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Seine konfuse deutsche Rezeptionsgeschichte hängt damit zusammen, dass er erst in der Mitte der dreißiger Jahre erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Aber die drei Romane  „Licht im August“, „Wendemarke“ und „Absalom, Absalom“ stehen in seinem Gesamtwerk nicht an erster bis dritter, sondern an zwölfter, sechzehnter und siebzehnter Stelle. Dazu sind die Übersetzungen, über mehrere Verlage verteilt, so Günter Blöcker 1956 in der Süddeutschen Zeitung, „in so krausem Durcheinander erschienen, dass weder die innere und äußere Kontinuität des Werkes noch seine kompakte Einheitlichkeit hinreichend deutlich werden.“ Westdeutsche Leser dürften die oft ohnehin komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse und Familiengeschehnisse kaum noch durchschauen.

Die meisten seiner Romane und Kurzgeschichten spielen in dem fiktiven Yoknapatawpha County, das von seinem realen Wohnsitz, dem Lafayette County, inspiriert wurde. Der Quartalstrinker, der sich auch nach Genuss beträchtlicher Whiskymengen stets peinlich korrekt verhalten hatte, beschrieb Neger, Seeleute, Bettler und Huren, Schwachsinnige und Schwarzhändler, Polizisten und Priester, er übte sich in der Niederschrift innerer Monologe und bekundete seine Vorliebe für Skurrilität, bissigen Humor und dramatisch gesteigerten individualistischen Realismus. Er schraubte übrigens den Türknauf seines Arbeitszimmers ab, um konzentriert und ohne Ablenkung zu schreiben: William Cuthbert Faulkner, der am 25. September 1897 als erster von vier Söhnen eines verarmten Kleinindustriellen in Oxford (Mississippi) geboren wurde.

Schon als Kind las er Shakespeare, Conrad und Balzac, verließ aber mit 17 Jahren die Schule ohne Abschluss und erhielt eine Anstellung in der Bank seines Großvaters. Dabei begann er zu zeichnen und zu schreiben. Bei Kriegseintritt der USA meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe, wurde aber abgelehnt, da er nur 1,67 Meter groß war. Ab 1918 belegte er einige Kurse an der University of Mississippi in Oxford und veröffentlichte in der Universitätszeitung Zeichnungen, Gedichte und Prosa. Im Herbst 1921 arbeitete er mehrere Monate bei einem Buchhändler in New York, danach bis 1924 als Leiter der Poststelle der University of Mississippi.

Faulkner. Quelle: https://media2.nekropole.info/2012/09/William-Faulkner-9292252-1-402.jpg

Im selben Jahr erschien sein erstes Buch, der Gedichtband „Der Marmorfaun“. 1925 lernte er in New Orleans den Schriftsteller Sherwood Anderson kennen und fand Gefallen an dessen Lebensgewohnheiten: Morgens Arbeit, abends Zeit für die eine oder andere Flasche Whisky – wenn so der Arbeitstag für Schriftsteller aussah, meinte Faulkner, war Schriftstellerei für ihn der passende Beruf. Seinen ersten Roman „Soldatenlohn“ schloss er im Mai 1925 ab. Wochen später reiste er mit einem Freund erst nach Italien, dann über die Schweiz nach Frankreich, wo er sich lange in Paris aufhielt. Ab 1928 schrieb Faulkner innerhalb von acht Jahren seine vier bekanntesten Romane, darunter „Schall und Wahn“, der, fünfmal umgeschrieben, in der BRD erst 1956 erschien, sowie zahlreiche Kurzgeschichten.

„die Kontrolle zu verlieren“

1929 heiratete er seine Frau Estelle, die er schon lange verehrt hatte und die zuvor mit einem anderen Mann verheiratet war. Weil das Eheleben durch ökonomische Probleme geprägt war, mussten sie in einem Mietshaus leben und Faulkner als Aufseher im Heizwerk der Universität arbeiten. Wachsende Einkünfte ermöglichten dem Paar, das Parkhaus Rowan Oak in Oxford mit weißer Säulenfassade und 700 Morgen Land zu kaufen, das Faulkner bis zu seinem Tod bewirtschaftete: „Ich bin kein Literat, ich bin Farmer“, wird er später sagen. Der recht freizügige, im Pulp-Fiction-Stil verfasste Roman „Die Freistatt“ (1931), der die weibliche Sexualität und den moralischen Verfall behandelt, wurde zum bisher größten Erfolg und machte Faulkner auch im Vereinigten Königreich und in Frankreich bekannt. Im selben Jahr starb, gerade neun Tage alt, die erste Tochter Alabama.

1932 schloss er einen Vertrag mit Metro-Goldwyn-Mayer und schrieb fortan Drehbücher für die Filmindustrie in Hollywood. Darunter waren die Verfilmungen von Raymond Chandlers „Tote schlafen fest“ und Ernest Hemingways „Haben und Nichthaben“, beide unter der Regie von Howard Hawks,  mit dessen Scriptgirl Faulkner eine zehn Jahre währende Affäre hatte. Die zierliche blonde Meta entflammte den schüchternen, „sexuell ausgehungerten“ Faulkner so, dass er „fürchtete, die Kontrolle zu verlieren“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Ihr Liebeslager schmückte er gern mit Gardenien- und Jasminblüten, und unters Kopfkissen legte er eigene erotische Verse und Zeichnungen über ihre „wilden Liebesakte“. Sie werden heute im „Giftschrank“ in der Faulkner-Sammlung der New York Public Library aufbewahrt.

Wohnhaus in Oxford. Quelle: Von Gary Bridgman – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1810643

1933 wurde seine Tochter Jill geboren. In den nächsten Jahren schrieb er diskontinuierlich weitere Romane und Erzählungen; so begann er die Snopes-Trilogie, die er erst kurz vor seinem Tod beendete. Er schrieb in langen, labyrinthischen Sätzen, kreierte Handlungsspiralen, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durcheinanderkreisten, verband Redensarten und Slangschlenker und war doch Traditionalist, konservativ. Dass die Mehrheit recht habe – Glaubenssatz der Demokratie -, konnte ihm niemals einleuchten; er jedenfalls möchte auf keinem Schiff reisen, sagte er, über dessen Navigation die Matrosen und der Schiffskoch abstimmten. Neuerungen gegenüber war er skeptisch eingestellt, er schaffte sich lange kein Radio an und zögerte auch den Kauf eines Autos hinaus. Und er erklärte, wenn es wegen der Farbigenfrage zu einem Bürgerkrieg käme, würde er auf Seiten des Südens kämpfen.

Faulkner bewarb sich bei der US-Armee, um im Zweiten Weltkrieg mitzukämpfen, wurde aber wieder abgelehnt. 1948 erschien der Roman „Griff in den Staub“, der kurz nach Erscheinen in Faulkners Heimatort Oxford verfilmt wurde, was sehr zu seiner Popularität in Oxford beitrug. 1949 begann er eine Affäre mit der wesentlich jüngeren Schriftstellerin Joan Williams, der er auch als Ratgeber diente und der zahlreiche Reflexionen Faulkners zu seinem Werk zu verdanken sind. 1950 wurde ihm der Nobelpreis für seinen „machtvollen und unabhängigen künstlerischen Beitrag zur neuen Erzählliteratur Amerikas“ verliehen. Die Nachricht erreichte ihn beim Düngen auf der Farm.

Erst seine Tochter konnte ihn überreden, nach Stockholm zu fahren. Der Preis gelte nicht ihm als Person, sondern seinem Werk, sagte er und spendete einen Teil seines Preisgeldes einer Stiftung zur Unterstützung von Nachwuchsautoren, die bis heute den PEN/Faulkner Award for Fiction vergibt: „Wenn ich nicht gelebt hätte, würde mich jemand anders geschrieben haben: Hemingway, Dostojewski, wir alle. Der Künstler ist nicht von Wichtigkeit.“ Der Spiegel befand: „Der Süden mit seinen provinziellen Städten und der von Sonne bedrückten Unendlichkeit der Baumwollfelder, ein Land, erobert und geprägt von den Weißen, getränkt vom Schweiß der Neger, wird in Faulkners Romanen zu einer fast mythischen Landschaft, über der wie Gewitterschwüle ein schwerer Fluch zu lasten scheint“.

Ein  „homerischer Provinzler“

In den Jahren nach der Nobelpreisverleihung wurden seine Werke deutlich moralischer – und wahrnehmungsstärker; er erhielt mehrfach den Pulitzerpreis und den National Book Award. Das als Drama verfasste „Requiem für eine Nonne“ ist die Fortsetzung von „Freistatt“ und hat die Sittlichkeit des Menschen zum Thema. 1957 und 1958 war Faulkner „Writer in Residence“ an der University of Virginia in Charlottesville, wo auch seine Tochter lebte und wo die Studenten dem gemeinhin wenig interviewfreudigen Romancier über 2.000 Fragen stellten, die samt Antworten auf 37 Tonbändern konserviert wurden. Ihm seien alle seine Bücher „vollständig misslungen“, und dies sei für ihn „der einzige Grund, Neues zu schreiben, denn das Schreiben selber ist wahrhaftig kein Vergnügen“, heißt es da. Oder „Ich glaube nicht, dass ein College dazu verhilft, Schriftsteller zu werden; ebenso wenig hindert es daran, Schriftsteller zu werden.“

Faulkners Schreibmaschine. Quelle: Von Gary Bridgman – own work, http://www.southsideartgallery.com, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1810998

Seinen letzten Roman „Die Spitzbuben“ schrieb er 1961 innerhalb weniger Wochen. Nach einem Pferdesturz kam der begeisterte Reiter, Jäger und Flieger am 5. Juli in eine Klinik und starb dort am Folgetag an einem Herzinfarkt, der auf eine Thrombose als Folge des Reitunfalls zurückgeführt wurde. In Deutschland, wo er in Ost und West verlegt wurde, beeinflusste er wesentlich das Schaffen von Heinrich Böll, Alfred Andersch, Uwe Johnson und Peter Handke. Sein vielschichtiges Gesamtwerk gebe „den geistig-kulturellen Untergang des Südens sowie den wachsenden Einfluss skrupelloser Aufsteiger nach dem Bürgerkrieg“ sowie „die Dekadenz ehemals angesehener Südstaatenfamilien und die Gegensätze zwischen weißen und schwarzen Einwohnern“ wieder, weiß der Brockhaus. Romancier Arno Schmidt, in Vulgärsprache wohlgeübt, hat als sechzehnter seine 15 Übersetzer-Vorgänger allesamt an Fertigkeit übertroffen.

