ist es schon, wenn Sie ein Buch schreiben und alleine vor der Schreibmaschine sitzen. Es ist ein einsamer Kampf, auf der Bühne zu stehen, das heißt, für jeden Schauspieler, jeden Chansonsänger… Es ist ein harter Beruf, der viel abfordert von einem. Viel mehr als man ahnt“, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews 2001. Da sollten wir doch froh sein, dass sich Merkel gerade für dieses Lied entschieden hatte. Zur Wahl hätte aus dem Knef-Kanon auch „Von nun an ging’s bergab“ gestanden. Aber das hätte die Bevölkerung nur unnötig beunruhigt.

Der Liederfürst

Er hat sein Lebenswerk in 31 Jahren vollenden müssen, davon die letzten sechs unter der Syphilis, die auf vielfache Weise hineinwirkte in sein Leben und auch in seine Kunst. Der Kontrast zwischen ereignisarmem Lebenslauf und kurzfristigem, intensivem, unvorstellbar inspiriertem Schaffensprozess irritiert bis heute. Seine Produktivität ist absolut unfassbar. Er hat wohl 30 000 Stunden mit Komponieren zugebracht, selbst beim Schlafen seine Brille getragen, um Einfälle sofort notieren zu können. Wie mancher vor und nach ihm, sollte auch er nach seiner neunten Sinfonie sterben. Seine einzigartige Existenz innerhalb seiner Musik ging bis zum Unvermögen, ein konventionell-soziales Leben zu führen: „Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Componieren auf die Welt gekommen“, hat er zwei Jahre vor seinem frühen Tod geschrieben: Franz Schubert, der am 31. Januar vor 225 Jahren in Himmelpfortgrund bei Wien geboren wurde.

Er war das dreizehnte von zwanzig Kindern des örtlichen Schulmeisters – von seinen Geschwistern erreichten nur acht das Erwachsenenalter. Der Vater erkannte früh sein Talent und gab ihm mit fünf Jahren Violinunterricht, mit sechs Jahren bekam er von seinem älteren Bruder Ignaz Klavierunterricht, mit sieben vom Kapellmeister der Lichtentaler Pfarrkirche dann Orgelunterricht. An Sonn- und Feiertagen wurden in der Familie regelmäßig Streichquartettabende veranstaltet, bei denen sein Vater Violoncello, er selbst Viola und seine Brüder Violine spielten. Wegen seiner schönen Stimme wurde er im Oktober 1808 als Sängerknabe in die Wiener Hofmusikkapelle und in das kaiserliche Konvikt aufgenommen, Antonio Salieri war sein Lehrer und Förderer. Er wirkte nicht bloß als Solist im Gesang, sondern lernte als zweiter Violinist im Konviktorchester auch die Instrumentalwerke Haydns und Mozarts kennen.  

Seine erste Komposition, eine Klavierfantasie G-Dur zu vier Händen, ist auf den April 1810 datiert – er ist er einer der ersten, der gute Musik für Piano zu vier Händen schreibt. Als er sich besonders in Mathematik und Latein verschlechterte, kehrte er im Oktober 1813 ins elterliche Haus zurück – und komponierte seine Sinfonie Nr. 1 D-Dur. 1814 – er besuchte inzwischen eine Lehrerbildungsanstalt –wurde ein Schicksalsjahr für ihn. Neben seiner ersten Oper „Des Teufels Lustschloss“ sowie mehreren Liedern wie „Gretchen am Spinnrade“ (aus Goethes Faust) und „Der Taucher“ (nach Schiller) komponierte er seine Messe Nr. 1 F-Dur. Die Uraufführung am 25. September 1814 in der Lichtentaler Pfarrkirche war die erste öffentliche Aufführung eines seiner Werke.

Franz Schubert. Quelle: Von Wilhelm August Rieder, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=797711

Dabei wurde das Sopransolo von der 16-Jährigen Therese Grob gesungen – die zur unglücklichen Liebe seines Lebens werden sollte. Sie wirkte auch bei den ersten Aufführungen der nächsten Messen mit, Schubert widmete ihr ein Streichquartett. In seinen Erinnerungen zitiert Anselm Hüttenbrenner Schubert so: „Gut war sie, herzensgut. Drei Jahre hoffte sie, dass ich sie ehelichen werde; ich konnte jedoch keine Anstellung finden, wodurch wir beide versorgt gewesen wären. Sie heiratete dann nach einem Wunsch der Eltern einen anderen, was mich sehr schmerzte. Ich liebe sie noch immer, und mir konnte seitdem keine andere so gut und besser gefallen wie sie. Sie war mir halt nicht bestimmt.“ Schubert wird definitiv bindungsunfähig.

mit glitzernden Augen komponiert

Für zwei Jahre Schulgehilfe seines Vaters, erlebt er 1815 seinen „Liederfrühling“ mit der Komposition  von 150 Liedern. Im Herbst dieses Jahres soll er den „Erlkönig“ in die Hand bekommen, sofort „mit glitzernden Augen“ komponiert und noch am selben Abend aufgeführt haben. Er soll auch, nach einem langen Abend mit Freunden, etlichen Flaschen Wein und Zigarren, sich ans Pult gesetzt und „die Forelle“ geschrieben haben. Wahr an den Anekdoten könnte sein, dass Schubert  – wie Mozart – im Kopf komponierte und dann nur noch niederzuschreiben brauchte. Er hatte ja meist auch kein Piano zur Verfügung. 1816 wird Goethe das ihm zugesandte Liederheft unter anderem mit dem „Erlkönig“ und „Gretchen am Spinnrade“ ignorieren.

1818, mit 21 Jahren, will Schubert sein Leben als „Berufskomponist“ ganz der Musik widmen, was den zeitweisen Bruch mit seinem Vater nach sich zog. Zunächst wirkt er als Musiklehrer beim Grafen Esterházy in Zseliz (heute Ungarn). Für die Komtessen Marie und Caroline, die Töchter des Grafen, schrieb er vierhändige Stücke und Lieder und schuf seine Sinfonie Nr. 6 C-Dur. Während der ihm noch verbleibenden zehn Jahre lebt er in Wohngemeinschaften bei verschiedenen Freunden, zu denen er auch homosexuelle Beziehungen unterhalten haben soll, er galt als bisexuell. Seinen ersten Auftritt als Liedkomponist hatte er 1819 mit „Schäfers Klagelied“. Schubert wird Zentrum und Magnet kunstliebender Zirkel, der sogenannten „Schubertiaden“, die die musikalische Bürgerfamilie Sonnleithner zu seinen Ehren organisierte und die in ähnlicher, aber völlig anders organisierter Form noch immer stattfinden, so als Schubertiade-Festival in Vorarlberg.

Das große öffentliche Publikum blieb ihm eher verschlossen. Zu seinen Bewunderern gehörte unter anderem Franz Grillparzer oder Moritz von Schwind. Ermutigt von den Erfolgen versuchte Schubert nun, sich als Bühnenkomponist zu etablieren, wurde aber in seinen Hoffnungen enttäuscht. Sowohl „Alfonso und Estrella“ als auch „Die Verschworenen“ wurden vom Theater abgelehnt, „Fierrabras“ nach ersten Proben abgesetzt. Im Alter von 25 Jahren entdeckt er dann Symptome für Syphilis und wird im AK Wien behandelt, damals das modernste Krankenhaus Europas, wo er in ekel- und angsterregender Umgebung von Geschwürskranken die schönsten Müllerin-Lieder schreibt.

Therese Grob. Quelle: Von Heinrich Hollpein – Wien Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25446225

Die Symphonie Nr. 8 wird unvollendet bleiben und spiegelt seine Krankheit: Die zwei vorhandenen Sätze sind von eindringlicher emotionaler Spannung – Musik strahlenden inneren Lichts, gefangen in Traurigkeit und Einsamkeit. Werke wie die zwei Liederzyklen „Winterreise“ und „Schwanengesang“ sind auch in Beziehung zu seiner Krankheit zu sehen: Zeitlebens hat er eine Neigung gehabt zur Thematik von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Verlassensein, Einsamkeit, Tod und, alles umfassend, Wanderschaft: schicksalhafte Unstetigkeit, von der es Erlösung durch Liebe vielleicht, gewiss aber nur durch den Tod gibt. 1823 entsteht die beliebte „Rosamunde“-Musik, 1824 „Der Tod und das Mädchen“.

Auch in den nächsten Jahren arbeitete Schubert unermüdlich und produzierte zahlreiche Kompositionen. Es entstanden Werke wie der Liederzyklus „Die Winterreise“, der einen Gipfel in der Gattung des Liedes im 19. Jahrhundert darstellte. Jeden Morgen begann er nach dem Aufstehen mit dem Komponieren, aß um zwei Uhr, ging spazieren und wandte sich dann erneut der Komposition zu oder besuchte Freunde. Mit zunehmendem Alter wurde er korpulenter und neigte zu alkoholischen Exzessen. Wegen seiner Größe von nur 1,56 m wird er „Schwammerl“ gerufen. Im Frühjahr 1824 scheint die Krankheit den Komponisten psychisch besonders schwer belastet zu haben: „Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen der Welt“ schrieb er. Es ist davon auszugehen, dass sich Schubert fortan wiederholt Quecksilberkuren unterzog, die mit heftigen Nebenwirkungen verbunden waren.

„hier ist mein Ende“

im Sommer dieses Jahres war er zum zweiten Mal bei Esterházy engagiert. Er widmete der 19-jährigen Komtesse Caroline drei Lieder, angeblich soll er sie umworben haben. 1825 hatte Schubert noch einmal eine glücklichere Phase, in die eine Reise durch Österreich zur Kur nach Bad Gastein fiel. Er arbeitete an der „Gmunden-Gasteiner Sinfonie“ und schrieb Klaviersonaten D-Dur, die er zu einem recht hohen Preis veröffentlichen konnte. Das war nicht selbstverständlich: Einen Gulden pro Lied bekommt er von Verlegern, die seine Not um Geld für Medikamente schamlos ausnutzen. Von 1826 bis 1828 hielt sich Schubert in Wien und seinen Vorstädten auf. Die Stelle des Vizekapellmeisters an der kaiserlichen Hofkapelle, um die er sich 1826 bewarb, bekam er nicht. Am 26. März 1828 gab er das einzige öffentliche Konzert seiner Karriere, das ihm 800 Gulden Wiener Währung einbrachte. Zahlreiche Lieder und Klavierwerke waren inzwischen gedruckt worden; doch das Geld gab Schubert vor allem im Wirtshaus beim Wein aus.

Schubertiade. Quelle: Von Moritz von Schwind – Unbekannt, uploaded by User:LeastCommonAncestor as a version of File:Moritz von Schwind Schubertiade.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=535713

In seinem letzten Lebensjahr schreibt Schubert, wie Mozart, tief inspirierte Kompositionen. Sein Tagebuch wird spärlicher: Isolation, Kälte, Lebensverneinung. „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Im Kontrast zu Schuberts Melancholie ist es beruflich ein gutes Jahr: Einladungen, beachtliche Privatkonzerte, Veröffentlichungen. Er schreibt die C-Dur-Sinfonie Nr. 9, die Große, 1838 von Robert Schumann entdeckt; und im Mai die letzten drei Impromptus, die dann 30 Jahre lang verschollen bleiben. Für seine Kopfschmerzen wird Landluft verordnet, so zieht er im Juni zum Bruder Ferdinand. Die große Messe Es-Dur, die Klaviersonaten in c-Moll und A-Dur sind aus diesem letzten Sommer, und das Streichquintett in C-Dur.

Trotz Schwindel und unerträglichen Kopfschmerzen wandert er noch Anfang Oktober mit Bruder Ferdinand und zwei Freunden nach Eisenstadt zum Grab des verehrten Haydn und zurück, 70 Kilometer zu Fuß. Schuberts Tod meldet sich gespenstisch beim Abendessen: „Da er nun am letzten Oktober abends einen Fisch speisen wollte“, schreibt Ferdinand, „warf er, nachdem er das erste Stückchen gegessen, plötzlich Messer und Gabel auf den Teller und gab vor, es ekle ihn gewaltig vor dieser Speise, und es sei ihm gerade, als habe er Gift genommen. Von diesem Augenblick an hat Schubert fast nichts mehr gegessen und getrunken, bloß Arzneien geschluckt.“ Bei einem Aderlass soll Schubert dann dem Arzt starr ins Auge gesehen, an die Wand gegriffen und gesagt haben: „Hier, hier ist mein Ende.“

Er stirbt an Typhus, der gleichen Krankheit wie seine Mutter, nachmittags um drei an ihrem Namenstag, dem 19. November 1828. Begraben nahe Beethoven, wurden seine Gebeine 1888 in ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof überführt. Sein Grabmal trugt eine Inschrift Grillparzers: „Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz; aber noch viel schönere Hoffnungen.“ Dass er lange als „verkanntes Genie“ dargestellt wurde, das seine Meisterwerke unbeachtet von der Öffentlichkeit schuf, liegt daran, dass er mit seinen Großwerken – etwa seinen Sinfonien – keine große Wirkung erzielte und ihm mit seinen Opern nicht der ersehnte Durchbruch gelang. Allerdings suchte er selbst auch nicht die Öffentlichkeit und konnte anders als Mozart und Beethoven erst spät zu einem eigenen Konzert überredet werden. Er gilt neben Beethoven als der Begründer der romantischen Musik im deutschsprachigen Raum, schuf weltliche und geistliche Chormusik, sieben vollständige und fünf unvollendete Sinfonien, Ouvertüren, Bühnenwerke, Klaviermusik und Kammermusik, vor allem Quartette und Quintette.