„Der Schriftsteller ist nur seiner Kunst gegenüber verantwortlich. Er wird völlig gewissenlos sein, wenn er ein guter Schriftsteller ist. Er hat einen Traum. Der ängstigt ihn so sehr, dass er ihn loswerden muss. Er hat keinen Frieden bis zu diesem Augenblick. Er wirft alles über Bord: Ehre, Stolz, Anstand, Sicherheit, Glück – alles, um das Buch fertig zu bekommen“, behauptete Faulkner. „Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz“, ist eine seiner vielen Lebensweisheiten. In deutschen Kritiken ist von „stenographischer Poesie“ eines „homerischen Provinzlers“ zu lesen, ja eines cholerischen, „menschenfeindlichen und hoffnungslos bornierten literarischen Hinterwäldlers“. Er sei so widersprüchlich wie seine Figuren, meinte Tom Noga im DLF. Das kann man so stehen lassen.

Weil ein Winnetou-Kinderfilmbuch „rassistische Stereotype“ reproduziere und Völkermord „romantisiere“, nahm es der Ravensburger Verlag vom Markt. Das ist der Endsieg des Zeitgeists über die Kultur.

Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Er stand für Lebensfreude, ewige Jugend, basslastige Hits mit Streicherarrangements – und für ein Genre. Er trug glitzernde Anzüge, Damenschuhe, Federboas und Zylinder und klebte sich Anfang 1971 für einen Auftritt in der populären Fernsehsendung Top of the Pops glitzernde Sternchen ins Gesicht: Der Glam Rock war geboren, dem sich Stars wie Gary Glitter, Slade, Sweet, Mud oder auch David Bowie verschrieben. Dieter Bohlen nannte seinen ersten Sohn in Erinnerung an ihn „Marc“: Marc Bolan. Der Sänger, Komponist, Autor und Journalist kam am 30. September 1947 als Mark Feld in London zur Welt.

Als Sohn jüdischer Eltern wuchs er in einfachen Verhältnissen auf und entwickelte durch die Plattensammlung seiner Eltern seine erste Beziehung zur Musik. Als er acht Jahre alt war, kaufte ihm sein Vater eine Platte von Bill Haley, die nach seinen Worten den Ausschlag für seine spätere Karriere geben sollte. Er brachte sich auf selbstgemachten Instrumenten das Gitarrespielen bei und gründete 1956, nachdem er seine erste Gitarre geschenkt bekommen hatte, in der Schule eine Skiffle-Band namens Susie and the Hula Hoops. 1962 wurde er wegen schlechten Benehmens relegiert und schlug sich mit Gelegenheitsjobs als Barkeeper und Garderobier in der Mod-Szene, aber auch als Schauspieler durch.

Sein gutes Aussehen brachte ihm kurzzeitig einen Job bei einer Modelagentur ein, doch 1964 entschied er sich für eine Karriere in der Musik, jobbte als Straßenmusiker mit Songs von Bob Dylan und erhielt 1965 seinen ersten Plattenvertrag bei Decca, die seinen Namen ohne seine Zustimmung in Marc Bowland änderte. Er bestand darauf, den Namen Bolan zu schreiben. 1967 tourte er mit „John’s Children“ als Vorband für „The Who“ durch Deutschland und gründete mit Steve Peregrin Took die akustische Formation „Tyrannosaurus Rex“. Bolan schrieb, ganz dem Geschmack der Hippie-Kultur entsprechend, Songs über Feen, Elfen und Zauberer, die er mit psychedelischen Sounds versah. Die Band stach durch den ungewöhnlich hohen Gesang Marc Bolans und die stimmlichen Improvisationen der beiden Musiker hervor, die sie akustisch, mit Gitarre und Percussion, auf einem Teppich sitzend, vortrugen.

Quelle: https://www.sundaypost.com/wp-content/uploads/sites/13/2017/09/59b7e6588cda0-e1505388180536.jpg

So lernte sie der aufstrebende US-amerikanische Produzent Tony Visconti kennen, der maßgeblich an der Entwicklung des streicherspezifischen Gruppensounds beteiligt war und 1970 den Namen zu „T. Rex“ verkürzte: „Was ich in ihm sah, war pures Talent. Ich habe Genie gesehen. Ich habe in Marc einen potenziellen Rockstar gesehen – von der ersten Minute an, als ich ihn kennengelernt habe.“ Bolan schrieb auch Gedichte und Geschichten, veröffentlichte 1969 „The Warlock of Love“, das in die britischen Bestseller-Charts kam, und heiratete 1970 June Child. In neuer und erweiterter Besetzung entstand im Hochzeitsjahr mit „Ride a white swan“ der erste Hit: Die Geburtsstunde der „T.Rextasy“.

Seiner Zeit voraus

Ab 1971 hatte die Band vier Nr.1-Hits in Folge. Der fünfte im September vor 50 Jahren schaffte es „nur“ auf Platz 2, gehört aber zu den unsterblichen Hymnen der Musikgeschichte: „Children of a Revolution“. Elton John und Ringo Starr traten bei der Aufnahmesession als Gastmusiker auf: „Jeder wollte ein Stück Bolan, und er war das Gesicht einer ganz neuen Generation, die ihre Stimme laut und deutlich hörbar machte“, schrieb Joe Taysom im faroutmagazine. Eigentlich nur als Zugabe für den Soundtrack zu Starrs Bolan-Film „Born to Boogie“ gedacht, wurde der Song in zahlreichen Werbespots eingesetzt und vielfach gecovert, so von Bono, Elton John oder den Scorpions. Später wurde eine 12-Minuten-Version für das dritte T. Rex-Album produziert. Der Refrain „You Won’t Fool the Children of the Revolution” wurde zum geflügelten Wort und gab auch Kunstprojekten ihren Namen. „T. Rex“ wurden bisweilen schon als Nachfolger der „Beatles“ angesehen.

Doch der Erfolg verkehrte sich von nun an in eine tragische, von Drogenexzessen, Alkohol, Dekadenz und Selbstzweifeln durchwobene Geschichte eines fallenden Rockstars. Das bis zur Peinlichkeit übertriebene Bühnengehabe Bolans, durch das er seine Bandkollegen zu Hintergrundstatisten degradierte, führte zunehmend zu schlechten Kritiken, und die Fans verloren das Interesse. Als er sich auch bei der Produktion für das nächste Album in den Vordergrund drängen und auf Tony Viscontis Vorschläge nicht länger eingehen wollte, verließ dieser schließlich das Team. Bolan trennte sich dann auch von seiner Frau, löste die Band vorübergehend auf und ging aus steuerrechtlichen Gründen nach New York, wo er mit seiner Freundin Gloria Jones zusammenlebte.

T.Rex. Quelle: https://i.ytimg.com/vi/wZkTh_T75QY/maxresdefault.jpg

Als sie schwanger wurde – Sohn Rolan kam 1975 zur Welt –, versuchte Bolan, T. Rex wieder aufleben zu lassen. Die Platten stiegen nicht mehr so hoch in die Charts ein wie früher, aber er schaffte es noch immer, Hallen auszuverkaufen. Er wurde auch journalistisch tätig, bekam eine eigene Kolumne beim Record Mirror und eine eigene Fernsehshow „Marc“ bei Granada. Hier erwies sich Marc Bolan als seiner Zeit voraus und engagierte Bands wie die „Boomtown Rats“ oder „The Jam“. Damit gab er der gerade entstehenden Punk-Bewegung eine Bühne; auf seiner letzten großen Tour engagierte er „The Damned“ als Vorband. Spätere Größen wie Bob Geldof oder Billy Idol hatten in der „Marc“-Show ihre ersten Fernsehauftritte überhaupt. In seiner letzten Show war David Bowie zu Gast.

Am 16. September 1977 verlor Gloria Jones in London die Kontrolle über Bolans Mini, mit dem sie ihren Freund nach einem Restaurantbesuch heimfahren wollte, prallte gegen einen Betonpfahl am Straßenrand und dann gegen einen Baum. Marc Bolan war sofort tot, Jones überlebte schwer verletzt. Um die Unfallursache ranken sich bis heute Gerüchte, die von zu niedrigem Reifendruck bis zu einem Reifenschaden und unzureichend angezogenen Radmuttern reichen. Am Unfallort befindet sich heute eine Gedenkstätte. Maria Callas starb übrigens am selben Tag, doch ihr Tod wurde in Großbritannien weniger beachtet.

Gedenkstätte. Quelle: Von Britmax at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4552264

2020 erschien mit „Angel Headed Hipster” ein Tribute-Album, auf dem Bolan Stars wie U2, Joan Jett, die Lennon-Söhne, Nena oder Nick Cave ihre Reverenz erweisen. „Ich bin in diesen Künstler eingetaucht“, erklärte Produzent Hal Willner. „Dabei fand ich heraus, dass über Bolan kaum jemals als ‚Komponist‘ gesprochen wurde. Es ging nur darum, was für ein großartiger Rocker und wie innovativ er war.“ „Die Leute kannten ihn als großartigen Musiker, Songwriter, Gitarristen, aber er war auch ein Dichter“, sagte Ringo Starr, als er Bolan im selben Jahr posthum in die Rock and Roll Hall of Fame aufnahm. „Tatsächlich war ihm seine Poesie genauso wichtig wie seine Musik. Er hatte einen großartigen Stil und war wirklich anders als alle anderen, die ich je getroffen habe.“

Der erste Freidenker

Ohne ihn hätte es Karl Marx nicht gegeben – sein anthropologischer Materialismus steht heute wohl gleichberechtigt neben Marx’ dialektischem und historischem Materialismus. Ohne ihn hätte es auch Richard Wagners musiktheoretische Arbeit „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) nicht gegeben: Der Komponist war etwa zehn Jahre lang sein glühender Anhänger, widmete ihm die Schrift und wandte sich erst danach Schopenhauer zu. Ohne ihn hätte es auch die Psychoanalyse nicht gegeben: Max Scheler bezeichnete ihn als einen der „großen Triebpsychologen“. Und ohne ihn hätte es auch noch heute geläufige Aphorismen nicht gegeben, so „Der Mensch ist, was er isst“: Ludwig Feuerbach, der am 13. September vor 150 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung starb.

Er wird am 28. Juli 1804 in Landshut als viertes von sieben Kindern in eine namhafte Familie hineingeboren. Sein Vater Paul Johann Anselm von Feuerbach gilt als Begründer des modernen deutschen Strafrechts und lehrt an der Bayerischen Landesuniversität, seine Mutter Eva Wilhelmine stammt vom Weimarer Herzog Ernst August I. ab: Ihr Großvater war ein außerehelicher Sohn des Herzogs. Auch Ludwigs Brüder sollten als Komponist, Mathematiker und Sprachwissenschaftler bekannt werden. Er besucht in München die Elementarschule, in Bamberg die Oberprimärschule und in Ansbach das Gymnasium.

1823 begann Feuerbach in Heidelberg ein protestantisches Theologiestudium und wechselte 1824 gegen den Willen des Vaters nach Berlin, wo er zwei Jahre lang sämtliche Vorlesungen hörte, die Hegel in dieser Zeit hielt, die „Logik“ sogar zweimal. Da er als Stipendiat des bayerischen Königs das Studium an einer Landesuniversität abzuschließen hatte, kehrte er 1826 nach Bayern zurück. Nach einem Jahr privater Studien in Philologie, Literatur und Geschichte belegte er in Erlangen Botanik, Anatomie und Physiologie und schrieb gleichzeitig seine Dissertation „Über die Unendlichkeit, Einheit und Allgemeinheit der Vernunft“. Nach Promotion und Habilitation begann er 1828, als unbesoldeter Privatdozent in Erlangen zu lehren.

Feuerbach. Quelle: Von August Weger – http://www.marxists.org/glossary/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=478696

Doch eine akademische Karriere verbaute sich Feuerbach durch die anonyme Erstlingsschrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ (1830), in der er die persönliche Unsterblichkeit leugnete.  Wegen ihres religionskritischen Inhalts wurde die Schrift sofort verboten und der Verfasser polizeilich ermittelt. Dreimal bewarb er sich vergeblich um eine außerordentliche Professur. Versuche, durch familiäre Beziehungen eine Stellung in Paris zu finden, scheiterten, ebenso Bemühungen um einen Lehrstuhl in Bern oder eine passende Tätigkeit in Griechenland. Da ihm die akademische Lehrtätigkeit ohnedies nicht zusagte, zog er sich 1836 endgültig von der Universität zurück. Auf der Suche nach Alternativen schrieb er eine Aphorismensammlung, eine „Geschichte der neuern Philosophie“ sowie „Kritik des ‚Anti-Hegels‘. Eine Einleitung in das Studium der Philosophie.“

Aufhebung aller Theologie

Im ländlichen Bruckberg bei Ansbach fand er dann den ihm zuträglichen Ort: Seine Geliebte Bertha Löw, die er 1837 heiratete, war dort Mitinhaberin einer Porzellanmanufaktur, die im ehemals markgräflichen Jagdschloss untergebracht war. Die kleine Fabrik warf zwar nur bescheidene Gewinne ab, bot aber freies Wohnrecht und umfangreiche Naturaliennutzung. 1839 wurde die erste Tochter „Lorchen“ geboren, 1842 die zweite, die jedoch sehr früh starb. „Die wahre Philosophie besteht darin, nicht Bücher, sondern Menschen zu machen“, wird er später schreiben. Das einfache, aber insgesamt sorglose Leben auf dem Land entsprach Feuerbachs persönlichem Geschmack, und die völlige Freiheit von allen akademischen Rücksichten wurde, wie er selbst bekannte, zum „archimedischen Punkt“ in seinem philosophischen Entwicklungsgang. In Bruckberg schrieb er, nun Privatgelehrter und freier Autor, einen zweiten, ausschließlich Leibniz und dessen Monadentheorie gewidmeten Band seiner Geschichte der neueren Philosophie.

Nach mehreren Aufsätzen, etwa „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839), machte ihn dann sein Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1841) schlagartig berühmt. Darin kritisiert er Gott als Projektion der Vollkommenheit des Menschen, die sich in dessen wirklichem Gattungsleben realisieren soll. Durch seine in der Zeit der Restauration in breiten Kreisen als befreiend empfundene Religions- und Idealismuskritik wurde Feuerbach zur intellektuellen Leitfigur der Dissidentenbewegungen des „Vormärz“. Die selbständigen philosophischen Werke „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie“ (1842) und „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ (1843) schlossen sich an. In seiner Philosophie geht Feuerbach davon aus, dass der Geist der Neuzeit die Aufhebung aller Theologie und metaphysischen Philosophie in Anthropologie.

Sondermarke 2004. Quelle: Von s.u. – Website der Deutschen Post AGURL: https://philatelie.deutschepost.de/philatelie/art/informationen/jahrgaenge/04/ph040702_max.jpg (Descr.), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5206304

Feuerbach schließt sich den „Freien“ an, einer Gruppe von liberalen und sozialistischen Intellektuellen, und diskutiert mit Friedrich Engels und dem Anarchisten Max Stirner. 1844 beginnt er einen Briefwechsel mit Karl Marx und schreibt weitere religionskritische Werke, darunter „Das Wesen der Religion“. 1845 erhielt er von seinem Verleger Otto Wigand das Angebot, seine Schriften in einer Werkausgabe zu versammeln. Bis 1866 erreichten diese „Sämmtlichen Werke“ zehn Bände. Der erste erschien bereits 1846. Feuerbach überarbeitete alle seine Bücher aus den dreißiger Jahren, um der inzwischen vollzogenen Abkehr von der Hegelschen Philosophie Rechnung zu tragen.

Nach der März-Revolution geht Ludwig Feuerbach nach Frankfurt, wo er die Beratungen des Paulskirchenparlaments verfolgt und im Rathaus Vorlesungen hält. Durch Ruge, Herwegh und Marx ist Feuerbach mit den revolutionären Bestrebungen verbunden, nimmt jedoch keinen unmittelbaren Anteil an der Tagespolitik. Gottfried Keller sympathisiert mit dem Philosophen und setzt ihm in „Der Grüne Heinrich“ (1849) ein literarisches Denkmal. Parallel dazu verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation der Bruckberger Porzellanfabrik. Pläne, in die USA auszuwandern, scheitern am fehlenden Geld. Er verfasst eine zweibändige Biographie seines Vaters.

„enttäuschend banaler Schluss eines gewaltigen Dramas“

Nachdem die Reaktion jeden politisch-emanzipatorischen Funken gründlich erstickt hatte, verschwand auch Feuerbachs Philosophie völlig aus dem öffentlichen Interesse; der allgemeine Defätismus verhalf der bislang fast unbekannten Schopenhauer‘schen Philosophie zu einem rasanten Aufstieg. Feuerbach hingegen wurde 1856 in einer Zeitungsmeldung sogar totgesagt. In Frankreich, England und den USA indes begann er bekannt zu werden. 1859 war die Bruckberger Porzellanfabrik dann endgültig bankrott, Feuerbach und seine Frau verloren nicht nur alle investierten Ersparnisse, sondern auch ihr Wohnrecht und die Naturaliennutzung und zogen nach mühsamer Suche in ein Haus in Rechenberg bei Nürnberg. Freunde bezahlten den Umzug und sammelten Spenden.

Feuerbachs Wohnsitz in Rechenberg. Quelle: Von verschiedene – Scan des Originals, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7020520

Von 1862 an erhielt er eine regelmäßig erneuerte Ehrengabe der eben geschaffenen Schillerstiftung, außerdem zwei Leibrenten zweier vermögender Freunde, darunter vom Nürnberger Industriemagnaten Theodor von Cramer-Klett. 1863 entwirft er Studien zur „Willensfreiheit“ und zur „Ethik“; beide bleiben Fragmente. 1866 erscheint die Abhandlung „Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit“ im zehnten Band seiner „Sämmtlichen Werke“. Der preußisch-österreichische Krieg erschüttert Feuerbach tief. Bismarcks Einigungspolitik lehnte er entschieden ab, weil sie auf Gewalt gestützt war und in seinen Augen keine Freiheit brachte. Hingegen studierte er den ersten Band von Marx’ „Kapital“ kurz nach dessen Erscheinen und begeisterte sich für die in Amerika aufkommende Frauenbewegung.

1867 erlitt er einen leichten Schlaganfall, von dem er sich im österreichischen Salzkammergut erholte. 1869 trat Feuerbach in die kurz zuvor von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ein. Am Tag nach der Kriegserklärung des Deutsch-Französischen Kriegs traf ihn ein zweiter, schwerer Schlaganfall, der sein geistiges Vermögen völlig zerstörte und sein Ableben beschleunigte. Nach seinem Tod riefen mehrere Zeitungen, darunter die auflagenstarke Familienzeitschrift Die Gartenlaube, zu einem „Nationaldank“ auf. Die Spenden flossen so reichlich, dass für Frau und Tochter, um deren Zukunft Feuerbach gebangt hatte, ein bescheidenes, aber lebenslanges Auskommen gesichert war. Am Begräbnis auf dem Nürnberger Johannisfriedhof nahmen Tausende teil, Cramer-Klett stiftete das Grabmal.

Seine Wirkung war zwiespältig: Die „kritischen Arbeiten schlugen bei den Zeitgenossen durch, aber seinem positiven Ansatz blieb größere Anerkennung versagt“, konstatiert seine Biographin Ruth-Eva Schulz: „Die Selbstbestätigung des Menschen in seiner Sinnlichkeit als Resultat der gesamten Religions- und Geistesgeschichte: das wirkte wie der enttäuschend banale Schluss eines gewaltigen Dramas.“ Seine „sperrige“ Philosophie „fügte sich weder der Totalität der Dialektik, noch der Logik des Klassenkampfes und wurde alsbald von der Hegel- wie Marxorthodoxie wieder fallengelassen“, schreibt die Münsteraner Pädagogin Ursula Reitemeyer.