Erste Grabstätte. Quelle: Von HeinzLW – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 at, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16629007

Einschließlich der drei großen Lieder-Zyklen komponiert Schubert rund 700 Lieder, in denen er meistens das „Strophenlied“ verlässt und die Möglichkeiten des Klaviers über das Begleiterische hinaus zu dramatischer Gestaltung der künstlerischen Aussage entwickelt. „Er hat das Kunstlied auf eine bis dahin nicht gekannte Höhe geführt“, so Dietrich Fischer-Dieskau. Das Besondere an Schuberts Liedern gründet darin, dass nicht eine musikalische Idee leitend ist, sondern die sprachliche Vorgabe. Seine Mittel, der vorgegebenen melodischen und metrisch-rhythmischen Sprachgestalt musikalisch zu folgen, sind neben äußeren Mitteln wie gezielte Text-Wiederholungen oder Wechseln des Tongeschlechts in einem Lied auch die Klavier-Imitation realer Schallphänomene wie plätscherndes Wasser, Hundegebell oder Wetterereignisse. Ernst Keil gab ihm 1866 den Titel „Liederfürst“. Franz Liszt beschrieb Schubert als den „poetischsten Musiker, der je gelebt hat.“

Kinderlieder dürfen als rassistisch diffamiert und Xavier Naidoo Antisemit genannt werden – der ideologische Furor wird in der Musik publizistisch und juristisch geadelt. Das ist ein schlechtes Zeichen für die Kunst und ein fatales für die Demokratie.

Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Er versuchte später, sein Verhalten in den Jugendjahren nicht zu bagatellisieren, sondern nannte sich selbst einen Nazijungen. Er war als junger Mensch gefangen in der Ideologie des 3. Reichs – wie der größte Teil seiner Altersgefährten auch. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen dieser Jahrgänge hat er aus dieser Vergangenheit nie ein Geheimnis gemacht, die eigene Vergangenheit nicht verdrängt, anstatt ihr auf den Grund zu gehen. Diese versäumten es, von den „Kindheitsmustern“ (Christa Wolf) zu sprechen, in die sie gepresst worden waren, und die noch lange als Herkunftsmonster in ihrem Bewusstsein spukten. Er tat es.

Denn gerade solche Dokumente intensiver Selbstanalyse einer politischen Verirrung sind für eine lebendige Demokratie wertvoll. In der DDR war Franz Fühmann, neben Wolf, eine Ausnahme. Seine Werke sind zu einem ganz wesentlichen Teil ein radikaler Versuch, den Wurzeln eines ideologischen und totalitären Denkens auf die Spur zu kommen. Ein Versuch, der nie bis zum Roman reichte, sondern immer nur häppchenweise zu bewältigen war, in Erzählungen, Novellen, Essays oder Fragmenten wie seinem letzten, dem Haupt- und Alterswerk „Im Berg“: Franz Fühmann, der am 15. Januar 1922 in Rochlitz im Riesengebirge (heute: Rokytnice nad Jizerou) geboren wurde.

Sein Vater war Apotheker und hatte mit einem Knoblauchsaft gegen Arterienverkalkung eine kleine pharmazeutische Fabrik auf die Beine gestellt. Er wuchs nach eigenen Angaben in einer „Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus“ auf: Das Zusammenleben mit einem autoritären und zugleich an den Kindern kaum interessierten Vater und mit einer frömmelnden, bigotten Mutter, die eine Ehe voll Zank und Streit führten, muss bedrückend gewesen sein. Also flüchtete Franz in die Phantasie. Jeden Winter wurde Rochlitz eingeschneit – und da fing er an zu fabulieren und später zu schreiben: Anfangs wurde er von einer Hauslehrerin unterrichtet. In seiner Heimat gab es überall Eulen, Abhänge, Steinbrüche mit geheimnisvollen Eingängen, Büschen, verkrüppelten Bäumen. In jeder Höhle wohnte ein Geist, für den er einen Namen und eine Genealogie erfand. Auf diese Weise gründete er ein eigenes Reich mit Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Die Natur schien beseelt, doch nur wenige dieser versteckten Geschöpfe waren freundlich gesonnen.

Franz Fühmann. Quelle: https://henschel-schauspiel.de/serve_image/5a631270b9bb1df913282255

Ab 1932 besuchte er das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, aus dem er 1936 flüchtete. Er ging dann auf das Gymnasium in Reichenberg (Liberec), trat dem Deutschen Turnverein bei und wurde 1937 Mitglied der pennalen Burschenschaft Hercynia. Als 15-Jähriger ist er dabei, als am 9. November 1938 die Synagoge in Reichenberg zerstört wird. Er tritt in die Reiter-SA ein. Seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht 1939 wird abgelehnt, weil er noch zu jung ist. 1941 darf er dann endlich an die Front, als Funker erst nach Russland, später nach Griechenland. Doch Fühmann will dichten. Sein Vater sei stolz gewesen, als „Nacht am Peipussee“ und vier weitere Gedichte des 20-jährigen Soldaten gedruckt werden. Noch im Januar 1945 schafft es der junge Fühmann mit einem Gedicht sogar auf Seite eins der Wochenzeitschrift Das Reich: Deren Herausgeber, dem promovierten Germanisten Hermann Goebbels, gefiel die heroische Endzeit-Lyrik: „Karg und klar ist die Zeit. / Ehern waltet die Not“. Dann gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

„Er hatte recht“

Die vier Jahre unter anderem an der Antifa-Schule in Noginsk verwandeln Fühmann in einen gläubigen Kommunisten, der 1949 in die DDR zieht – Mutter und Schwester hatte es bereits dorthin verschlagen, sein Vater war kurz nach Kriegsende gestorben. Inzwischen ist seine sowjetische Abschlussbeurteilung zugänglich: „Am Anfang war er geprägt von halbfaschistischen und kleinbürgerlichen Vorurteilen. Er war voll von deutschem pseudointelligenten Hochmut und Individualismus und missachtete das Kollektiv. Unter dem Einfluss der intensiven Beschäftigung mit dem Lehrgangsprogramm und der politischen Erziehungsarbeit der Gruppe hat Fühmann diese Eigenschaften abgelegt und gewann größere Autorität im Kollektiv, entwickelte sich zu einem klugen Antifaschisten, der die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht, einige theoretische Grundwerke durchstudiert hat und ständig bereit zum Kampf um das neue demokratische Deutschland ist.“ Für Günther Rüther gleicht Fühmanns Wandlung vom Nationalsozialisten zum Stalinisten „damit einem Film, in dem das Negativ zum Positiv entwickelt wird“.

Prompt wurde er für leitende Tätigkeiten etwa in der zentralen SED-Presse empfohlen. Gern wäre er der SED beigetreten, aber er wurde zur NDPD abkommandiert: Die Nationaldemokratische Partei  sollte ehemalige Nationalsozialisten, Offiziere, Soldaten, Mittelständler an die DDR binden. Vorsitzender war der Altkommunist Lothar Bolz, der lange als Außenminister der DDR fungierte. lm Führungspersonal gab es viele umerzogene Militärs, auch Mitglieder des von Stalin gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ wie Wehrmachtsgeneral Vinzenz Müller, der die Volksarmee der DDR aufbaute und dessen persönlicher Referent Fühmann zunächst wurde. Er heiratete 1950 Ursula Böhm, zwei Jahre später kam die gemeinsame Tochter Barbara zur Welt. Er schrieb Artikel für parteieigene Zeitungen, war ab 1952 Mitglied des NDPD-Landesvorstands und von 1954 bis 1959 von der Stasi als IM „Salomon“ erfasst. Da er jedoch weder Berichte lieferte noch zu konspirativen Treffen bereit war, entpflichtete die Stasi ihn wieder. Später wurde er selbst Beobachtungsobjekt unter dem Decknamen „Filou“.

Seinen ersten großen literarischen Erfolg und damit auch Durchbruch als Prosaautor erlebt Fühmann mit der Novelle „Kameraden“. Sie erscheint 1955, wird in viele Sprachen übersetzt und zwei Jahre nach ihrem Erscheinen auch verfilmt. Er leitete bis 1958 die Hauptabteilung Kulturpolitik der NDPD und gehört der Partei bis 1972 an. Der Funktionär Fühmann dichtete und schrieb weiter, Lieder junger Traktoristen oder den Chor der Komsomolzen – eine aufstrebende literarische Karriere in der DDR. Prompt bekam er 1955 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, 1956 den Heinrich-Mann-Preis und 1957 den Nationalpreis der DDR. Von 1958 bis zu seinem Tode war Fühmann freier Schriftsteller und Nachdichter, letzteres vorrangig im Bereich der Lyrik (vor allem aus dem Tschechischen und Ungarischen), nachdem die Quelle des eigenen lyrischen Schaffens versiegt war – die Abkehr vom Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 erschütterte seine Überzeugungen nachhaltig. Einen Abschluss dieser Periode bildet der Band „Die Richtung der Märchen“ (1962).

Marcel Reich-Ranicki fällte in diesem Jahr sein Verdikt über den frühen Fühmann in der Zeit: „Unverfälschte NS-Lyrik aus der Feder eines Mannes, der mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun haben wollte und ihn – daran kann kein Zweifel bestehen – zutiefst hasste.“ Und: „Man hatte ihn auf der ‚Antifaschule‘ nur ‚umfunktioniert‘: Daher schrieb er HJ-Gedichte mit FDJ-Vorzeichen.“ Fühmann später schonungslos gegenüber sich selbst: „Er hatte recht.“ Fühmann ging härter mit sich ins Gericht, als jeder andere es hätte tun können: „Er übersteigerte seine Schuld selbstquälerisch, anstatt sie zu bagatellisieren“, befand Uwe Wittstock in der Welt. Prompt rückte in den späteren Texten die Verarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der unschuldig-schuldhaft in die Nazi-Verbrechen verstrickten jungen Generation in den Vordergrund, so in „Das Judenauto“ (1962), seiner wohl berühmtesten Erzählung, in der er Grundmotive antisemitischer Hetze vorführt, oder „König Ödipus“ (1966).

„süßes Rauschgift zerbrannter Saaten“

Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968 war für ihn das nächste einschneidende Moment. Hatte er 1961 den Mauerbau noch gerechtfertigt – es sei gut, dass sozialistische Panzer am Brandenburger Tor stünden, denn er kenne den Unterschied zwischen roten und braunen Panzern, obwohl beide aus Stahl gebaut und mit Kanonen bestückt seien – war Fühmann zu Rechtfertigungen dieser Art nicht mehr bereit. Aber er geriet in der kritischen Situation, wie er später formulierte, auf den „schwarzen Weg des Alkoholismus“. Die Metaphern vom „weißen Magier“ und dem „süßen Rauschgift zerbrannter Saaten“ nutzt er oft. Seine existentielle Krise überwand er durch ein radikales Umdenken. „Die hartnäckige, sich über Jahrzehnte erstreckende Beschäftigung mit den Verirrungen seiner Jugend weiteten sich zur psychoanalytischen Trauerarbeit“, bilanziert Wittstock.

Schaffensquerschnitt. Quelle: eigene Collage

„Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genauso funktioniert, wie Du in Charkow oder Athen hinter dem Fernschreiber funktioniert hast“, schrieb Fühmann selbst. Er ging zunehmend auf Abstand zur Politik der DDR, zog sich aus dem Schriftstellerverband zurück und unterstützte diskriminierte Autoren: Er wird zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehören. 1977 schrieb er an Klaus Höpke, damals als Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel einer der höchsten Zensoren des Landes, einen offenen Brief: „Weder ein Einzelner, noch ein Berufsstand, noch irgendeine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit.“ Höpke dürfte der Atem gestockt haben – und der offene Brief wurde selbstverständlich nicht veröffentlicht.

Da war Fühmann längst die Selbstbefreiung gelungen, in ständigen Kämpfen gegen den Alkohol und die Machthaber: „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“, ein Ungarn-Reisetagebuch, wird 1973 zu einem bahnbrechenden fragmentarischen Memoir. In dem Werk, mit dem der Autor seine literarische Existenz am liebsten erst beginnen ließe, kann man nachlesen, wie schwer es ihm wurde, die Entscheidung zu annullieren, als „willenloses Werkzeug“ der neuen guten Ordnung zu wirken. Mit dem SED-Staat hatte er innerlich gebrochen – nicht mit dem Sozialismus. Zunehmend verzweifelt, aber unermüdlich setzt er sich für diejenigen ein, die in der DDR nicht gedruckt werden. Als einer der Ersten erkennt er das Genie des dichtenden Heizers Wolfgang Hilbig. „Er hatte ein Gespür dafür, ob Texte echt sind“, erklärte 1997 Uwe Kolbe die Wirkung seines Mentors auf seine eigenen Gedichte. „Da sagt er dir schon mal: ‚Ne, in der Zeit hättest du auch was anderes machen können‘.“ In Uwe Tellkamps „Der Turm“ trägt die Figur des Georg Altberg deutlich Fühmann‘sche Züge.

In vielen Texten der 70er Jahre vollzog er eine Rückbesinnung in seine Kindheit in Form einer stärkeren Hinwendung zu Mythos und Phantasie, ergänzt um Traum und Sprachspiel, so in „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978). Einen bedeutenden Teil im Gesamtwerk nimmt bei Fühmann die Essayistik ein, wofür Titel wie „Das mythische Element in der Literatur“ (1975) und „Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“ (1979) stehen. Nach der Ausreise von Sarah Kirsch und Bernd Jentzsch aus der DDR sowie dem Austritt Jurek Beckers trat Fühmann 1977 endgültig vom Vorstand des Schriftstellerverbands zurück und war in der Folgezeit in der DDR künstlerisch wie politisch zunehmend isoliert: mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit eckt er bei allen an und will anecken. Er trat für die Friedensbewegung ein und nahm 1981 an der ersten Berliner Begegnung zur Friedensförderung teil. Eine von Fühmann initiierte Anthologie junger kritischer DDR-Autoren wurde im selben Jahr durch die Leitung der Akademie der Künste und führende Kräfte der SED verhindert.

Im Bergwerk (2.v.l.) Quelle: https://www.cinema.de/sites/default/files/styles/cin_landscape_510/public/sync/cms3.cinema.de/imgdb/import/dreams2/1000/961/3/1000961316.jpg?itok=XVDrY5ca

Der Erzählband „Saiäns-fiktschen“ mit ihren alptraumhaften Negativ-Utopien wird ebenfalls 1981 zur Geburtsstunde der Dystopie in der DDR. Ein Jahr später entdeckt er in „Vor Feuerschlünden“ die Lyrik Georg Trakls für DDR-Leser. Hier beschreibt Fühmann sprachgewaltig, ja in nahezu manischer Intensität den Versuch, sich von jeder ideologischen Doktrin zu befreien, und bekam dafür den Geschwister-Scholl-Preis. Daneben schrieb er das Ballett „Kirke und Odysseus“, einige Filmdrehbücher und brachte zusammen mit dem Fotografen Dietmar Riemann den Bildband „Was für eine Insel in was für einem Meer“ über Menschen mit geistiger Behinderung heraus, mit denen er drei Jahre lang immer wieder gearbeitet hatte.

„der Ort der Wahrheit“

Quer durch alle Schaffensphasen hinweg schuf er immer auch Literatur für Kinder, die für Generationen prägend waren: Beginnend mit „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ (1959), die er auf Anregung seiner Tochter schrieb, über „Kabelkran und Blauer Peter“ (1961) oder „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ (1964) bis hin zu etlichen Nacherzählungen klassischer literarischer Stoffe und Sagen wie „Reineke Fuchs“, „Das Hölzerne Pferd“, „Prometheus. Die Titanenschlacht“ oder „Das Nibelungenlied“ (1971-80). An seinem letzten, dem „Bergwerk-Projekt“, angelegt zwischen Erzählung, Essay und Reportage, verzweifelte er. Mit dem Bergwerk verband sich für Fühmann vieles. Für ihn war es ein Ort der Mythologie, in der der Bergmann – Atlas gleich – den Berg zu tragen schien, ein „jungfräulicher Ort“, in dem „jedes Streb Pionierland war“, das Einblicke in längst vergangene Zeiten bot, aber ebenso Ort, der – Modellcharakter besitzend -, einem die Möglichkeit bot, den Prozess des Eindringens in unbekannte Bezirke zu studieren. In aller erster Linie war für Fühmann die Grube jedoch „der Ort der Wahrheit, in der jeder Handgriff gnadenlos gewogen“ wurde.

Sechs Monate vor seinem Tode brach er die Arbeit an dem Projekt ab und versah das Fragment mit dem Untertitel „Bericht eines Scheiterns“. Am 8. Juli 1984 starb Fühmann an Krebs. Auch sein Testament ist ein Dokument der Bedingungslosigkeit: „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ Und er verfügte, dass kein offizieller Vertreter des Schriftstellerverbands der DDR an seiner Beerdigung teilnehmen soll. Drei Monate danach sendete der Rundfunk der DDR erstmals ein Originalhörspiel für Erwachsene von ihm: „Die Schatten“. Bis zum Umbruch 1989 folgten jährlich weitere Originalhörspiele, die Fühmann kurz vor seinem Tod im Krankenhaus geschrieben hatte. 1993 veröffentlichte Hinstorff, sein Hausverlag, eine „Autorisierte Werkausgabe“ in 8 Bänden mit über 3500 Seiten.

Fühmann bei Trakl. Quelle: https://pbs.twimg.com/media/DhkavuKW0AErgcg.jpg

Am Ende bleibt mehr als einer, der „über Auschwitz zum Sozialismus“ kam, mehr als ein „Täter mit gutem Gewissen“, wie Lothar Fritze behauptete. Er wollte die ganze Wahrheit, „nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt, nicht für Programme zugeschnitten, nicht Strategien untergeordnet, nicht modifiziert nach Erfordernissen, nicht Präzeptoren vorbehalten, die das Volk als das schlechthin Unmündige ansehen, nicht wie Tranquilizer auf Rezepten verordnet…“, wie er in seiner Dankesrede zum Scholl-Preis sagte. Ein dualistisches Weltbild, das nur zwischen Gut und Böse, richtig und falsch unterscheidet, zugunsten eines offenen und differenzierten Blicks auf die Realität in ihrer Konfliktträchtigkeit und Komplexität überwunden zu haben, war nicht vielen Menschen vergönnt – ihm schon. „Sich als Mensch verstehen zu lernen, setzt voraus, den Anderen verstehen zu lernen“ – dieses Credo ist heute nötiger denn je.

Mit 175 Büchern, darunter allein 124 Krimis, gehörte er zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. In 45 Sprachen übersetzt, gilt er als Erfinder des modernen Thrillers und Anfang des 20. Jahrhunderts auch als dessen Hauptvertreter. Ein Gast durfte beobachten, wie er 1931 an einem Wochenende einen kompletten Roman diktierte, damit 4000 Pfund auf einen Schlag verdiente – und sich hinterher für zwei Tage Schlaf zurückzog. Die dauerhafte Anstrengung hatte allerdings ihren Preis: Der Autor konsumierte täglich rund 80 Zigaretten – mit Mundstück, das wurde sein Markenzeichen – und 40 Tassen mit stark gesüßtem Tee. Prompt erlitt er eine Diabetes, die nicht behandelt wurde und an der er am 10. Februar 1932 starb: Richard Horatio Edgar Wallace.

Am 1. April 1875 als unehelicher Sohn der mittellosen Schauspielerin Polly Richards geboren, adoptierte ihn eine Fischträgerfamilie zusätzlich zu ihren zehn Kindern, weil seine Mutter nicht für ihn sorgen konnte. Zum Leidwesen seiner Adoptiveltern brachte der Junge nur wenig Begeisterung für die Schule auf und ging mit zwölf Jahren ab. Dafür liebte er Bücher – und das Theater. Um sich den Eintritt leisten zu können, arbeitete er zuerst als Zeitungsjunge und schloss sich einer Jungenbande an, mit der er kleinere Diebstähle beging. Später versuchte er sich dann in allerhand Berufen: Er arbeitete als Druckergehilfe, Botenjunge, in einem Schuhgeschäft, in einer Tuchfabrik, als Koch auf einem Schleppnetzfischerboot in Grimsby, als Milchkutscher und als Straßenbauer und Bauarbeiter. „Arbeit knochenbrechend“, schrieb er frustriert an seine Familie.

1894 schrieb er sich als 18-Jähriger zur Armee ein und nahm den Namen Edgar Wallace an; angelehnt an den Schriftsteller Lew Wallace, der 1880 „Ben Hur“ veröffentlicht hatte. Zwei Jahre später wurde er in Südafrika stationiert. Seine publizistische Laufbahn begann hier: Er besserte sein Gehalt auf, indem er kurze Texte zu lokalen Ereignissen und Personen für die Presse in Kapstadt schrieb. Zudem schrieb er Gedichte, die vor allem durch die Arbeiten von Rudyard Kipling beeinflusst waren, den er 1898 in Kapstadt traf. Im gleichen Jahr veröffentlichte er ein Sammelwerk seiner Balladen unter dem Titel „The Mission that Failed“.

Edgar Wallace. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-13109 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480868

Seine Karriere als Journalist begann Edgar Wallace während des Zweiten Burenkriegs ab 1899 für die Daily Mail. Aufgrund eines Tricks konnte er als erster Korrespondent die Nachricht vom bevorstehenden Friedenschluss nach London senden: Obwohl der Ort der Verhandlungen strikt abgeschirmt war, signalisierte ihm ein ehemaliger Kamerad durch das Zeigen unterschiedlich-farbiger Taschentücher den Stand der Verhandlungen. Noch in Kapstadt heiratete er die Tochter eines methodistischen Missionars und bekamt eine Tochter, die 1903 mit 10 Monaten an einer Hirnhautentzündung starb. Aufgrund dieses Schocks sowie von Schwierigkeiten mit Wallace‘ Vorgesetzten kehrte das Paar hoch verschuldet nach London zurück.

Plakate mit der Größe einer Wohnzimmerwand

Das sich die Familie mit drei weiteren Kindern vergrößerte und Wallace einem durchaus gehobenen Lebensstil frönte, reichte das Honorar als Journalist und Sonderberichterstatter nicht aus. Wallace beschloss, sich mit einem Krimi wortwörtlich aus den Schulden rauszuschreiben. „Heutzutage sind Religion und Unmoral die einzigen Dinge, durch die man ein Buch verkaufen kann“, schrieb er seiner Frau. Er wusste genau, was er seinen zukünftigen Lesern liefern wollte: „Blut und Verbrechen“. „Die vier Gerechten“ lautete der Titel seines ersten Werks von 1905. Mit einem Trick wollte er Käufer anlocken: Er setzte Preisgelder von insgesamt 500 Pfund für diejenigen Leser aus, die den kniffligen Fall zu lösen vermochten. Wie konnten die Mörder den britischen Außenminister töten, der sich in einem schwer bewachten Raum aufhielt und den niemand betreten hatte?

Wallace bewarb das Buch mit einer gewaltigen Kampagne: „Zusätzlich zu der Anzeigenwerbung“ habe er, so gab er an, „tausend riesige Plakate bestellt, die etwa die Größe einer Wohnzimmerwand haben“. Der Krimi verkaufte sich tatsächlich hervorragend. Zu Wallaces Leidwesen hatte er bei seinem Preisausschreiben allerdings vergessen zu erwähnen, dass jeder Geldgewinn nur einmal zu vergeben war. So stapelten sich bald die richtigen Lösungen. Zu guter Letzt musste ihm seine Zeitung, die Daily Mail, finanziell aushelfen. Weil Wallace das Blatt zudem durch Fehler in seinen Artikeln viele Tausend Pfund an Schadenersatz kostete, endete die Zusammenarbeit bald.

circa 1901: Als Korrespondent (2. v.r. sitzend) in Afrika. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/dd3a76cd-0001-0004-0000-000000825021_w920_r1.2622377622377623_fpx45.12_fpy52.98.jpg

Im Hause Wallace ging der Gerichtsvollzieher ein und aus. Schmuck und andere Wertgegenstände waren bald zu Geld gemacht, trotzdem legte sich der Schriftsteller keinerlei Beschränkung auf. „Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten“, klärte er seine Frau auf, „aber wenn ich darauf warten will, dass ich mir etwas leisten kann, werde ich nie etwas bekommen.“ Er spielte leidenschaftlich gerne, verzockte hohe Summen auf der Pferderennbahn und gönnte sich jeglichen Genuss. Beispielsweise einen cremefarbenen Rolls-Royce und später einen eigenen Rennstall. Am Ende verschaffte ihm sein Talent Ruhm – und Geld. Mit dem 1911 erschienenen Afrikaroman „Sanders vom Strom“ wurde er noch bekannter, er war der erste Roman einer 11-teiligen Serie. Der Bestseller half ihm zugleich, seine Reputation als Journalist wieder zu erlangen.

Daneben brachte er mit zwei eigene Rennsport-Blätter heraus und gründete, um die Arbeit zu bewältigen, ein Schreibbüro. Zum Personal gehörte auch seine spätere zweite Frau, Ethel Violet King, die er zwei Jahre nach seiner Scheidung 1919 heiratete. Das Büro war nötig geworden, da er die einträgliche Krimi-Produktion im Akkord aufgenommen hatte. Der körperlich immer träger und korpulenter werdende Wallace schrieb seine Geschichten nicht mehr selbst auf, sondern diktierte sie seinem Sekretär, der auch die zahlreichen Fehler zu korrigieren hatte. 1921 unterschrieb er einen Vertrag bei Hodder and Stoughton und ließ in Folge alle neuen Romane von diesem verlegen. Wallace wurde zum „King of Thrillers“ aufgebaut und mit dem Slogan „Es ist unmöglich, nicht von Edgar Wallace gefesselt zu sein“ vermarktet. Er arbeitete häufig an mehreren Geschichten gleichzeitig.