Gedenktafel in Rechenberg. Quelle: CC BY 1.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15167

Einen indirekten, aber bedeutenden Einfluss hatte Feuerbachs Philosophie auf eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern und Medizinern, die für die Erklärung des Naturgeschehens keine übernatürlichen Ursachen mehr gelten lassen wollten. Die Freidenkerbewegung beruft sich auf ihn, auch Max Webers grundlegender Begriff der „Deutung“ erinnert an das Verfahren von Feuerbachs Religionskritik. Einen Kenotaph zu Feuerbachs Gedenken auf dem Rechenberg, der 1933 vergraben wurde, stellte der SPD-geführte Stadtrat Nürnbergs gegen den Widerstand von CDU und FDP 1955 wieder auf. Gegner versuchten, mit einer letztlich erfolglosen Verfassungsbeschwerde das Denkmal wieder zu beseitigen, es stand zeitweise unter Polizeischutz. Christlich-fundamentalistische Täter beschmierten es bis in die jüngste Vergangenheit.

„Queen of Goths“

Vielen Büchern und Filmen diente ihr Klassiker als Vorlage für Horrorvisionen eines im Labor geschaffenen Menschen. Der 2,40 Meter große, hoffnungslos hässliche „Dämon“, den die Autorin im Alter von 19 Jahren erschuf, warf einen gigantischen Schatten auf ihr weiteres Werk. Weil er verletzlich war wie ein Kind, grausam wie ein Raubtier und grüblerisch wie Hamlet. Ein mutterloses Monster, das „Die Leiden des jungen Werther“ las. Eine zutiefst einsame Kreatur, die zum Mehrfachmörder wurde und sich selbst ebenso hasste wie ihr Schöpfer. Der gottgleiche Gelehrte Frankenstein nennt seine Kreatur ein „ekelhaftes Scheusal“, einen „verfluchten Satan“, den er am liebsten eliminieren würde: „Komm her, und ich will den Funken zertreten, den ich in so leichtfertiger Weise angefacht.“ Die Urheberin der Kreatur und ihres Schöpfers kam am 30. August vor 225 Jahren in London zur Welt: Mary Shelley.

Sie war die Tochter der Feministin Mary Wollstonecraft, die mit „Verteidigung der Rechte der Frau“ (1792) eine der grundlegenden Arbeiten der Frauenrechtsbewegung verfasste und kurz nach der Geburt ihrer Tochter starb. Ihr Vater, der radikale Sozialphilosoph und Begründer des politischen Anarchismus William Godwin, zog sie gemeinsam mit ihrer älteren Halbschwester zunächst allein auf und ließ ihr eine umfassende Bildung zuteilwerden. 1811 besuchte sie für kurze Zeit ein Mädchenpensionat in Ramsgate. Die Fünfzehnjährige wurde von ihrem Vater als ungewöhnlich kühn, ein wenig herrschsüchtig und von wachem Verstand beschrieben. Zwei längere und prägende Reisen nach Schottland folgten: in der weiten, offenen Landschaft habe sich ihre Phantasie entwickeln können, schrieb sie später.

Mit 16 verliebte sich Mary in ihren späteren Ehemann Percy Bysshe Shelley, der jedoch noch verheiratet war. Shelley entstammte einer wohlhabenden Aristokratenfamilie, besuchte Eton und Oxford, war rebellisch, unbequem, Republikaner, Vegetarier, überzeugter Atheist. Idealistisch, introspektiv und naturvernarrt wie alle romantischen Dichter – aber auch politisch. Am 26. Juni 1814 soll sie durch ihn auf dem Grab ihrer Mutter ihre Unschuld verloren haben – „Queen of Goths“ wird sie dafür heute noch in Kreisen der Dark-Wave-Szene genannt. Danach reisten beide in die Schweiz, wo sie in Anlehnung an Marys Vater ihr Konzept der freien Liebe entwickelten. Mary kehrte schwanger zurück, wurde sozial geächtet und traf ihren Liebhaber nur gelegentlich in Hotels, Kirchen oder Kaffeehäusern. Zwei Jahrzehnte später verarbeitete sie diese heimlichen Zusammenkünfte im Roman „Lodore“. Im Februar 1815 gebar Mary eine Tochter, die wenige Tage später starb und bei ihr eine depressive Phase auslöste. Im Sommer ging es ihr besser, sie wurde erneut schwanger und brachte im Januar 1816 einen Sohn zur Welt.

Mary Shelley. Quelle: Von Richard Rothwell – Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59420814

Im Mai reiste sie dann mit Percy, dem kleinen Sohn und ihrer Stiefschwester, die vom berühmt-berüchtigten Dichter Lord Byron schwanger war, erneut in die Schweiz, um den Sommer am Genfersee zu verbringen. Der von seinem Leibarzt John Polidori begleitete Byron brachte die Gesellschaft in der Villa Diodati unter, wo sie ihre Zeit mit gemeinsamem Lesen, Schreiben und mit Bootsausflügen verbrachte. 1816 ist in die Klimageschichte als Jahr ohne Sommer eingegangen: Die Auswirkungen des Vulkanausbruchs des Tambora in Indonesien führten zu einem Sommer, der ungewöhnlich kalt, stürmisch und nass war. Nicht enden wollender Regen zwang die Gruppe, für Tage im Haus zu bleiben. Byron schlug vor, jeder möge eine Gespenstergeschichte schreiben. Der Wettstreit, den Kevin Russels Film „Gothic“ thematisiert, gehört laut Welt zu den „Actionszenen der Weltliteratur“.

Das Geschöpf verfolgt eigene Ziele

Polidori schrieb zum einen die weltweit erste Vampirgeschichte „Der Vampyr“, der relativ schnell wieder vergessen wurde und erst durch Bram Stokers „Dracula“ (1897) die bis heute bekannte Wirkkraft erhielt. Zum anderen aber schuf die junge Mary mit „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ einen wahren Klassiker. Byrons Geschichte blieb nur Fragment, von Percy ist aus dieser Zeit gar kein dunkles Werk bekannt geworden. In gewisser Weise hat Mary damit das Genre des Science-Fiction-Romans geprägt, wenn nicht sogar begründet. Der Roman ist einerseits ein Briefroman – in dieser Zeit eine beliebte Form – und andererseits eine klassische Ich-Erzählung. Der leidenschaftliche und ehrgeizige Polarforscher Robert Walton schreibt Briefe an seine Schwester. Den Inhalt hat ihm Viktor Frankenstein diktiert, den er zuvor aus dem ewigen Eis fischte, als dieser gerade Jagd auf sein Geschöpf machte.

Die Geschichte ist bekannt: Viktor Frankenstein schuf aus Teilen von Toten eine menschliche Kreatur und erweckt sie mittels Elektrizität – Mary kannte Galvanis Experimente – zum Leben. Doch er erschrickt vor seiner eigenen Tat und flieht. Das von ihm geschaffene Wesen kennt keine Moral, da ihm auch keine Erziehung angediehen ist. So tötet es ohne bösen Willen. Bei den Menschen trifft es auf starke Abneigung, zunächst nur wegen seiner Hässlichkeit. In seiner Einsamkeit bittet die Kreatur Frankenstein um eine weibliche Begleitung. Dieser beginnt das Werk zunächst, doch aus Angst vor den unkalkulierbaren Folgen, beispielsweise wenn beide Kinder bekommen würden, zerstört er die fast fertige weibliche Schöpfung wieder. Die einsame Kreatur sieht dies und sinnt nun auf Rache. So tötet er – diesmal ganz bewusst – Frankensteins Braut in der Hochzeitsnacht. Sein Schöpfer soll den gleichen Schmerz erfahren, wie das Monster. Es beginnt eine Jagd der beiden aufeinander, die letztlich beide das Leben kostet.

Manuskriptseite des Frankenstein. Quelle: Von Mary Shelley (1797-1851) – http://www.bodley.ox.ac.uk/dept/scwmss/frank2.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3235272

Alle Menschen um Frankenstein werden als durch und durch tugendhaft geschildert. Auch Viktor bezeichnet seine Motive als tugendhaft. Und das ist das große Dilemma von Schöpfungen. Von der Genetik bis zur Transplantationsmedizin, von der Chimären-Wissenschaft bis zur KI-Forschung. Das Erkenntnisstreben der Wissenschaft ist weder böse noch gut. Mary Shelley operiert in ihrem Roman vor allem mit dem Begriff der Tugend. Die Tugend ist eine Charaktereigenschaft, die sich aus dem Verstand und dem Herzen bildet. Und tugendhaft war immer schon das Schöne und Leistungsfähige. Die gesamte KI-Forschung argumentiert mit der Nützlichkeit, den Anwendungsmöglichkeiten ihrer Schöpfungen. Aber das ist zu einfach. Das Geschöpf verfolgt eigene Ziele. Und wer garantiert uns, dass die KI sich nicht beim geringsten Widerstand des Menschen selbst wehrt und seine eigenen Ziele rücksichtslos verfolgt, so wie das Monster von Frankenstein? Wir erstarren vor dem Haupt der Medusa nicht, weil wir es anblicken, sondern weil wir den Anblick nicht ertragen.

Kern der Geschichte ist also weniger der Gruseleffekt, der später in Verfilmungen gern in den Mittelpunkt gestellt wurde, sondern es sind ethische Fragen jenseits des Gut-Böse-Schemas: Darf der Mensch sich zum göttlichen Schöpfer erheben? Welche Verantwortung trägt er für sein Werk? Setzt eine Straftat bewusstes Handeln voraus? Mit diesen Perspektiven reiht sich Mary in die Riege von Science-Fiction-Autoren wie Stanisław Lem oder Philip K. Dick ein, die erst weit über 150 Jahre später solcherlei fantastische Exkurse ausbreiteten. Ihr ist es zu verdanken, dass in „Frankenstein“ nicht nur die reine Machbarkeit von Wissenschaft betrachtet wird, sondern auch die gesellschaftlich-moralische Verantwortung eine Rolle spielt. Bei ihr ist nicht die geschaffene Kreatur das Monster, sondern sein Schöpfer.