„Ich bin völlig blank“

Durch seine Phantasie revolutionierte er den modernen Thriller, indem er den erzählenden und sensationsheischenden Stil der Daily Mail auf seine Werke anwandte, weiterentwickelte und sich immer spektakulärere Mordmethoden ausdachte. Etwa im Fall von Charles Creager, der 1923 durch einen Pfeil starb – abgefeuert vom „Grünen Bogenschützen“. Oder in dem des ehrenwerten Inspektors Genter, den 1925 ein als „Frosch mit der Maske“ verkleideter Schurke mittels Blausäure ins Jenseits beförderte. Frauen und Männer, Reiche und Arme, Ehrliche und Ganoven – er ließ sie alle sterben, ermordet in freier Natur, in verrufenen Schlössern, in heruntergekommen Hafenspelunken oder den besten Vierteln Londons. Seine Bücher beinhalteten Elemente der Komödie und des Science-Fiction-Romans, des Liebesromans und der Kriegsgeschichte.

King Kong und die weiße Frau. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/716881ec-0001-0004-0000-000000825006_w920_r1.296793002915452_fpx46.23_fpy49.98.jpg

In dieser Phase wurden seine Romane zu Zehn-, ja Hunderttausenden verkauft. 1928 wurde geschätzt, dass mit Ausnahme der Bibel eines von vier in England gedruckten und verkauften Büchern von Edgar Wallace geschrieben wurde. Einer von Wallace berühmtesten Krimis wurde „Der Hexer“ (Original: „The Gaunt Stranger“), der als Theaterstück unter dem Namen „The Ringer“ am 1. Mai 1926 mit dem britischen Schauspieler Gerald du Maurier uraufgeführt wurde und ein großer Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Manchmal wurden zwei oder drei Theaterstücke von Wallace in London gleichzeitig aufgeführt; insgesamt 120 wird er zeitlebens geschrieben haben. Kritik an seinen in Windeseile produzierten Geschichten ließ Wallace kalt. „Ich schreibe keine guten Bücher“, erklärte er einmal einem amerikanischen Reporter. „Ich schreibe Bestseller.“ Bizarre Morde, spannende Plots und die Verheißung auf eine baldige Neuerscheinung ließen die Schwächen in Charakterentwicklung und Aufbau schnell vergessen.

Sein Stil hatte Einfachheit, Kraft und Tempo, aber es war die Vielfalt und Originalität seiner Handlungen, die zusammen mit seinem enorm produktiven Schaffen seinen Ruf begründeten. Kinder liebte der berühmte Schriftsteller über alles. Wallace war auch für seine Großzügigkeit bekannt. So unterstützte er eine Theaterkassiererin, deren Kind an Tuberkulose erkrankt war und nahm die beiden mit in den Familienurlaub. 1923 wurde er in den Vorstand des Londoner Presseclubs berufen, wo er nach einigen Jahren einen Fonds für mittellose Journalisten einrichtete. In Hollywood, wo er 1931 für das Drehbuch zu „King Kong“ engagiert wurde, sollte ein neuer Markt erschlossen werden. Eigentlich wäre der Schriftsteller lieber in Großbritannien geblieben. „Es hat keinen Zweck“, klagte er verzweifelt. „Ich bin völlig blank und muss einfach hinüber.“ Seine Heimat sah er ebenso nie wieder wie er den fertigen Streifen je vor Augen bekam. Er schlief in seinem Bett ein. In der Londoner Fleet Street, in der die meisten Zeitungen der Hauptstadt ansässig waren, wurden nach der Überführung seiner Leiche in die Heimat die Flaggen auf Halbmast gesetzt und die Kirchenglocken geläutet.

Nachdem der Wilhelm Goldmann Verlag 1952 „Der Frosch mit der Maske“ als Goldmanns Taschen-Krimi Band 1 herausgab, erwarb der dänische Filmproduzent und Rialto-Chef Preben Philipsen die Filmrechte. 1959 produzierte er den Film, der sich zu einem großen Überraschungserfolg entwickelte. Rialto erwarb daraufhin die Exklusivrechte fast aller Wallace-Romane und begründete in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Boom mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ und den Geräuschen mehrerer Schüsse eingeleitet. Hauptregisseur mit 12 Filmen war Alfred Vohrer, dessen leicht übertriebene Schauspielführung und die pointierte Schnitt- und Zoomtechnik Maßstäbe setzten. Harald Reinl inszenierte fünf Streifen.

Eine Verfilmung mit dem frühen Kinski. Quelle: https://assets.deutschlandfunk.de/FILE_05a4a891e5ef26da32f059f9f87fee3b/1920×1080.jpg?t=1597485763206

Der Erfolg der aufwendigen, handwerklich hochstehenden Produktionen wird zurückgeführt auf das immer auch komische, extravagante Spiel mit dem Grusel und die erstklassigen Besetzungen mit dem Who is Who des bundesdeutschen Nachkriegskinos, die für viele Jungschauspieler zugleich Karrieresprungbrett wurden. Oft stellte Klaus Kinski einen Kriminellen oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern gehörten Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Werner Peters, Heinz Drache oder Karin Dor; viele Stars wie Gert Froebe, Klausjürgen Wussow, Wolfgang Völz, Hans Clarin, Hubert von Meyerinck, Karin Baal, Lil Dagover oder Elisabeth Flickenschildt hatten Gastauftritte. Sowohl Otto als auch Bastian Pastewka versuchten sich seit den 90ern an komödiantischen Persiflagen (bspw. „Der WiXXer“ 2004). Das Archiv des deutschen Kriminalfilms stiftet seit 1999 den Edgar-Wallace-Preis für besondere Verdienste um den Kriminalfilm.

„Dass sie lebendig und geistreich, etwas zu aufgeregt war, wie oft bezeugt ist, machte sie ein wenig zur Außenseiterin. Sie wirkte dem ganz entschlossen und mit aller Klugheit entgegen, wollte sich nicht vom ‚Leben’ ausgeschlossen wissen. Sie sang und komponierte, Lieder wie Singspiele, sie entwarf Szenen und Stücke, leitete Gesellschaftsspiele an, schien über einen Überschuss an Kraft und Begabung zu verfügen, was die standesgemäßen Freier nicht eben anzog.“ Alexander von Bormann hätte im DLF noch hinzufügen können, dass sie daneben die einzige Schriftstellerin ist, die in keiner deutschen Literaturgeschichte fehlt, und eine der wenigen Frauen, deren Porträt einen deutschen Geldschein zierte, nämlich bis 2001 die grüne 20 DM-Note: Annette von Droste-Hülshoff, die am 10. Januar vor 225 Jahren zur Welt kam.

Geboren als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff auf der gleichnamigen Wasserburg als zweites von vier Kindern eines Gutsherrn, setzte sie die Tradition ihres urwestfälischen Adelsgeschlechts in der 20. Generation fort. Bedingt durch ihre frühe Geburt, galt sie als kränklich, war nur ca. 1,50 m groß und zierlich, extrem kurzsichtig, hatte auffällig wirkende Augen und litt oft unter Kopfschmerzen. Das hinderte das wissbegierige Kind nicht daran, eine Bildung zu erwerben, die für die damalige Mädchenerziehung außergewöhnlich war und neben Literatur in lateinischer, griechischer, französischer und englischer Sprache auch geschichtliche, geografische und naturkundliche Kenntnisse umfasste. Dabei wurde sie zusammen mit ihren Geschwistern zunächst von ihrer gebildeten Mutter, dann von einem Hauskaplan und späteren Gymnasialprofessor und von einer französischen Kinderfrau unterrichtet.

Dichtung war ihr als Talent in die Wiege gelegt worden, so sah sie früh ihre Berufung als Dichterin und ließ sich darin nicht beirren. Auf Initiative ihrer Eltern wurde 1812 bis 1819 von Anton Matthias Sprickmann unterrichtet und gefördert, der dem Göttinger Hain nahestand und dessen Lustspiel „Der Schmuck“ in Weimar von Goethe höchstselbst inszeniert wurde. Eine Beziehung zu dem bürgerlichen Göttinger Jurastudenten Heinrich Straube in den Jahren 1819 und 1820 ging auf familiäres Betreiben in die Brüche, was sie traumatisiert hinterließ. Damit waren wohl auch das Denken und die Vorstellungen der künftigen Dichterin in das Konservative gerichtet, das sie auch in ihren Werken äußerte. Sie schloss sich der Familie an, indem sie vor allem ihre Mutter auf Reisen ins Münsterland, ins Paderborner Land und ins Rheinland begleitete, aber auch zensorische Eingriffe in ihre Werke durch ihren Bruder duldete. Von den Reisen brachte sie vielfältige literarische Anregungen mit.

Die junge Freiin. Quelle: https://www.schumann-portal.de/tl_files/img/RobertSchumann_Die_Dichter/Annette_von_Droste_zu_Huelshoff.JPG

In dieser Zeit hatte sie begonnen, einen Zyklus von geistlichen Liedern auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zu verfassen. Vor dem Hintergrund der Straube-Affäre gerieten ihre Texte zum persönlichen Bekenntnis, erst zwanzig Jahre später konnte sie das „Geistliche Jahr“ vollenden. Nach dem Tod des Vaters 1826 zog Annette mit Mutter und Schwester auf den Wohnsitz Haus Rüschhaus nahe Münster und verlegte sich für einige Zeit auf ihr zweites Talent, die Musik; sie sang und arbeitete an den Opernprojekten „Babilon“ und „Der blaue Cherub“ und korrespondierte mit dem Ehepaar Schumann. Erst 1877 kam ihr Wirken als Komponistin ans Licht, als Christoph Bernhard Schlüter einige Lieder aus dem Nachlass veröffentlichen ließ.

„Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen“

In den 1830er Jahren erweiterte sie allmählich ihren Gesichtskreis, insbesondere durch Reisen nach Köln und Bonn sowie in die Schweiz, aber auch den Besuch vieler Gesprächsrunden, auf denen sie die Bekanntschaft etwa von Adele Schopenhauer, Goethes Schwiegertochter Ottilie oder August Wilhelm Schlegel machte. In literarischer Hinsicht beschäftigte sie sich mit der Abfassung von Versepen, die einerseits formal wie inhaltlich dem Zeitgeschmack verpflichtet waren, andererseits ein eigenes, originelles Erzählen dokumentieren, das die üblichen Genregrenzen überschreitet. Mit dem Erscheinen der Gedichtausgabe von 1838, die weitgehend unbeachtet blieb, schließt sich die erste größere Schaffensphase.

Annette ist bereits 41 Jahre alt, eine einsame, unverstandene Frau. Selbst ihre Mutter legt das Buch einfach in den Schrank und verliert kein Sterbenswörtchen darüber. Damals verkauft sich der Gedichtband gerade 74-mal. Im Jahr zuvor hat sie den 15 Jahre jüngeren Levin Schücking kennengelernt, einen Juristen, den sie als „Seelenfreund“ bezeichnete und mütterlich liebte. Seit dieser Zeit verschiedentlich, ab 1841 dann nahezu ständig lebte sie bei ihrer Schwester auf Schloss Meersburg. Sie hatte dort eine abgetrennte Wohnung, zu der auch ein Turm gehörte – heute eine Gedenkstätte – von dem aus sie einen weiten Blick über den Bodensee genoss. Dort hielt ihr ihre Schwester den Rücken frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, andererseits war sie in deren Familie geborgen, zu der auch zwei Zwillingskinder gehörten. Sie und ihr Schwager Joseph von Laßberg schätzten sich zwar, er und die bei ihm verkehrenden Germanisten und Historiker lebten allerdings geistig „in einer anderen Welt“, wie sie meinte. In Meersburg fand die Droste die Balance zwischen Gesellschaft und Einsamkeit. Sie fühlte sich dort freier von Konventionen.

Wohnung auf Meersburg. Quelle: Von –Parpan05 07:22, 5 August 2006 (UTC) – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1019655

1842 erschien ihre Novelle „Die Judenbuche“, die Droste in der literarischen Öffentlichkeit ein wenig mehr Gehör verschaffte. Mit der Geschichte des Friedrich Mergel, der viele Jahre nach dem Mord an einem Juden am Ort der Tat in einer Buche erhängt aufgefunden wird, war ihr ein „Sittengemälde” gelungen, das mit fast naturalistischer Detailschärfe einen Ausschnitt westfälischer Lebenswelt spiegelt. Doch die Judenbuche ist mehr als eine Milieustudie; sie ist gleichzeitig Kriminalgeschichte und Psychogramm, eine Erzählung, die durch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit letztlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Der Text wurde in viele Weltsprachen übersetzt, verfilmt und dreimal vertont, darunter zweimal als Oper.

Die der „Judenbuche“ sekundierenden erzählerischen Versuche, die Fragmente „Ledwina“ (1819–24) und „Joseph“ (1844–45), lassen bei aller Unvollkommenheit die hohe Berufung ihrer Urheberin erkennen; noch mehr das Bruchstück eines Romans „Bei uns zu Lande auf dem Lande. Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz“ (1841–42). Viel Stoff aus dem unvollendeten Buch verwendete sie in den etwa gleichzeitig und wohl als Ersatz geschriebenen „Bildern aus Westfalen“ (1845). „Dieser Essay hat an Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen sowie an Wissen um volkskundliche Einzelheiten kaum seinesgleichen in jener heimatentdeckungsfrohen Zeit“, befindet ihr Biograph Ernst Alker. Vor allem wegen dieser Texte wird sie bis heute als die Dichterin Westfalens wahrgenommen.

Schücking wurde schließlich zu ihrem „Gedichtbefreier“: Angespornt durch ihn gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer bekannten Texte enthält, so „Das Spiegelbild“, „Am Thurme“ oder die heimatbezogenen „Haidebilder“ mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur. Heute spricht man von „Natur- und Bekenntnislyrik“, in der die sinnliche Erfahrbarkeit und der unheimliche Aspekt der Natur miteinander wechselwirken, wie vor allem „Der Knabe im Moor“ zeigt.

„ein Tropfen Wohlgeruch gepresst“

Schücking blieb auch später Anreger neuer literarischer Texte, doch gelang es Droste aufgrund beständiger Krankheiten immer seltener, ihren Pegasus zu satteln. Durch Schückings geschickte Verhandlung mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erhielt Droste erstmals ein ansehnliches Honorar für den Abdruck der Judenbuche im Morgenblatt für gebildete Stände. Hiervon erwarb sie 1843 das Fürstenhäusle oberhalb Meersburgs mit einem kleinen Weinberg – das sie aufgrund zunehmender Krankheit aber nicht mehr oft genießen konnte. Schückings weitere berufliche Entwicklung, seine Heirat einer Dichterin und die Veröffentlichung des adelsfeindlichen „Die Ritterbürtigen“ traf sie ebenso empfindlich wie die Indiskretionen über den Adel, die er darin nach ihren Gesprächen verarbeitete. So kam es – auch auf Druck ihrer Familie – zum Bruch mit ihm, was sie wiederum tief verstörte.

Das Fürstenhäusle. Quelle: Von –louisana – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=186136

Ihr spätes Schaffen beschränkt sich auf das Führen ihrer umfangreichen Korrespondenz, die sie seit der Jugend pflegte, sowie die Fragmente „Joseph. Eine Kriminalgeschichte“ sowie „Bei uns zu Lande auf dem Lande“, die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Am Nachmittag des 24. Mai 1848 verstarb sie vermutlich an einer Lungenentzündung auf Schloss Meersburg; in dem Städtchen ist sie auch begraben. In ihr vermischten sich weibliches und männliches Empfinden, was ihr „jedes Gefühl zwiespältig, fragwürdig und peinigend“ machte, vermutet Alker. „So blieben ihr unmittelbare Glücksmöglichkeiten des Daseins verschlossen.“ Droste dichtete selbst:

„Wär ich ein Jäger auf freier Flur / Ein Stück nur von einem Soldaten, // Wär ich ein Mann doch mindestens nur / So würde der Himmel mir raten; // Nun muss ich sitzen so fein und klar / Gleich einem artigen Kinde, // Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde!“

Ihre Lyrik gehört noch der Romantik, die Judenbuche aber schon dem Realismus an. „Nie zuvor wurde in deutscher Poesie unter Vermeidung der herkömmlichen, abgegriffenen ‚poetischen‘ Mittel sowie der melodischen Reize der Wortmusik, durch Heranziehung des Sprachschatzes des Alltags, der Mundart und der Wissenschaft mit größerer lyrischer Vollkommenheit Natur mit jeder ihrer Formen und Erscheinungen in Worte gefasst“, bilanziert Alker fast enthusiastisch. Ricarda Huch würdigt sie so: „Die Dichtung der Annette ist in Wahrheit eine VerDichtung: Aus tausend Blumenblättern ist ein Tropfen Wohlgeruch gepresst.“ Mit Schiller’schem Pathos nahm Droste gar Nietzsche vorweg:

„Mein Haupt nicht wagt‘ ich aus dem Hohl zu strecken/Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken // Wie Neues quoll und Altes sich zersetzte / War ich der erste Mensch oder der letzte?“

Die Droste auf dem letzten 20-DM-Schein. Quelle: https://www.fembio.org/images/uploads/897/434952.jpg

Mit den Zeilen „Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, antizipierte sie gar ihre Rezeption. Ihre „Entdeckung” hat die Autorin dem Umstand zu verdanken, dass man sie im Kulturkampf der 1870er Jahre zur Galionsfigur stilisierte und sie kurzerhand, versehen mit den Attributen „katholisch” und „westfälisch”, zur „größten deutschen Dichterin” erklärte. Bis in die heutige Zeit wird sie nicht nur im Schulunterricht gelesen, sondern inspirierte ihr Leben und Werk auch zeitgenössische Autoren und besonders Autorinnen, darunter Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen, Sarah Kirsch oder Karen Duve. Ein Brief von ihr an Sprickmann aus dem Jahr 1819 wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufgenommen. Die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes bietet Ansatzpunkte für psychologische und parapsychologische Interpretationen, aber auch für Fehldeutungen im Lichte zeitgenössischer Ideologien. Die Droste bleibt letztlich ein nie ganz ausschöpfbares geniales Dichterphänomen.

„Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften“, beschrieb er in seiner typisch subtilen Ironie die „vage Idee“, die ihn 1978 antrieb, seinen Bestseller Der Name der Rose zu beginnen. Darin setzt er nicht nur seinem Vorbild Arthur Conan Doyle – der Held heißt William von Baskerville nach einer Sherlock-Holmes-Geschichte – ein Denkmal, sondern vor allen Jorge Luis Borges: Dessen magisch-realistische „Bibliothek zu Babel“ inspirierte ihn zu dem Roman; den Bösewicht ließ er Jorge von Burgos heißen. Das erste Jahr der Arbeit „verging mit dem Aufbau der Welt … ausgedehnte architektonische Studien…, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe.“ Der Roman verknüpfte Krimi, Historie, Schauerroman, philosophische und literarische Anspielungen sowie unzählige Zeichen und Rätsel – eine Vielschichtigkeit, die zusammen mit der Ich-Erzählung mittelalterlicher Gedanken- und Gefühlswelten Hunderte von Deutungsversuchen nach sich zog und zieht.

Den „klügsten Mittelalterroman der Welt“ erkennt Constanze Reuscher in der Welt. Der Vatikan verurteilte das Buch als ein „erzählerisches Ärgernis, das die Bedeutung des Glaubens entstellt, entweiht und beleidigt“ – „überambitioniert“ gestand der Autor später selbst. In 40 Sprachen übersetzt und mehr als 14 Millionen Mal verkauft, wurde die vor allem im Kloster Eberbach im Rheingau realisierte Verfilmung von Jean-Jacques Annaud ebenso erfolgreich: innerhalb der ersten 3 Wochen zog der Streifen allein in Deutschland 4 Millionen Zuschauer ins Kino. Die Besetzungsliste liest sich wie ein Who is Who der namhaftesten Schauspieler der 80er Jahre: Von Sean Connery über Christian Slater, Helmut Qualtinger oder F. Murray Abraham bis zu „Hellboy“ Ron Perlman. Wissenschaftliche Arbeiten befassen sich sogar mit dem Einsatz des Films im Geschichtsunterricht.

Umberto Eco. Quelle: Von Bogaerts, Rob / Anefo – http://hdl.handle.net/10648/ad390f7a-d0b4-102d-bcf8-003048976d84; Beeldbank Nationaal Archief, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47166028

Als „Meister der Kolportage“ bleibt er in den vielen Zeit- und Handlungsebenen seiner Romane stets eng an unterschiedlichsten „Quellen, die er mit fiktionalen Mitteln zu spekulativen Erzählungen ausbaut“, so Arno Frank im Spiegel – egal ob es um Verschwörungstheorien geht, jüdische Zahlenmystik, Kaiser Barbarossa oder barocke Expeditionen in die Südsee. Befragt, was er vom damals extrem erfolgreichen Roman Sakrileg von Dan Brown halte, sagte er mit wegwerfender Geste, er kenne das Buch nicht; aber jede der darin beschriebenen Theorien. „Geben Sie mir fünfzig Euro, und ich schreibe Ihnen dieses Buch. Und zwar besser als Dan Brown.“ Dieses Selbstbewusstsein gehörte Umberto Eco, der am 5. Januar seinen 90. Geburtstag feierte.

„auf wundersame Weise vom Glauben geheilt“

Geboren als Sohn eines Buchhalters in Alessandria im Piemont, wird er sich über die Stadt und die Landschaft, den Charakter und die Grundstimmung der dort lebenden Menschen sowie den Alltag in den dreißiger und frühen vierziger Jahren unter Mussolini an mehreren Stellen seiner Werke direkt oder indirekt auslassen. Sein streng katholischer Vater legt ihm ein Studium der Rechtswissenschaften nahe. Da hat sich der Knirps aber längst mit Literatur angesteckt. Im Bücherkeller seines Großvaters verschlang er Jules Vernes, Charles Darwin, Marco Polo und Comic-Hefte. Ab 1948 studierte er in Turin Philosophie und Literatur und promovierte 1955 über Thomas von Aquin. Mit der Kirche hat er gebrochen: „Sie hält uns in Angst vor der natürlichsten Sache der Welt, dem Tod, und lehrt uns Hass auf die schönste Sache, die das Schicksal für uns bereithält, das Leben… Man kann sagen, dass er, Thomas von Aquin, mich auf wundersame Weise vom Glauben geheilt hat.“

Anschließend arbeitete er als Kulturredakteur für den Rundfunksender RAI und später als Sachbuchlektor für den Mailänder Verlag Bompiani, für den er bis 1975 tätig blieb und in dem seither fast alle seine Bücher erschienen sind. Von 1962 bis zu seinem Tod war Eco mit der gebürtigen Deutschen Renate Ramge verheiratet, einer in Frankfurt am Main geborenen Expertin für Museums- und Kunstdidaktik. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Mit dem 1962 erschienenen „Opera aperta“ (deutsch „Das offene Kunstwerk“, 1973) wurde er schlagartig als brillanter Kulturtheoretiker bekannt, der 1963 seine akademische Karriere als Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation am Polytechnikum in Mailand begann, um sie über eine Zwischenstation an der Universität in Florenz schließlich 1975 an der Universität Bologna, der ältesten Universität Europas, zu beenden – auf dem ersten italienischen Lehrstuhl für Semiotik.

Szenenbild aus „Der Name der Rose“. Quelle: https://a2.tvspielfilm.de/imedia/2484/1352484,MjTVw1D3bzurh+7Bm7V5ZGh3buoV99AbhiDheGxUu_rCV8Q3BdM1DxXZOPxS0PzveIisV+FhjwZiGoYtGjA+YQ==.jpg

Sein schon 1968 (deutsch 1973) erschienenes Buch „Einführung in die Semiotik“ gilt bis heute auch international als Standardwerk. Zugleich war er im Umfeld des Gruppo 63 aktiv, einer der literarischen Bewegung der Neoavanguardia zugerechneten Gruppierung. Über seine wissenschaftliche Arbeit hinaus war Eco Mitarbeiter der UNESCO, der Triennale von Mailand, der EXPO 1967 in Montreal, der „Fondation Européenne de la Culture“ und zahlreicher weiterer Organisationen und Akademien. Eco hat in unterschiedlichen Disziplinen Forschung betrieben. Dazu zählten Fächer wie etwa die Geschichte der Ästhetik, der Poetik der Avantgarde, der Massenkommunikation oder die Kultur des Konsums. Seine Essays umfassten Gebiete von der Ästhetik des Mittelalters über die klassische Semiotik als Zeichenlehre bis hin zu Kodizes künstlerischer Kommunikation.

Nach seinem ersten Roman schrieb er seit 1985 regelmäßig – erst wöchentlich, ab 1998 vierzehntäglich – eine Kolumne in der Wochenzeitschrift L’Espresso unter dem Titel „La Bustina di Minerva“ (deutsch: „Streichholzbriefe“). Von diesen hunderten sprachgewitzten Kleinoden Eco’scher Weltbeobachtung sind mehrere Ausgaben auf Deutsch erschienen, am köstlichsten liest sich wohl „Wie man mit einem Lachs verreist“. 1988 erschien dann der Roman Das Foucaultsche Pendel, an dem er nach eigener Aussage acht Jahre schrieb und es fertig brachte, „die Leser der Leichtigkeit vor den Kopf zu stoßen und sie in dem Gewirr der Rätsel einfach alleinzulassen“, so Volker Weidermann im Spiegel. Der Titel bezieht sich auf den bekannten Pendel-Versuch, mit dem der französische Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation laientauglich zur Schau stellte.

„Mischung aus Geheimlehre und Partywissen“

In postmoderner Manier verbindet Eco Motive des Abenteuer-, Historien- und Kriminalromans mit derart zahlreichen gelehrten Bezügen zu Geschichte, Verschwörungstheorien, Esoterik, Philosophie und Physik, dass Anthony Burgess vorschlug, das Buch solle als Enzyklopädie mit einem Register versehen werden. Der Roman wurde – wie auch die folgenden – in alle Weltsprachen übersetzt: Die Insel des vorigen Tages (1995), Baudolino (2001), Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004), Der Friedhof in Prag (2011) und Nullnummer (2015).