Verzweiflung, Entfremdung und Todessehnsucht

Illustre Freunde, Partys, Reisen, Drogen, Promiskuität und gleichgeschlechtliche Liebe – das war die schillernde Hülle des Duos Shelley, das nach dem Selbstmord von Shelleys Frau heiratete und vor allem in Italien lebte. Der Kampf gegen die Konventionen war hart, für die Gesellschaft waren sie Aussätzige. Exzentrik musste man sich leisten können – doch diesem Paar mangelte es permanent an Geld und Rückhalt. Ab 1818 ließ eine erschütternde Zahl von Katastrophen Mary Shelleys Leben implodieren. Wie sie es schaffte, trotz allem zu schreiben und sich immer wieder aus Schock und Depressionen zu lösen, ist der wirklich spannende Teil ihrer Biografie. Binnen weniger Jahre verlor die nahezu dauerschwangere Mary etliche Menschen aus ihrem engsten Umfeld: Drei ihrer Kinder starben, Percy Shelley kam 1822 bei einem Sturm auf See um, sie selbst entging im selben Jahr nur knapp dem Tod durch eine Fehlgeburt. Ihre depressive Halbschwester beging Suizid, ebenso Byrons Leibarzt Polidori; Byron selbst starb 1824 im griechischen Freiheitskampf.

Einäscherung von Percy. Quelle: Von Mary Shelley (1797-1851) – http://www.bodley.ox.ac.uk/dept/scwmss/frank2.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3235272

Marys Briefe aus dieser Zeit sprechen von Verzweiflung, Entfremdung und Todessehnsucht. Monströs ist etwa die Vater-Tochter-Beziehung in „Mathilda“: Die Novelle entstand zwischen 1819 und 1820, kurz nach dem Tod der Kinder. Veröffentlicht wurde sie erst 139 Jahre später – Shelleys Vater weigerte sich, die Erzählung freizugeben, und nannte die inzestuöse Leidenschaft des Protagonisten „widerlich und verabscheuenswert“. Der postapokalyptische Roman „The Last Man“, der vom Ende der Menschheit durch eine Pandemie handelt und manchen als erste Dystopie der Literaturgeschichte gilt, liest sich erschreckend aktuell und ist nicht nur ein Schlüsselroman zu ihrer Biographie, sondern auch ein 500-seitiger Versuch, ihr Leben mit dem berühmten Dichter weißzuwaschen. Und geht es im Buch wirklich darum, geplatzte Träume doch noch zu erfüllen, dann geht es vor allem um Marys geplatzten Traum vom glücklichen Leben mit Percy. „Da ballen sich in einem Satz oftmals Handlung, Betrachtung, Figurenzeichnung, emotionaler Ausdruck und Gedankenflüge konzentriert zusammen“, meint Eberhard Falcke im DLF.

Sir Timothy Shelley, Percys Vater, gestand ihr eine kleine Jahresrente zu unter der Bedingung, dass sie keine Biografie ihres Mannes veröffentlichte und auch keine weiteren Gedichtbände mit seinen Arbeiten herausgab. Er wollte damit erreichen, dass in Vergessenheit geriet, für welch radikale Ideen sein Sohn eingetreten war. Den Gedichtband „Posthumous Poems of P. B. Shelley“, den Mary 1824 herausgab, kaufte Timothy weitgehend auf und ließ die Bücher vernichten. Bis ans Ende seines Lebens weigerte er sich, seine Schwiegertochter persönlich zu treffen. Erst nach Timothys Tod 1844 konnte sie ihrem Mann literarische Geltung verschaffen. 1826 lernte sie den amerikanischen Schauspieler John Howard Payne kennen, der um ihre Hand anhielt. Mary lehnte mit der Begründung ab, dass sie nach der Ehe mit einem Genie nur ein weiteres heiraten könne.

Klassiker des Horrorfilms

1827 bis 1840 war Mary als Autorin und Herausgeberin sehr aktiv, schrieb vier Romane wie „Perkin Warbeck“ oder „Falkner“ sowie eine Novelle, verfasste fünf Bände für die Enzyklopädie „Lives of the Most Eminent Literary and Scientific Men“ und außerdem Erzählungen für Frauenmagazine, darunter Kurzgeschichten für Almanache wie The Keepsake. Darin thematisiert sie oft die Zerbrechlichkeit der individuellen Identität und den unterschiedlichen Wert, den die Gesellschaft Männern und Frauen beimisst. Nach der Episode mit Payne schien sie keine neue Beziehung zu einem Mann gewünscht zu haben. 1828 lernte sie den französischen Schriftsteller Prosper Mérimée kennen und flirtete wohl auch mit ihm. Der einzige erhaltene Brief an ihn wird meist als behutsame Ablehnung seiner Liebeserklärung interpretiert. Im Mittelpunkt von Mary Leben stand ihr Sohn Percy Florence, der in Cambridge Recht und Politik studierte, aber nicht die Begabung seiner Eltern besaß.

Boris Karloff als Frankensteins Monster im Film von 1931. Quelle: https://assets.deutschlandfunk.de/FILE_37f50ab3b18ca738004c58a169c8d289/1280×720.jpg?t=1597519274561

Zwischen 1840 und 1843 unternahmen Mutter und Sohn gemeinsam zwei Reisen auf den europäischen Kontinent, so auch nach Deutschland, aus denen Reiseberichte entstanden. Ab 1839 litt sie unter Kopfschmerzen und teilweisen Lähmungen, so dass sie häufig weder lesen noch schreiben konnte. Am 1. Februar 1851 starb sie im Alter von 53 Jahren in London, vermutlich an einem Hirntumor. Am ersten Jahrestag ihres Todes öffneten Percy und seine Frau Marys Schreibtischschublade. Sie fanden dort Locken ihrer verstorbenen Kinder, ein Notizbuch, das sie gemeinsam mit Percy Bysshe Shelley genutzt hatte, sowie eine Kopie seines Gedichtes „Adonaïs“. Eine Seite des Gedichtes war um ein kleines seidenes Päckchen gefaltet, das Überreste seines Herzens enthielt.

Mary war kommerziell erfolgreicher als ihr Mann und erzielte höhere Auflagen als die anderen Mitglieder ihres illustren literarischen Kreises. „Frankenstein“ aber sah man weniger als ihre eigene Leistung an, sondern meinte, in ihm die inspirierende Leistung von Shelley und Lord Byron zu entdecken – eine in der Literaturwissenschaft noch in den 1980er Jahren weit verbreitete Einstellung. Erst seitdem mehren sich Biographien mit Neubewertungen ihres Schaffens. Mary Shelley gilt heute als eine der wesentlichen Autoren der Romantik, „Frankenstein“ als eins der bekanntesten Werke der phantastischen Literatur. Die zweite Frankenstein-Verfilmung von 1931, in der Boris Karloff das Monster spielte, wurde zu einem Klassiker des Horrorfilms. 2004 wurde Mary postum in die Science Fiction and Fantasy Hall of Fame aufgenommen.

Weil Aktivisten sie als „rechts“ diffamierten, sagte die Humboldt-Uni einer feministischen (!) Doktorandin einen Vortrag zur Zweigeschlechtlichkeit ab: Nun darf sich Scharlatanerie Wissenschaft nennen. Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden darf.

Höhepunkt des Gegenprotests (nach Redaktionsschluss): Der DDR-sozialisierte konservative BILD-Politikchef Ralf Schuler trägt das als Blattlinie nicht mehr mit und geht. Richtig so.

„Stufen“ sei nicht nur sein berühmtestes, sondern überhaupt Deutschlands beliebtestes Gedicht, das nicht nur bei jedem Umzug zitiert werde, behauptete Matthias Matussek im Spiegel: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Er habe nach Goethe den reichsten Wortschatz der deutschen Literatur, heißt es bis heute. Schon 1958, vier Jahre vor seinem Tod, erledigte ihn der Spiegel als typisch deutsches Produkt unpolitischer Weltabgewandtheit und prophezeite, dass er sich im Ausland nie durchsetzen werde. Heute ist er mit rund 150 Millionen verkauften Büchern der weltweit erfolgreichste deutschsprachige Literat des 20. Jahrhunderts: Hermann Hesse, der am 9. August vor 60 Jahren an einem nächtlichen Schlaganfall starb.

Schon als 12-Jähriger weiß „Hermännle“, was er werden will: „Entweder ein Dichter oder gar nichts!“ Aber seine Erziehung bricht ihn fast. Am 2. Juli 1877 geboren, wächst er in der schwäbischen Kleinstadt Calw auf. Seine Eltern sind strenge Pietisten, sein baltischstämmiger Vater war früher evangelischer Missionar in Indien, der nirgendwo Wurzeln schlug und „immer wie ein sehr höflicher, sehr fremder und einsamer, wenig verstandener Gast“ wirkte. Er hatte acht Geschwister, von denen drei im Kleinkindalter starben. Als die jüngste Schwester gestorben ist, rennt er an ihr leeres Bett und ruft: „So Gertrudle, bischt jetzt vollends zum lieben Heiland gange?“ „Hermann hat eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen und wirklich einen ganz erstaunlichen Verstand“, schreibt über den Vierjährigen seine Mutter, die von seinem „hohen Tyrannengeist“ überfordert ist.

1881 zieht die Familie für fünf Jahre nach Basel. Nach der Rückkehr bildet er sich in der umfangreichen Bibliothek seines Großvaters autodidaktisch und besucht anfangs die Calwer, später die Göppinger Lateinschule zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen, das Württembergern eine kostenlose Ausbildung zum Landesbeamten oder Pfarrer erlaubte. Mit 10 verfasst er ein erstes Märchen. Dann driftet der eigenwillige Junge in eine ernstliche Pubertätskrise ab. Als der 14-Jährige aus dem Klosterseminar Maulbronn ausreißt, empfiehlt der Hausarzt die Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Zwar probieren es die frommen Eltern zunächst mit einem Glaubensbruder in Bad Boll, der versucht, seelische Störungen durch Gebete und Exerzitien zu kurieren. Doch als sich Hesse dort nach einer unglücklichen Liebesschwärmerei mit einem Revolver umbringen will, wird er in eine Heil- und Pflegeanstalt in Stetten abgeschoben.

Hesse-Skulptur auf der Nikolausbrücke in Calw. Quelle: Von –Xocolatl (talk) 22:13, 31 May 2009 (UTC) – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6912524

In dem berühmten anklagenden Brief vom 14. September 1892 an seinen Vater titulierte er diesen „Sehr geehrter Herr!“ und wies ihm bereits im Vorfeld die Schuld an möglichen künftigen „Verbrechen“ zu, die er infolge seines Aufenthaltes in Stetten als „Welthasser“ begehen könnte. Schließlich unterzeichnete er als „Gefangener im Zuchthaus zu Stetten“ und fügte im Nachsatz hinzu: „Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist.“ Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen und sah hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen der Familie nur noch Scheinheiligkeit. „Bildungshunger, Flößerabenteuer, Fernweh, Frömmigkeit, Märchenwunder, aber auch Prügel und schwarze Pädagogik, die seinen Eigensinn brechen soll, das ist die Kindheit“, fasst Matussek zusammen.

„hoffnungsloser Outsider“

Nachdem er seiner ersten Buchhändlerlehre in Esslingen nach drei Tagen entlaufen war, begann Hesse 1894 eine Mechanikerlehre in einer Turmuhrenfabrik in Calw. Nach 14 Monaten war er bereit, eine neue Buchhändlerlehre in Tübingen zu beginnen. Nach ihrem Abschluss arbeitete er in Tübinger Antiquariaten, las die deutschen Romantiker, die sein Frühwerk prägen werden, und veröffentlichte im Herbst 1898 seinen ersten Gedichtband „Romantische Lieder“ sowie im Sommer 1899 die Prosasammlung „Eine Stunde hinter Mitternacht“. Beide Werke wurden ein geschäftlicher Misserfolg. Darauf ging er im Herbst erneut nach Basel, arbeitete dort wiederum – unterbrochen von einer Italienreise – in verschiedenen Antiquariaten und schrieb Gedichte, kleinere literarische Texte sowie Rezensionen: rund 3000 für rund 60 Zeitungen sind es am Ende. Er ist einer der Ersten, die Kafkas Genie entdecken, er empfiehlt Arno Schmidts „Leviathan“ zur Veröffentlichung.

1900 wurde Hesse wegen seiner Sehschwäche vom Militärdienst befreit. Das Augenleiden hielt zeitlebens an, ebenso wie Nerven- und Kopfschmerzen. Im selben Jahr erschien sein Buch „Hermann Lauscher“ zunächst unter einem Pseudonym. 1903 beschloss er, als freischaffender Autor zu leben. Er lernt er die neun Jahre ältere Fotografin Maria Bernoulli kennen, heiratet sie ein Jahr später und hat mit ihr drei Söhne. Zu den ersten Veröffentlichungen gehören die Entwicklungsromane „Peter Camenzind“ (1904) und „Unterm Rad“ (1906), in denen Hesse jenen Konflikt von Geist und Natur thematisierte, der später sein gesamtes Werk durchziehen sollte. Mit dem zivilisationskritischen Camenzind gelang ihm der literarische Durchbruch, die Familie ließ sich in Gaienhofen am Bodensee nieder.

Gaienhofen, heute Hesse-Museum. Quelle: https://www.mia-und-hermann-hesse-haus.de/wp-content/uploads/2019/12/Hesse_Garten_Nord-1024×685.jpg

Bereits ab 1907 gerät er in eine Schaffenskrise: Ein besonderes Hesse‘sches „Elixier von Antibürgerlichkeit, Selbstfindung, transzendentaler Sinnsuche und dem Gefühl, ein, wie er sagte, ‚hoffnungsloser Outsider‘ zu sein“, erkennt Eberhard Falcke im DLF als Grundzug seines Lebens und Werks. Hesse unternimmt auf dem Monte Verità bei Ascona eine mit Alkoholabstinenz verbundene vegetarische Fastenkur und geht nackt klettern. Später allerdings geht er zu den „Lebensreformern“ und „Weltverbesserern“ der alternativen Künstlerkolonie auf Distanz. Überdies hatten sich in Hesses Ehe die Dissonanzen vermehrt. Um Abstand zu gewinnen, brach Hesse nach dem als misslungen empfundenen Roman „Gertrud“ (1910) mit einem Freund 1911 zu einer großen Reise nach Ceylon und Indien auf. Er fand dort zwar die erhoffte spirituell-religiöse Inspiration nicht, dennoch beeinflusste die Reise sein weiteres literarisches Werk stark. Auch ein Ortswechsel nach Bern konnte die Eheprobleme nicht lösen, wie Hesse in seinem Roman „Roßhalde“ schilderte.

Bei Kriegsausbruch 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wurde jedoch für untauglich befunden und der deutschen Botschaft in Bern zugeteilt, wo er die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute als Mitherausgeber der Deutschen Interniertenzeitung arbeitete. Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der NZZ eine Warnung vor nationalistischer Polemik und fand sich prompt inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung wieder: Die deutsche Presse attackierte ihn, Hassbriefe gingen bei ihm ein, und alte Freunde sagten sich von ihm los. Zustimmung erhielt er von Theodor Heuss und Romain Rolland. Wegen dieses sowie weiterer Schicksalsschläge wie dem Tod seines Vaters, der schweren Hirnhautentzündung seines dreijährigen Sohnes und der zerbrechenden Ehe begab er sich in psychiatrische Behandlung, machte erste Erfahrungen mit der Psychoanalyse und fand in Gustav Jungs Analytischer Archetypenlehre eigene Einsichten systematisiert und ergänzt.

1917 verfasste Hesse in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch seinen Roman „Demian“, den er nach Kriegsende 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlichte. Thomas Mann schrieb von der „elektrisierenden“ Wirkung einer „Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend … zu dankbarem Entzücken hinriss.“ Das Angebot von Wilhelm Muehlon, einen Posten in der Regierung der Münchner Räterepublik zu übernehmen, lehnte er mit der Begründung ab, er wolle sich nicht unter die Dilettanten mischen, die sich in einen Dienst drängten, von dem sie nichts verstünden. Er ließ sich 1919 in Montagnola im Tessin nieder, wo er bis an sein Lebensende wohnen blieb. Nach der Trennung der Eltern wurden die Söhne verteilt: Zwei zu Pflegefamilien, einer blieb bei der depressiven Mutter, von der sich Hesse 1923 scheiden ließ. „Hesse wollte nicht glücklich sein, sondern unglücklich – das war der Motor für ihn“, schrieb sein Biograf Heimo Schwilk.

„eine ungeheure Tat“

Die neue Lebenssituation inspirierte Hesse nicht nur zu neuer schriftstellerischer Tätigkeit, sondern als Ausgleich und Ergänzung auch zu weiteren Zeichenskizzen und Aquarellen, was sich in seiner nächsten großen Erzählung „Klingsors letzter Sommer“ von 1920 deutlich niederschlug: „Hier habe ich die eine Seite meines Wesens bis zur Überdeutlichkeit auszudrücken gesucht, den Nervösen, den Künstler, den Sonderling, den seelisch Gefährdeten, Einsamen, Hungrigen, nach Wein und Opium Gierigen, der im Grunde ein Kind geblieben ist und vor dem Leben Angst hat, und diese Angst in Kunst verwandelt.“ 1922 erschien dann die „Siddartha“. Henry Miller nannte dieses meistgelesene Werk Hesses „eine ungeheure Tat“. Die romanhafte Auseinandersetzung mit dem Buddhismus war für den US-Schriftsteller „eine wirksamere Medizin als das Neue Testament“.

Hesses Schreibmaschine. Quelle: https://www.goethe.de/resources/files/jpg1127/schreibmaschine-hesse_q-v1-formatkey-jpg-w1966.jpg

Dann scheitert eine weitere Ehe nach nur drei Jahren. Seine zweite Frau Ruth schreibt ihm: „Es bleibt keine Sorge und Hingabe mehr übrig für den, der neben dir lebt.“ Erst viel später findet er in seiner dritten Ehefrau Ninon, einer Kunsthistorikerin, die bereits als 14jährige Schülerin eine konstante briefliche Verbindung mit ihm aufgenommen hatte, die Partnerin, die ihn so nimmt, wie er ist: als Einzelgänger. Sein Werk wird in dieser Schaffensphase auch von der ostasiatischen Philosophie beeinflusst, in der Hesse ein Modell zur Überwindung der abendländischen Krise sah. Das Spätwerk versucht den Gegensatz zwischen Geist und Sinnlichkeit, zwischen östlicher und westlicher Lebensweisheit auszugleichen. Spiritualität statt Religion, könnte man seine Haltung zusammenfassen.

Seine nächsten größeren Werke, darunter „Kurgast“ (1925), sind autobiografische Erzählungen mit ironischem Unterton, in denen sich bereits der erfolgreichste Roman Hesses ankündigt: „Der Steppenwolf“ (1927). Harry Haller, die faustische Hauptfigur, ist ein gescheiterter Intellektueller, dessen Weltverachtung nur von seiner Selbstverachtung übertroffen wird. Er schließt einen Pakt mit sich: Er darf sich an seinem 50. Geburtstag umbringen. Angeödet vom Alltag, verzweifelt und räudig in seiner Einsamkeit, betritt der das „Magische Theater“, dessen Reklameläufer ihm das Traktat des Steppenwolfs überreicht: „Nur für Verrückte“. Er lernt die androgyne Hermine kennen, die ihn in die Genüsse der Nacht einführt. Sie bringt ihm den Foxtrott bei, der Saxophonist Pablo erklärt ihm, was Musik heißt. Harry Haller lernt von Goethe und den „Unsterblichen“: das absurde Gelächter. Thomas Mann verglich das Buch mit dem „Ulysses“ und schlug seinen Freund Jahr um Jahr für den Nobelpreis vor.