Nachdem er sich schon im „Pendel“ ausführlich dem Thema Verschwörungstheorien gewidmet hat, schafft er im „Der Friedhof in Prag“ mit seinem fiktiven Ich-Erzähler Simon Simonini einen berufsmäßigen Fälscher, den er als Hauptautor der Protokolle der Weisen von Zion einführt. Er selbst ist unschwer in der Figur des Commendatore Vimercate in Nullnummer zu entdecken, einem satirischen Roman über die Wirkung von Korruption und Medien auf die moderne Gesellschaft. In einem Zeit-Interview sagte Eco: „Alle meine Bücher handeln von Büchern. Wäre ich Strauss-Kahn, meine Bücher handelten vom Sex. Wäre ich Berlusconi, sie handelten vom Geld.“

„Rose“-Drehort Kloster Eberbach. Quelle: https://www.billiger-mietwagen.de/reisewelt/wp-content/uploads/2018/07/kloster-eberbach-rheingau-deutschland-139408943.jpeg

Einem breiteren Publikum ist der Name Umberto Eco daher vor allem durch diese literarischen Werke bekannt, in denen er bei aller Freude am farbigen Erzählen und an spannenden Plots ausgiebig von Zitaten und Montagetechniken Gebrauch macht, was zu ihrer Charakterisierung als den postmodernen Romanen schlechthin geführt hat. Er selbst stand dem Begriff der Postmoderne eher skeptisch gegenüber und zog es vor, von Intertextualität zu sprechen, d. h. von der inneren Verflechtung und Verwobenheit aller literarischen Texte miteinander. Zu seinem 80. Geburtstag stellte die Welt fest: „Mit ihrer Mischung aus Geheimlehre und Partywissen ebneten Ecos Romane eine Mystery-Straße, die mittlerweile von vielen Dan Browns erfolgreich, wenn auch weniger bildungsbeflissen befahren wird.“

Er war Mitgründer und -herausgeber der Internetzeitschrift Golem l’Indispensabile und verbrachte, obwohl er auch in Florenz und Rom arbeitet, doch den größten Teil seines Lebens mit seiner deutschen Frau in Mailand. „Aber seltsamerweise ist es mir nie gelungen, Mailand als „meine Stadt‘ zu empfinden“, sagte er 2015 in einem Interview mit der Süddeutschen. Erst nach Jahrzehnten habe er sich mit der Metropole ausgesöhnt und in ihr „eine späte Liebe“ gefunden. Ein wesentlicher Teil von Ecos literarischem Werk waren Schriften zur Theorie und Praxis der Zeichen, zur Massenkultur und zur Kunst („Die Geschichte der Schönheit“ und als Gegenstück „Die Geschichte der Hässlichkeit“). In einem 2008 im SZ-Magazin erschienenen Gespräch amüsierte sich Eco über den großen Erfolg der „Geschichte der Schönheit“: „Wir hätten auch ein Telefonbuch unter dem Titel verkaufen können, so sehr rissen sich selbst Verlage aus Osteuropa und Asien um die Rechte.“

Seit 1999 leitete er die Scuola Superiore di Studi Umanistici in Bologna. 2005 wurde Umberto Eco in dem englischen Magazin Prospect nach Noam Chomsky und vor Richard Dawkins zum zweitwichtigsten Intellektuellen weltweit gewählt. Fast drei Dutzend Universitäten rings um den Erdball machten ihn zum Ehrendoktor; außerdem bekam er Dutzende italienische und internationale Buchpreise, vom spanischen Prinz-von-Asturien-Preis über das Große Verdienstkreuz mit Stern der BRD bis zum American Academy Award of Arts and Letters. In Mainz wurde Eco 2014 mit dem Gutenberg-Preis geehrt. Das Kuratorium würdigte seine „brillanten kulturtheoretischen Überlegungen“ und bezeichnete den Norditaliener als „begnadeten Erzähler“, der Millionen von Lesern in Buchkultur und -geschichte eingeführt habe. Er blieb stets überzeugt davon, dass sich noch die dunkelsten Stunden leichter mit Humor durchstehen lassen, und sei es mit Galgenhumor.

„dass es in der Welt keine Ordnung gibt“

Eco avanciert zum „Rundum-Intellektuellen (Reuscher), ja „Allzweck-Intellektuellen, der sich auch für Phänomene des Alltags nicht zu fein ist“, meint Frank. Mit den Werkzeugen der Semiotik zerlegt er alles in unterhaltsame Einzelteile, von Pornodarstellern bis zu Plastikbesteck. Mickey Mouse könne perfekt sein „wie ein japanisches Haiku“, und die unterschiedlichen Betriebssysteme von Apple und Microsoft vergleicht er mit Katholizismus und Protestantismus. Fremd bleiben ihm nur Sport, Kochen, Mathematik, Botanik sowie „alles, was an Unterhaltungsmusik nach den Beatles kam“.

Altersbild in seiner Bibliothek. Quelle: https://media0.faz.net/ppmedia/aktuell/feuilleton/1230837405/1.1087426/default-retina/eco.jpg

Als Bürger und politischer Autor war Eco ein aktiver und vehementer Gegner von Silvio Berlusconi. In zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln hat er dessen Politik scharf kritisiert. Noch kurz vor der Wahl im April 2006, die Berlusconi dann knapp verlor, veröffentlichte Eco seine gesammelten politischen Schriften nochmals in Buchform unter dem Titel Im Krebsgang voran: Heiße Kriege und medialer Populismus. Er zog sich im Oktober 2007 aus der aktiven Lehrtätigkeit zurück und war ab 2008 Professor emeritus, blieb aber politisch „links“: Ohne Utopie, sagt Eco, kann die Menschheit nicht auskommen. Freilich ist die Utopie, da ist er sicher, nur so lange attraktiv, wie sie nicht verwirklicht wird. „Als Lenin die Marx’sche Utopie realisieren wollte, wurde es furchtbar.“ Die Utopie, sagt Eco, „ist kein fixes Ziel, sondern immer ein Horizont in Bewegung“.

Vor dem Aufflammen neuer Religionskriege in einer intoleranten Welt warnte Eco schon 2001 in weiser, aber machtloser Voraussicht. Das „leidenschaftliche Festhalten an vereinfachenden Gegensätzen, wie etwa wir und die anderen, Gut und Böse, Weiß und Schwarz“ seien immer deren Wurzeln gewesen. „Wir begreifen uns als pluralistische Gemeinschaft, weil wir es zulassen, dass bei uns Moscheen gebaut werden, und wir nicht darauf verzichten können, nur weil sie in Kabul die christlichen Propagandisten ins Gefängnis werfen. Wenn wir es doch täten, würden auch wir zu Taliban werden.“ Donnerwetter.

Unter den italienischen Schriftstellern galt Eco immer der beste Wissenschaftler, unter den Wissenschaftlern wiederum war er der beste Schriftsteller. Er war durchaus ein Genussmensch, liebte Zigarillos und Whisky und litt dementsprechend, wenn die Ärzte Verbote aussprachen. Auch dass er im Alter zu kurzatmig war, um seine Barockflöten zu spielen, von denen er eine prächtige Sammlung besaß, bekümmerte ihn. Selten hat ein Intellektueller „seine eigene Intellektualität so souverän als freundliche Einladung an alle, mitzudenken oder zu widersprechen, begriffen, als eine Haltung, die sich dem Publikum ganz grundsätzlich zuwandte, ohne den geistigen Anspruch aufzugeben“, feierte ihn Claudius Seidl in der FAZ.

Insgesamt besaß er 50.000 Bücher, organisierte regelmäßig Bücherverschenkungsaktionen für Studenten, die er „Take a book and run“ nannte. Nachdem er am 19. Februar 2016 in Mailand an den Folgen einer Krebserkrankung starb, wurde seine Bibliothek vom Kulturministerium aufgekauft. Sie soll mit der Rekonstruktion seines Arbeitszimmers an der Universität Bologna einen eigenen Neubau erhalten. Heute sind Universalgelehrte wie er eine aussterbende Spezies. „Ich hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt“, lässt er Bruder William sagen, nachdem seine Suche nach der Aufklärung der Klostermorde in einer Feuerkatastrophe endet.

Für den Wissenschaftler bilanziert Michael Braun in der taz: „Er versteckte sein Wissen nie – doch er setzte es auch nie ein, um sich zu erheben über seine Leser; stattdessen ließ er sie, tatsächlich ohne jeden Anflug von Snobismus, einfach teilhaben an seiner unendlichen Neugier.“ Den Romancier dagegen kann man kaum knapper und treffender würdigen als Christopher Schmidt in der Süddeutschen, für den er „das Individuelle und das Allgemeine in ein anderes Verhältnis setzte und die Historie als Echoraum des Nachdenkens über die Gegenwart rehabilitiert“ hatte. „Der Mann, der alles wusste“, ruft Eco online La Repubblica emphatisch hinterher – und kaum jemand würde dieses Diktum zu einer Übertreibung erklären.

Der Himmelsmechaniker

Als er 1613 seine zweite Frau heiratete, die 18 Jahre jüngere Susanna Reutinger, geschah dies nach einem Auswahlverfahren, bei dem er nicht weniger als elf Kandidatinnen über viele Monate begutachtet hatte. Weil er eine falsche Abrechnung der Weinmenge für seine Hochzeitsfeier vermutete, beschäftigte er sich prompt mit Formeln zur Flächen- und Volumenbestimmung, was 1615 zu seinem Buch „Nova Stereometria Doliorum Vinariorum“ („Neue Raumgeometrie für Weinfässer“) und seiner „Fassregel“ führte, mit der er Flächen und Volumen mit Hilfe von Indivisibilien berechnete. Sie trug maßgeblich zur späteren Infinitesimalrechnung bei. Überhaupt werden ihn Abrechnungen noch über den Tod hinaus beschäftigen: So nahm sein Sohn Ludwig eine kaiserliche Obligation über die dem Vater geschuldeten 12.694 Gulden entgegen – den letzten, ergebnislosen Versuch, diese Honorare einzutreiben, unternahm fast ein Jahrhundert später der Ehemann einer Enkelin von Ludwig.

1619 veröffentlichte er in der fünfbändigen „Harmonia mundi“ („Weltharmonik“) sein drittes und letztes Gesetz der Planetenbewegung: Die zweite Potenz der Umlaufzeit von Planeten verhält sich wie die dritte Potenz ihrer mittleren Entfernung von der Sonne. Oder anders: Die dritten Potenzen der großen Halbachsen der Planetenbahnen verhalten sich wie die Quadrate der Umlaufzeiten. Damit waren die Gesetzmäßigkeiten der Planetenbewegung als Grundlage der modernen Astronomie vervollständigt, die heute als sein größtes Verdienst neben vielen weiteren gelten: Johannes Kepler, der am 27. Dezember 1571 im württembergischen Weil der Stadt geboren wurde.

Als Frühgeburt wurde er immer als schwaches und krankes, dennoch hochbegabtes Kind bezeichnet. Obschon sein Großvater noch Bürgermeister war, befand sich seine Familie im wirtschaftlichen Niedergang. Sein Vater verdiente einen unsicheren Lebensunterhalt als Händler, verdingte sich mehrfach als Söldner und kehrte, als Johannes fünf Jahre alt war, nicht aus dem Krieg zurück. 1575 überstand er eine Pockenerkrankung, die jedoch bleibend sein Sehvermögen beeinträchtigte. Seine Mutter Katharina, eine Leonberger Gastwirtstochter, war Kräuterfrau und vererbte ihm ihre zarte Konstitution. Zwei Erlebnisse blieben ihm besonders im Gedächtnis: der Anblick des Kometen 1577 und die Beobachtung einer Mondfinsternis 1580. Seine Eltern beschrieb er als jähzornig und streitsüchtig; als 25jähriger suchte er in den Geburtskonstellationen seiner Vorfahren nach einer gleichsam entschuldigenden Begründung für deren weniger gute Charaktereigenschaften.

Kepler. Quelle: https://www.kloster-maulbronn.de/fileadmin/Bilder/27_maulbronn_alte-website/Wissenswert_und_Amuesant/Persoenlichkeiten/27_maulbronn_detail_aufnahme_johannes_kepler_museum_infozentrum_dsc_0155_mod_foto-ssg-julia-haseloff.crop859x573.jpg

Nach dem Besuch der Lateinschule in Leonberg erhielt er ein Begabten-Stipendium für ein evangelisches Theologiestudium, für das er 1584 die niedere Klosterschule in Adelberg, 1586 die höhere in Maulbronn besuchte und sich 1589 schließlich an der Artistenfakultät der Universität Tübingen einschrieb. Nach der Magisterpromotion 1591 begann er das 3jährige Studium der Theologie und überwand häufig wiederkehrende Erkrankungen. Als prägendes Element stellte sich damals seine Auseinandersetzung mit dem kopernikanischen Weltbild heraus: Er hörte zum ersten Mal von Kopernikus‘ umwälzender These, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems stehe. Weil sein kritischer Geist nicht mit den Dogmen der lutherischen Orthodoxie übereinstimmte – so hatte er neben der Frage des geozentrischen Weltbildes auch Differenzen in der Lehre über das Abendmahl – bekam er nicht die gewünschte Anstellung als Pfarrer in Württemberg.

Die ersten zwei Kepler‘schen Gesetze

So trat er 1594 eine Stelle als Professor für Mathematik und Astronomie in der obersten Klasse der evangelischen Stiftsschule in Graz an, die mit dem Amt des „Landschaftsmathematikers“ verbunden war – Landesastrologe trifft es eher, denn von ihm wurde die Abfassung des jährlichen Kalenders erwartet, der neben dem Kalendarium vor allem ein angehängtes „Prognosticum“ beinhaltete: Voraussagen über das im kommenden Jahr zu erwartende Wetter, Krankheiten und politische Ereignisse auf der Grundlage der Planetenaspekte. Drei davon sind erhalten, darunter gleich das erste für das Jahr 1594, das ihm erstes Ansehen bescherte: Der vorausgesagte kalte Winter und der prognostizierte Türkenangriff trafen wirklich ein. Dabei kann er auch Einfluss nehmen auf die verderblichen Begierden der sterngläubigen Menge und ihr, als Heilmittel, geeignete Mahnungen einträufeln.

Da er nur wenig, dann gar keine Hörer mehr hatte, wurde er auch zum Unterricht in Arithmetik und Rhetorik, später in noch anderen Fächern herangezogen. Seine Gelehrsamkeit erlaubte ihm, jeglichen Unterricht aus dem Stegreif zu erteilen. Die Grazer Hochschule war das protestantische Gegenstück zur Universität, die von Jesuiten geleitet wurde, und Motor der Gegenreformation. Hier begann Kepler mit der Ausarbeitung einer kosmologischen Theorie, die sich auf das kopernikanische Weltbild stützte, Ende 1596 als „Mysterium Cosmographicum“ erschien und ihn als hoffnungsvollen Nachwuchswissenschaftler bekannt machte. Ein Jahr später heiratete er die 25-jährige Barbara Müller, eine zweifache Witwe mit Tochter: Aufgrund des von ihren Ehemännern ererbten Vermögens eine gute Partie. Das Paar bekam fünf Kinder, von denen zwei ihre Kindertage nicht überlebten.

Geburtshaus von Keplers Mutter in Leonberg. Quelle: eigene Darstellung

Im Zuge der Gegenreformation musste Kepler 1600 Graz verlassen. Er ließ sich in Prag nieder, wo er zunächst als Assistent des dänischen Astronomen und kaiserlichen Hofmathematikers Tycho Brahe tätig war. Obwohl sich beider Begabungen ergänzten – Brahe war ein exzellenter Beobachter, aber kein Mathematiker, der hervorragende Mathematiker Kepler hingegen fast blind – erwies sich die Kooperation als schwierig. Nach Brahes überraschendem Tod 1601 folgte Kepler als kaiserlicher Mathematiker nach und ergänzte die Theorie von Kopernikus um die Annahme einer Ellipsenbahn, auf der sich die Planeten um die Sonne bewegen. Seinen Posten hatte er während der Herrschaft der drei habsburgischen Kaiser Rudolf II., Matthias I. und Ferdinand II. inne und übernahm damit auch die Zuständigkeit für die kaiserlichen Horoskope und den Auftrag, die „Rudolfinischen Tafeln“ zu erstellen: Eine Sammlung von Tabellen und Rechenvorschriften zur Vorhersage der Planetenstellungen als Grundlage von Himmelsberechnungen aller Art wie Finsternisse, Feste oder eben auch Horoskope.

1609 veröffentlichte er als Ergebnis seiner Ellipsentheorie in seinem Hauptwerk „Astronomia nova“ seine Gesetze der Planetenbewegung: Der Mars bewegt sich in einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht (1. Planetengesetz, auch „Ellipsensatz“) und zwar so, dass der Radius Vector (Verbindungslinie Sonne-Planet) in gleichen Zeiten gleiche Flächen bestreicht (2. Planetengesetz). Die Aufgabe, den Ort eines Planeten in seiner Bahn für einen gegebenen Zeitpunkt zu berechnen, konnte er nur indirekt lösen. Die Sonne ist der Sitz einer Kraft, das Planetensystem wird von inneren Gesetzen beherrscht, von physikalischen Kräften regiert – mit diesen neuartigen Gedanken setzte er als erster an Stelle des formalen Schemas früherer Astronomen ein dynamisches System, statt der mathematischen Regel das Naturgesetz, an Stelle der geometrischen Beschreibung der Planetenbewegung die kausale Erklärung. Er begründete damit eine neue Wissenschaft, die Himmelsmechanik.

Optik und Tod

Im Umgang mit Brahes Erbe kam er zur Einsicht, dass dessen vervollkommnete Beobachtungstechnik neuartige und größere Anforderungen auch an die astronomische Optik stellte. So übernahm er die Darstellung der astronomischen „Optik“ in allen ihren Teilen 1604. Der Text fasst Einzelerscheinungen zu einem Ganzen zusammen, das „für die Physik die grundlegende Erklärung des optischen Bildes, die in ihren wesentlichen Zügen endgültige Theorie des Sehvorganges und das Grundgesetz der Photometrie als Vorstufe des Gravitationsgesetzes, für die Astronomie die rechnerische Auswertung der Finsternisse sowie eine rein theoretisch gewonnene verbesserte Refraktionstafel, für die Geometrie endlich eine neue Betrachtungsweise der Kegelschnitte gebracht hat“, so sein Biograph Franz Hammer. Die Auffindung des Brechungsgesetzes ist ihm, in physikalischen Vorstellungen seiner Zeit befangen, nicht gelungen; doch stellte er eine überraschend gute Näherungsformel auf.

Kepplers Modell des Sonnensystems. Quelle: Von Johannes Kepler – Johannes Kepler: Mysterium Cosmographicum, Tübingen 1596, Tabula III: Orbium planetarum dimensiones, et distantias per quinque regularia corpora geometrica exhibens., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37300

1611 verfasste er innerhalb weniger Wochen eines seiner bedeutendsten Werke, in dem er eine neue optische Disziplin vorstellte und mit dem er neben dem Praktiker Galilei als Theoretiker den Siegeszug des Fernrohrs in der Astronomie einleitete: die „Dioptrik“ als Bezeichnung für die Optik der brechenden Medien. Er untersucht darin, geleitet auch von eigener Erfahrung im Schleifen von Linsen und im Bau von Fernrohren, die Wirkungsweise der einzelnen Linsen wie der Kombinationen von solchen und begründet damit die Theorie des nach ihm benannten astronomischen Fernrohrs. Außerdem entdeckte er durch geeignete Kombination einer Konvex- und einer Konkavlinse das Prinzip des Teleobjektivs. Im selben Jahr starb Keplers Frau und erschien auch sein Buch „Über die sechseckige Schneeflocke“ mit der Vermutung des atomaren Aufbaus der Materie, gewonnen durch die Beschäftigung mit Schneekristallen.

Nach dem Tod seines Gönners Kaiser Rudolf II. ging Kepler aus finanziellen Gründen 1612 als Professor nach Linz an die protestantische Landschaftsschule, wo er bis 1626 lehrte. Von den sechs Kindern, die er mit seiner zweiten Frau bekam, starben die drei zuerst geborenen früh. 1613 unterstützte er die Vorschläge von Papst Gregor XIII. zur Kalenderreform. Von 1615 an musste er sich um die Verteidigung seiner Mutter Katharina kümmern, die unter dem Verdacht der Hexerei angeklagt war, nach seinen Intervention 1621 freikam und an den Haftschikanen kurz danach starb. Nach der „Weltharmonik“ bereicherte er 1621 die kopernikanische Lehre durch die These, dass eine von der Sonne ausgehende Kraft die Planetenbewegung verursache – erst Newton wird 1687 die Gravitation entdecken. Kepler wertete die aus wissenschaftlicher Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse höher als ihnen widersprechende Aussagen der kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Zwischen 1618 und 1621 verfasste er den „Abriss der kopernikanischen Astronomie“, der seine Entdeckungen in einem Band zusammenfasste: Das erste Lehrbuch des heliozentrischen Weltbildes.

1626 zwang ihn die Gegenreformation auch zum Verlassen von Linz. Er fand im kaiserlichen General Albrecht von Wallenstein einen neuen Förderer, der von Kepler zuverlässige Horoskope erwartete und ihm im Gegenzug in Sagan (Schlesien) eine Druckerei zur Verfügung stellte. Kepler publizierte 1627 die „Rudolfinischen Tafeln“, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Grundlage für astronomische und astrologische Berechnungen dienten. Ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte war seine Vorhersage eines Venustransits 1631. Mit seiner Einführung in das Rechnen mit Logarithmen trug er zur Verbreitung dieser neuen Rechenart in Deutschland bei. Als Wallenstein jedoch 1630 auf dem Reichstag in Regensburg seine Funktion als Oberbefehlshaber verlor, reiste Kepler dorthin, um seine ausstehenden Gehaltsforderungen einzufordern, was ihm aber nicht gelang. Wallenstein stellte ihm als Herzog von Mecklenburg eine Professur an der Universität Rostock in Aussicht, doch vor deren Antritt starb er am 15. November 1630. Sein Grab und das Grabdenkmal auf dem Regensburger Petersfriedhof gingen im Dreißigjährigen Krieg verloren.

Schöpfung als zusammenhängendes Ganzes

Der Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelische Theologe entwickelte vor allem das heliozentrische Weltbild weiter, indem er es statt eines hypothetischen Modells zur einfacheren Berechnung der Planetenpositionen als eine physikalische Tatsache sah. Als „pythagoreischer Mystiker“ glaubte er, dass die Grundlage der Natur mathematische Beziehungen seien und alle Schöpfung ein zusammenhängendes Ganzes. Das stieß nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei seinen protestantischen Vorgesetzten auf erbitterten Widerstand, da auf beiden Seiten die Lehren von Aristoteles und Ptolemäus als unantastbar galten. Zeitlebens suchte er nach einer Harmonie im Aufbau des Universums, und als tief religiöser Mensch war er davon überzeugt, dass es einen Schöpfungsplan geben müsse, der auf geometrischen Proportionen beruht. Zu einer Zeit, in der zwischen Astronomie und Astrologie noch nicht eindeutig unterschieden wurde, schrieb er: „Ich glaube, dass die Ursachen für die meisten Dinge in der Welt aus der Liebe Gottes zu den Menschen hergeleitet werden können.“

Denkmal für Kepler und Brahe in Prag. Quelle: Von Pmk58 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37738508

Kepler war auch davon überzeugt, dass Himmelskörper irdische Ereignisse beeinflussten. Ein Ergebnis seiner Überlegungen war die richtige Einschätzung der Rolle des Mondes auf die Entstehung der Gezeiten, Jahre vor Galileis gegenteiliger falscher Formulierung. Des Weiteren glaubte er, dass es eines Tages möglich sein werde, eine „wissenschaftliche“ Astrologie zu entwickeln, trotz seiner generellen Abneigung gegen die Astrologie seiner Zeit. Mehr als 800 von Kepler gezeichnete Horoskope und Geburtskarten sind erhalten. „Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt“: Kepler räumte der menschlichen Willkür die Möglichkeit ein, himmlische Zwänge zu durchbrechen und von dem astrologisch vorgezeichneten Weg abzuweichen. Wallenstein soll er für 1634 erhebliche Schwierigkeiten vorausgesagt haben: In dem Jahr wurde der Generalissimus tatsächlich ermordet.

1608 schrieb Kepler die Erzählung „Somnium“ („Der Traum“), die so realistisch wie damals möglich eine Mondfahrt beschreibt. Man kann sie als eine der ersten Science-Fiction-Erzählungen bezeichnen. Sie wurde 1634 postum von seinem Sohn veröffentlicht und erst 2011 vollständig übersetzt auf Deutsch publiziert. Zu einer bedeutenden, aber wenig gewürdigten Erfindung führte eine andere Gelegenheitsarbeit, zu der Kepler durch Gespräche mit einem Bergwerksbesitzer angeregt wurde. Dabei ging es um die Entwicklung einer Pumpe, mit der Wasser aus Bergwerksstollen herausgehoben werden sollte. Nach fehlgeschlagenen Experimenten kam Kepler der Gedanke, zwei in einem Kasten angebrachte „Wellen mit je sechs Hohlkehlen“, also Zahnräder mit abgerundeten Ecken, mit einer Kurbel anzutreiben, so dass die Radhöhlungen das Wasser nach oben beförderten. Er hatte eine ventillose und daher fast wartungsfreie Zahnradpumpe erfunden, die heute in prinzipiell gleichartiger Form in Automotoren als Ölpumpe eingebaut wird.

Keplers Ehrungen sind kaum überschaubar. Die Linzer Universität wurde nach ihm benannt, viele Schulen, geographische Orte nicht nur auf der Erde, selbst eine Palmenart. Eine Büste Keplers wurde 1842 in die Walhalla aufgenommen. Paul Hindemith setzte ihm mit seiner Oper Die Harmonie der Welt ein musikalisches Denkmal. Die Kepler-Gesellschaft verleiht seit 2006 Kepler-Preise an Schüler aus den 22 Kepler-Gymnasien der EU. Die Oper Kepler von Philip Glass wurde als Auftragswerk für Linz als Kulturhauptstadt Europas 2009 uraufgeführt. Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnert mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 15. November an ihn. Leonberg und Weil der Stadt, wo es neben Museen etwa einen „Planetenweg“ gibt, erklärten 2021 zum Kepler-Gedenkjahr.