Anfang der 1930er Jahre entstehen „Narziß und Goldmund“ sowie „Die Morgenlandfahrt“ als „Vorstufe“ zu seinem letzten großen Werk „Das Glasperlenspiel“, an dem er 12 Jahre schreiben wird: „Ich glaube an viele Dinge nicht, die der Stolz der heutigen Menschheit sind: Ich glaube nicht an die Technik, ich glaube weder an die Herrlichkeit und Unübertrefflichkeit unserer Zeit noch an irgendeinen ihrer hochbezahlten ‚Führer‘, während ich vor dem, was man so ‚Natur‘ nennt, eine unbegrenzte Hochachtung habe“, sagte er über seine Verfasstheit beim Schreiben. Während des Zweiten Weltkriegs machen befreundete Autoren wie Thomas Mann und Bert Brecht auf dem Weg ins Exil Station bei ihm. Politisch aber unternimmt Hesse nichts: „Ich habe keine andre Sehnsucht, als zu mir selber und zu rein geistigem Tun zu kommen.“ Seine Bücher sind nicht verboten, aber „unerwünscht“.

Der letzte Ritter

1943 in der Schweiz gedruckt, wurde ihm nicht zuletzt für dieses Spätwerk 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen: Für „seine inspirierten Werke, die mit zunehmender Kühnheit und Tiefe die klassischen Ideale des Humanismus und hohe Stilkunst verkörpern“, begründete die Schwedische Akademie die Vergabe an den Deutschen nach der Kapitulation Deutschlands. Gottfried Benn hält ihn für einen mittelmäßigen „Ehe- und Innerlichkeits-Romancier“ und munkelt: „Spezi von Thomas Mann. Daher der Nobelpreis.“ Robert Musil spottete den Gesamttypus weg: „Das einzig Komische ist, dass er die Schwächen eines größeren Mannes hat, als ihm zukäme.“ Alfred Döblin, als er 1953 selbst für den Nobelpreis gehandelt wird, meint: „So viel wie die langweilige Limonade Hermann Hesse bin ich schon lange“. Für seinen Freund Hugo Ball dagegen erweist er sich als „der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut.“

Hesse als Maler: Landschaft bei Ticino. Quelle: https://www.lempertz.com/lempertz_api/images/943-79-Hermann-Hesse-Ticino-Landscap.jpg

Inzwischen an Leukämie erkrankt, malte Hesse viel, schrieb noch wenige Erzählungen und Gedichte, aber keinen Roman mehr, dafür – ohne Sekretariat – rund 17.000 Briefe, in denen sich Sätze finden wie: „Ohne das Tier und den Mörder in uns sind wir kastrierte Engel ohne rechtes Leben“ oder „Die Wirklichkeit ist etwas, was man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf“. Offenbar erhoffte sich eine neue Generation deutscher Leser von dem weisen Alten mit Strohhut und Nickelbrille Lebenshilfe und Orientierung. In seiner Streitschrift „Kitsch, Konvention und Kunst“ schrieb Karlheinz Deschner fünf Jahre vor Hesses Tod: „Dass Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“. Teile der deutschen Literaturkritik qualifizierten den „Blumenzüchter von Montagnola“ prompt als Produzent epigonaler und kitschiger Literatur.

Sein letztes Gedicht entstand bei einem morgendlichen Spaziergang vor seinem Tod und war dem absterbenden Ast einer Robinie gewidmet. „Von der Natur entfernten sich die Schauplätze seiner Bücher fast nie weiter als höchstens bis zum Kleinstadt-Marktplatz“, lästert der Spiegel-Nachruf. Seine Rezeption ähnelt einer Pendelbewegung: Kaum war sie in den 1960er Jahren in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt, brach unter den Jugendlichen in den USA ein Hesse-Boom ohnegleichen aus. In den vielen Verwandlungen des steppenwölfischen „Magischen Theaters“ haben Timothy Leary und die Hippies den „Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis“ gesehen. Mit dem Pazifismus Harry Hallers werden die Vietnam-Kriegsverweigerer argumentieren. John Kays Rockband und ihr Song „Born to Be Wild“, mit dem Denis Hoppers „Easy Rider“-Helden losdonnerten, waren musikalisch ebenso einflussreich wie das dem „Demian“ entlehnte „Abraxas“ (Santana), selbst Udo Lindenberg zitierte ihn und gab ein Hermann Hesse-Lesebuch mit heraus.

Szenenbild aus dem FIlm „Steppenwolf“. Quelle: https://www.google.com/imgres?imgurl=https%3A%2F%2Fimg.chmedia.ch%2F2021%2F12%2F07%2F085baa82-f063-43ad-9906-42070e146c6f.jpeg%3Fwidth%3D654%26height%3D367%26fit%3Dbounds%26quality%3D75%26auto%3Dwebp%26crop%3D1569%2C882%2Cx0%2Cy126&imgrefurl=https%3A%2F%2Fwww.bzbasel.ch%2Fbasel%2Fsteppenwolf-wie-mir-hermann-hesse-einen-filmriss-bescherte-ld.2225361&tbnid=buEDbpP-_zMAQM&vet=12ahUKEwjtgvT76-b4AhXyQ_EDHbyNC9AQMygTegUIARCZAg..i&docid=GX4sHePFRSWSgM&w=653&h=367&q=hermann%20hesse%20steppenwolf%20film&ved=2ahUKEwjtgvT76-b4AhXyQ_EDHbyNC9AQMygTegUIARCZAg

„Hermann Hesse hätte die Idee der Occupy-Bewegung begrüßt, sicherlich, weil sie Sand ins Getriebe zu werfen versucht, aber doch keine Zeltstadt! Nie hätte er gemeinsam mit anderen Parolen gebrüllt! Programme, sagte er, seien für Dumme und Einladungen zum Missbrauch“, befand Matussek. „Seelenbiografien“ erkannte Hans Küng, die radikal subjektiv sind und ihn als Vorgänger der Beatpoeten und Aufbruchskünstler ausweisen. „Für den Menschen gibt es nur einen natürlichen Standpunkt, nur einen natürlichen Maßstab. Es ist der des Eigensinnigen“, hatte Hesse schon 1917 postuliert. Dieser Eigensinnige blieb er zeitlebens.

Angst kannte er nicht. Der gefährlichste Moment für einen Tiefseeforscher sei die Autofahrt zwischen Büro und U-Boot, sagte er einmal. „Am Grund war es dann so schön, friedlich und still, da kamen wir nicht auf die Idee, Angst zu haben.“ Kurz vor seinem Tod bekannte er in der NZZ, dass er auch gerne Astronaut geworden wäre. „Das hätte mich natürlich interessiert“, sagte er und fügte bescheiden hinzu, dass die Landung auf dem Mond doch eine deutlich interessantere Expedition gewesen sei als sein Ausflug in die Tiefsee. Es dürfte in der Familie liegen, dass er die entgegengesetzte Richtung einschlug wie sein Vater Auguste, der 1932 einen jahrzehntelang gültigen Rekord mit einem Stratosphärenballon erzielte: Jacques Piccard, der am 28. Juli vor 100 Jahren in Brüssel zur Welt kam.

Nach einer unbeschwerten Kindheit als Professorensohn studierte Piccard Wirtschaft und Geschichte in Genf und wurde Mitarbeiter seines Vaters – der sich seit 1947 nicht mehr in die Höhe, sondern die Tiefe orientierte. Zusammen bauten sie das Tiefseetauchgerät „Trieste“, ein Bathyscaph, eigens als Forschungs-U-Boot für mittlere Tiefen konstruiert. 1953 stießen beide im Tyrrhenischen Meer auf 3150 Metern vor. Jacques setzte dann die Arbeit seines Vaters fort. Die US-amerikanische Marine fand Interesse an diesem U-Boot und erwarb es 1957, nachdem sie eine Reihe von Tauchfahrten vor der Insel Capri finanziert hatte. Der inzwischen verheiratete Piccard wurde darauf als wissenschaftlicher Berater der US-Administration tätig.

Jacques Piccard. Quelle: https://p6.focus.de/img/fotos/id_711940/jacques-piccard.jpg?im=Resize%3D%28800%2C533%29&impolicy=perceptual&quality=medium&hash=f8c1a172c6b36b77eeaa22b8d9ba918fa6ac877d10f61456c81ced91455746d9

1958 war das Boot an mehreren Suchaktionen nach verschollenen Schiffen und U-Booten beteiligt, unter anderem an der Suche nach dem verlorenen Atom-U-Boot USS Thresher. Anschließend es Fahrzeug umgerüstet, um für Tauchgänge in größeren Tiefen geeignet zu sein. Die eigentliche Druckkörperkugel wurde von Krupp in Essen geschmiedet und ließ nunmehr Tauchfahrten bis zu maximal 36.000 Fuß (≈11.000 m) zu. Piccard soll das U-Boot nicht, wie bei einer Schiffstaufe üblich, mit Champagner, sondern mit Weihwasser bespritzt haben. Ein besonderes Sicherheitsmerkmal war der aus etlichen Stahlkugeln bestehende Teil des Ballasts, der von Elektromagneten gehalten wurde. Bei einem Ausfall der Stromversorgung hätten sich die Kugeln sofort gelöst und das Boot wäre selbsttätig aufgetaucht. Als Auftriebskörper dienten rund 85 m³ Benzin in einem zylinderförmigen Blechtank.

„warum sollten wir es noch einmal tun“

Nachdem die USA den Wettlauf in den Kosmos zunächst verloren hatten, versuchten sie in der Tiefsee Boden gutzumachten, und wählten dazu den Marianengraben rund 2000 Kilometer östlich der Philippinen. Kurz vor dem Rekordtauchgang wollten die US-Amerikaner Piccard gegen einen ihrer Landsleute austauschen, was er jedoch verhindern konnte: Sein Vertrag gibt ihm das Recht, bei jedem „besonderen Tauchgang“ dabei zu sein. Er und der US-Marineleutnant Don Walsh ließen sich in der „Trieste“ hinabgleiten, mit Schokoriegeln, Sauerstoff für zwei Tage und einem Unterwassertelefon. In 4 Stunden und 47 Minuten gelangten sie in eine Tiefe von 10.916 Metern – der in Süßwasser kalibrierte Tiefenmesser zeigte gar über 11.000 Meter an.