Er hielt einige Rekorde, manche davon wie seine zehn Bambis haben immer noch Bestand. So galt er seit 2001 als der weltweit älteste aktive darstellende Künstler: Insgesamt stand er 90 Jahre auf der Bühne und 87 vor der Kamera. Am Silvestertag 1938 gab er mit Nelke im Knopfloch, weißen Handschuhen und langem, weißem Seidenschal erstmals den Grafen Danilo in der Lustigen Witwe am Münchner Gärtnerplatztheater – eine Rolle, die er danach über viereinhalb Jahrzehnte hinweg bis 1983 mehr als 1600-mal verkörperte. Von 1996 bis 2001 spielte er in dem von Curth Flatow für ihn geschriebenen Stück Ein gesegnetes Alter als weltweit ältester Schauspieler, der über 250-mal en suite in der Hauptrolle eines Drei-Stunden-Stücks auf der Bühne stand: Johannes „Jopi“ Heesters, der am Weihnachtstag 2011 als damals zweitältester lebender deutscher Mann in Starnberg starb.

Als Johannes Marius Nicolaas Heesters am 5. Dezember 1903 im niederländischen Amersfoort als jüngster von vier Kaufmannssöhnen geboren wurde, gab es noch kein Radio und keinen Fernseher. In Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II.; in Detroit ließ Henry Ford sein erstes Auto vom Fließband. Als Junge hat er geboxt und beim holländischen Renommierklub Ajax Amsterdam Fußball gespielt. Heesters, der spätere „Dandy des Jahrhunderts“, wollte eigentlich Priester und dann Kaufmann werden, verfiel jedoch, nachdem er mit 16 zum ersten Mal ein Theater von innen gesehen hatte, sofort der Schauspielkunst und gründete mit Freunden eine Theatergruppe. Schon damals fiel er als Sänger auf und ließ sich, dem Rat der anderen folgend, am Amsterdamer Operettentheater ausbilden. Im Dezember 1927 sang er bei Harry Frommermann vor, der die Comedian Harmonists gründete, lehnte ein Engagement jedoch ab, als dieser ihm sagte, er würde für die nächsten Monate keine Gage bezahlen können.

Schnell feierte er in seiner Heimat Erfolge als Operettentenor, und auch seine Frau Louise Ghijs („Wiesje“), die er 1928 in Rottterdam kennen lernte und die 1985 starb, war ein junger Operettenstar. Der Ehe entstammten in den 1930er Jahren zwei Töchter, die ebenfalls erfolgreiche Künstler wurden. Jopies Durchbruch begann 1934 an der Wiener Volksoper in der Titelpartie von Carl Millöckers „Bettelstudent“. Als ihn ein Jahr später die Komische Oper Berlin abwarb, spielte Heesters diese Rolle auch in der opulenten Ufa-Verfilmung von 1936, mit Carola Höhn und der vom Varieté kommenden Marika Rökk, die bald Heesters´ wichtigste Filmpartnerin wurde. Es folgten binnen kürzester Zeit die Ufa-Filme „Das Hofkonzert“, „Wenn Frauen schweigen“ und „Gasparone“, mit denen der Beau aus Holland in typischer Befrackung endgültig zum „Typus des amerikanischen Tonfilmcharmeurs“ avancierte. Ihm wurden zahllose Affären nachgesagt.

Heesters. Quelle: https://apps-cloud.n-tv.de/img/5045171-1324745440000/3-4/750/jopi4-grau.jpg

Heesters´ Startposition in Berlin war glänzend, waren doch die berühmten jüdischen Operettenstars samt und sonders aus Deutschland vertrieben worden. Mit Operettenmelodien und Songauskopplungen seiner Filme wurde er jetzt auch zum Plattenstar: Man müsste Klavier spielen können oder Ich knüpfte manch zarte Bande wurden ganz große Hits. Sein größter allerdings war als Danilo Heut geh ich ins Maxim, den Heesters bis ins Greisenalter reflexhaft abrufen konnte, als sei er darauf programmiert. Allein im Berliner Admiralspalast haben ihn zwischen 1939 und 1941 fast eine halbe Million Zuschauer dafür bejubelt.

Seine lässige Eleganz, mit sich der Heesters in Revuefilmen wie Nanon (1938), Hallo Janine (1939) oder Jenny und der Herr im Frack (1941) auf Showtreppen bewegt, lässt die Streifen heute noch wie ganz großes Kino erscheinen. „Er machte die Operette intelligent, allein durch seine abgefeimte Kunst des Pointierens. Was Johannes Heesters auch künstlerisch anfasste, er verwandelte es in eine Wolke farbensprühender Luftballons. Und ließ sich von ihnen ins Himmelblau ziehen“, meinte Klaus Geitel in der Welt. Zu seinen größten Fans zählte Adolf Hitler, der Heesters zu seinem Lieblings-Danilo erkor, sowie Joseph Goebbels, der ihn 1943 mit dem Zusatz „Ausländer“ auf die sogenannte Gottbegnadeten-Liste setzte. Sympathiebekundungen von ihm für das Regime sind nicht bekannt. Er nahm weder die deutsche Staatsangehörigkeit an, zu der ihn Goebbels drängte, noch war er NSDAP-Mitglied.

„aus Platzgründen“ wieder ausgeladen

Nach dem Krieg wurden Heesters’ Filme – im Gegensatz zu einigen Filmen mit Heinz Rühmann (etwa Quax, der Bruchpilot) – vom Alliierten Kontrollrat nicht als NS-Propaganda eingestuft, sie hätten dem NS-Regime nur zur Ablenkung und Ruhigstellung der Bevölkerung gedient. So konnte er seine Karriere bruchlos fortsetzen. Die 1944 von der Terra Film produzierte Operettenverfilmung Die Fledermaus wurde am 16. August 1946 in Ost-Berlin als erste deutschsprachige Produktion in der sowjetischen Besatzungszone uraufgeführt. Neue Unterhaltungsstreifen wie Wenn eine Frau liebt (1950) mit Hilde Krahl,  Operettenverfilmungen wie Die Czardasfürstin (1951) und Die geschiedene Frau (1953) mit Marika Rökk oder das Singspiel Im weißen Rößl (1952) mit Johanna Matz als Rößlwirtin ließen die Kinokassen klingeln.

Heesters im „Weißen Rössl“. Quelle: https://programm.ard.de/sendungsbilder/original/960/141242960.4c86929d-91c2-4ec2-8bae-6fac450c5630.jpeg

1953 engagierte ihn Otto Preminger für den Film Die Jungfrau auf dem Dach nach Hollywood. Von weiteren Auftritten in den USA sah er ab: Er müsse sich schon anstrengen, richtig Deutsch zu sprechen; da auch noch Englisch zu lernen habe er keine Lust, ließ er verlauten. In den 1960er und 1970er Jahren war er in zahlreichen Fernsehfilmen, Theateraufzeichnungen und Fernsehshows zu sehen. Und weil sie jetzt unterging, die gute alte Operettenwelt der Grafen und Galane, widmete sich Heesters nun dem Musical und den Möglichkeiten des Fernsehzeitalters getreu seiner Devise: „Wenn man zu sehr den alten Dingen nachhängt, versäumt man die Zukunft.“ 1978 erschienen seine Memoiren: Es kommt auf die Sekunde an. Anfang des neuen Jahrtausends kommen ein weiterer Band sowie mehrere Fotobücher und Biographien auf den Markt.

750 Mal – bis zu seinem 80. Geburtstag – spielte er ab Mitte der siebziger Jahre am Münchner Gärtnerplatztheater die andere große Lebemann-Rolle seiner Karriere: den Honoré Lachailles in Frederick Loewes Erfolgsmusical Gigi. „Er war Deutschlands professionellster Hallodri. Wie andere Schweiß versprühten, so versprühte er Charme“, befand Geitel. Später kehrte er auch ans Theater zurück, spielte im zarten Alter von 86 Jahren den gealterten Casanova auf Schloss Dux. 1992 heiratete Heesters die Schauspielerin Simone Rethel, fast 46 Jahre jünger als er, die schon als Elfjährige in ihn verknallt war. Wer je erlebte, wie fürsorglich und geduldig sie mit ihrem greisen Mann umging, der zuletzt kaum mehr hörte und komplett erblindet war, ahnt, was sie geleistet hat. 2003 standen sie in der Stuttgarter Komödie am Marquardt sogar gemeinsam auf der Bühne.

Die Deutschen liebten ihren Jopie vorbehaltlos, seine holländischen Landsleute aber haben ihm die Karriere in Nazi-Deutschland schwer verübelt. Für sie war Heesters ein Kollaborateur, Auftritte in Holland wurden ihm verwehrt. Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch soll ihn 1985 für den Roman Höchste Zeit als Vorbild für einen Operettenkollaborateur genommen haben. Dass er nicht einmal zum 100. Geburtstag offizielle Glückwünsche aus seiner Heimat bekam, hat ihn getroffen. Umso beseelter war er, als er im Februar 2008 nach fast einem halben Jahrhundert wieder in seiner Geburtsstadt Amersfoort auftreten durfte. Von einem Staatsbankett, das Bundespräsident Christian Wulff für die niederländische Königin Beatrix gab, wurde er „aus Platzgründen“ wieder ausgeladen – auch der Stachel sitzt tief. Noch 2008 setzte sich Heesters vor Gericht gegen Behauptungen zur Wehr, er sei 1941 bei einem befohlenen Besuch des Gärtnerplatz-Ensembles im KZ Dachau dort auch aufgetreten. Der KZ-Besuch selbst ist unumstritten.

„absolute Ausnahmeerscheinung“

Zu seinem 95. Geburtstag hatte der Jahrhundert-Charmeur Heesters 1998 bei einer Wetten dass…?-Sendung als Wetteinsatz angeboten, dass er zu seinem 100. Geburtstag wieder in die Sendung käme, falls er mit seiner Meinung falsch läge und das mit dem Lied Ich werde 100 Jahre alt, darauf könnt ihr bauen! untermauert. 2003 konnte er sein Versprechen wahr machen. Anlässlich seines 100. kündigte er an, dass er erneut Gesang studieren möchte: „Meine letzte Gesangsstunde ist schließlich schon 40 Jahre her“. Im Herzen blieb ich jung, sang er in einem seiner jüngeren Lieder. Er machte regelmäßig Fitnesstraining und liebte seine Arbeit, von der er bis zuletzt nicht abließ. 2002 spielte er den alten Diener Firs in Tschechows Kirschgarten.

Heesters bei Wetten dass. Quelle: https://www1.pictures.gi.zimbio.com/Wetten+dass+From+Stuttgart+1TcVQgFNAD6x.jpg

Den 104. Geburtstag feierte er singend im Berliner Admiralspalast, zum 105. trat er in Hamburg im Winterhuder Fährhaus als Kaiser Franz Joseph im Weißen Rössl auf. Und jedes Jahr gab es seit dem Hundertsten einen Bambi. 2007 nahm er mit Claus Eisenmann, dem ehemaligen Sänger der Söhne Mannheims, bei einem Hip-Hop-Label die Maxi-Single Generationen auf; im Sommer 2010, mit sagenhaften 106 Jahren, trat er im Berliner Ensemble in einer kleinen Rolle als König in einem Hochhuth-Stück auf. Mit 107 hörte er seiner Frau zuliebe mit dem Rauchen auf. Und während er im Dezember 2011 schon im Krankenhaus lag, ist in München der Kurzfilm Ten herausgekommen, in dem Jopie den Petrus spielt: Seine letzte Rolle war der Himmelspförtner. Es gibt einen Witz, den Heesters ganz gern selbst erzählte: Es ist 4 Uhr nachts, jemand pocht laut an die Pforte. Jopi quält sich aus dem Bett und sieht, nachdem er zur Tür schlurfte und sie öffnete, den Tod stehen. Da dreht er sich um und ruft: „Simone! Für dich!“

Heesters spielte, solange er fit war, denn: „Soll ich zuhause sitzen und warten, bis man mich holt?“, wie er einmal sagte. „Man kann ihn als absolute Ausnahmeerscheinung bezeichnen“, zitiert der Wiener Kurier Heesters Arzt aus Starnberg. „Es gibt keine auffälligen Werte, Puls, Lunge, Herz, alles ist in Ordnung, er benötigt keine Medikamente.“ Der ewige Grandseigneur, der sein Archiv bereits 2004 der Akademie der Künste in Berlin übergeben hatte, verkörperte eine versunkene Welt. Heesters wollte immer gefallen, was seine größte Stärke, gleichzeitig aber auch seine größte Schwäche war. Niemand genoss den Beifall des Publikums so, zelebrierte den Applaus so gekonnt wie Johannes Heesters, hat seine Kollegin Dagmar Koller einmal über ihn gesagt. Sein Grab auf dem Münchner Nordfriedhof ist einem steinernen Theaterauditorium nachempfunden – mit seiner Büste auf der Bühne.

« Neuere Artikel - Ältere Artikel »