Die Temperatur an Bord sank von mehr als 30 Grad an der Wasseroberfläche auf eiskalte 1,8 Grad Celsius. Piccard hörte „eigentümliche prasselnde Laute, so als brate man Speck“, vermutlich als Folge des ungeheuren Drucks. Für Bewohner der Erdoberfläche wäre allein der tödlich, die Lunge würde sofort bersten. Dazu ist es vollkommen dunkel. Es gibt weder Pflanzen noch Algen. Fische, Muscheln, Quallen und andere Lebewesen sind hoch angepasst an diese Umwelt und haben keine Lufträume in ihren Körpern. Bei ca. 10.000 Meter hörten die Aquanauten eine laute Implosion: „Weil wir noch lebten und alle Instrumente funktionierten, sagten wir uns: Es kann nicht so schlimm gewesen sein, und entschieden uns, den Tauchgang fortzusetzen“, so Walsh.

Walsh & Piccard an Bord. Quelle: Von Archival Photography by Steve Nicklas, NOS, NGS – NOAA Ship Collection, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=493756

Nach dem Aufstieg stellte sich heraus, dass eines der Fenster in der Einstiegsröhre geborsten war, doch dank seiner 19 Zentimeter Dicke dem Wasserdruck standhielt. 20 Minuten blieben beide ca. vier Meter über dem Meeresgrund, einer Wüste aus hellem Schlick, auf der zu ihrer Überraschung sogar ein Plattfisch lag, dann tauchten sie auf und stiegen zähneklappernd wegen der Kälte aus. „Jetzt können wir im Meer überall hin“, kommentiert Piccard später. Es ging nicht darum, dort etwas zu entdecken – es ging darum, dort gewesen zu sein. Nach dreieinhalb Stunden Aufstieg warfen die Aquanauten einen Behälter mit der US-Flagge in die Tiefe. Neun Jahre später hissten Astronauten die US-Flagge auf dem Mond.

Die Tiefsee ist zwar nach Aussagen von Wissenschaftlern der größte Lebensraum der Erde, bisher wurden aber erst wenige Quadratkilometer des Meeresbodens systematisch untersucht. Niemand zweifelte daran, dass Piccard und Walsh mit ihrer Pioniertauchfahrt ein Tor aufgestoßen hatten, das die weitere Erforschung und Eroberung der Tiefsee nach sich ziehen würde. Doch eigenartigerweise blieb eine solche Entwicklung aus, zum tiefsten Punkt der Meere wollte niemand mehr zurück. Der Erkenntnisgewinn schien zu gering, die Kosten zu hoch. 98 Prozent der Ozeane seien nicht tiefer als 6000 Meter, sagte Piccard. „Es ist wichtiger, ein paar U-Boote für 6000 Meter zu haben, als eines, das noch tiefer taucht.“ Der Pilot des Nachfolgerschiffes „Trieste II“, Ross Saxon, sagte: „Was wir daraus gelernt haben? Nicht viel, außer, dass wir es können. Es ist wie die Landung auf dem Mond. Wir haben es gemacht, warum sollten wir es noch einmal tun?“

„Einer der letzten großen Entdecker“

In den folgenden Jahren entwickelte Piccard das von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebene Tauchboot „Auguste Piccard“. Dabei musste er sich Piccard mit diversen Experten auseinandersetzen, die zwar niemals ein U-Boot betreten hatten, jedoch Piccards Konzept misstrauten, da er kein studierter Ingenieur war. Letztlich wurden Piccards Pläne genehmigt, und das Boot konnte rechtzeitig zu Schweizerischen Landesausstellung 1964 in Lausanne am Genfersee seinen Betrieb aufnehmen. Es ist das größte jemals gebaute Tourismus-U-Boot und das größte nichtmilitärische Unterwasserfahrzeug, das 1964 etwa 33.000 Passagiere auf den Grund des Genfersees brachte.

Zwei Tage vor dem Start der Mondlandemission Apollo 11 startete 1969 das von ihm entwickelte U-Boot „Ben Franklin“ zur Erforschung des Golfstroms Boot vor der Küste Floridas nahe Palm Beach. Die Crew von sechs internationalen Wissenschaftlern wurde von Piccard als Missionsleiter angeführt. In etwa 300 bis 350 Metern Tiefe ließ sich die Crew vier Wochen unter Wasser mit dem Golfstrom treiben. Nach gelungener Mission besuchte ihn Wernher von Braun – die NASA interessierte sich vor allem mit Blick auf die psychischen Auswirkungen auf die Crew während einer so langen Mission dafür und ließ die dabei gewonnenen Erkenntnisse in die Skylab-Missionen und das Space-Shuttle-Programm einfließen.

F.A. Forel. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a7/F.-A.Forel%28front%29.jpg

In den 1970er-Jahren entwickelte Piccard das U-Boot „F. A. Forel“, mit dem von 1978 bis 2005 die Schweizer Seen erforscht wurden. Alle seine Tauchfahrzeuge existieren noch heute und sind teilweise als Ausstellungsstücke zu besichtigen. Daneben gründete er eine Stiftung, die sich intensiv für die Bewahrung und die Erforschung des marinen Lebens einsetzt. Bis ins hohe Alter von 82 Jahren nahm er noch an Tiefseeexpeditionen teil und schrieb mehrere Bücher. Sein Sohn Bertrand wurde knapp zwei Jahre vor dem legendären Tauchgang geboren. Eine seiner ersten Erinnerungen sei, dass er seinen Vater im Fernsehen sah und hinter die Kiste kroch, um zu sehen, ob der Vater sich dort versteckt hatte, erzählt er. Ihn zieht es wieder in die Lüfte: Er umrundet 1999 als erster die Erde in einem Ballon: „Jeder von uns hat etwas gemacht, von dem man zu dem Zeitpunkt annahm, dass es unmöglich war.“ Ihm und seinen Geschwistern Marie-Laure und Thierry habe Piccard seine Sicht aufs Leben vermittelt, dass „Träume durch Hartnäckigkeit wahr werden können“.

Sein Vater und er erhielten im Februar 2008 die Ehrendoktorwürde der Université catholique de Louvain. Am 1. November 2008 starb Jacques Piccard in seinem Haus am Genfersee. „Einer der letzten großen Entdecker des 20. Jahrhunderts (…) ist gegangen“, schrieb Phil Mundwiller, Sprecher von Piccards letztem Forschungsprojekt „Solar Impulse“. Nach Piccards Feststellung, dass auch in der Tiefsee Strömungen vorhanden sind, hatte er vor der Versenkung radioaktiver Abfällen im Meer gewarnt – dass entsprechende Pläne bis heute nicht umgesetzt wurden, rechnen ihm manche als weiteres bleibendes Verdienst an. Im Mai 2019 meldete der US-Abenteurer Victor Vescovo, er sei in einem Spezialgefährt bis auf 10.928 Meter Tiefe getaucht und habe damit Piccards Rekord gebrochen. Die Darstellung wird bis heute bezweifelt.

„Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen.“ Es sind diese drei Sätze, um die bis heute erbittert gestritten wird. Für die einen künden sie von einem Plan, eine neue Weltordnung zu errichten – den die anderen als rechtsnationalistische, rassistische Verschwörungstheorie bekämpfen. Ihr Urheber, der Publizist und Diplomat Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, starb am 27. Juli vor 50 Jahren.

Geboren wurde er am 16. November 1894 in Tokio als zweites von vier Kindern einer Japanerin und eines österreichischen k. und k. Geschäftsträgers aus uraltem brabantischen Adel, der 16 Sprachen sprach und seinen Sohn nach dem Umzug aufs elterliche Schloss Ronsperg in Westböhmen gemeinsam mit Hauslehrern selbst unterrichtete. So dachte er, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen schrieb, „nicht in nationalen Begriffen“. Sein älterer Bruder Johann wird den surrealen Menschenfresser-Roman „Ich fraß die weiße Chinesin“ schreiben. Richard kam ans Theresianum in Wien und studierte danach an der Alma Mater Rudolphina Philosophie und Geschichte. Aus gesundheitlichen Gründen kriegsdienstbefreit, heiratete er 1915 die österreichische Schauspielerin Ida Roland, wurde ein Jahr später zum Doktor der Philosophie promoviert und arbeitete seither als Publizist und Philosoph.

Der Krieg brachte ihn zur Politik: „Den ersten Weltkrieg empfand ich als Bürgerkrieg zwischen Europäern: als Katastrophe erster Ordnung.“ Er entwickelte die visionäre Idee von „Pan-Europa“, die zum Thema seines Lebens wurde. Nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie nahm er zuerst die tschechoslowakische und später die französische Staatsbürgerschaft an. 1922 wurde er Mitglied der karitativ-pazifistischen Wiener Freimaurerloge Humanitas. Ein Jahr später schrieb er sein programmatisches Buch „Pan-Europa“. Die Vorstellung eines europäischen Zusammenschlusses lehnte sich an das idealistische Konzept des Panamerikanismus an und grenzte sich deutlich von nationalen Strömungen wie dem Panslawismus oder -germanismus ab. Er beginnt mit der Feststellung: „Die Europäische Frage gipfelt in den drei Worten: Zusammenschluss oder Zusammenbruch!“

Der alte Calergi. Quelle: https://www.kas.de/o/adaptive-media/image/1050221/hd-resolution/7_media_object_file_112875.jpg

1924 gründete er die Paneuropa-Union als älteste europäische Einigungsbewegung. Coudenhove-Kalergi war damit Vordenker der heutigen „europäischen Idee“, der „europäischen Identität“ zumal. Prinzipien eines Europas in seinem Sinne waren Freiheit, Frieden, Wohlstand und Kultur. Coudenhove-Kalergi entwarf den Zusammenschluss des Kontinents in mehreren Stufen über die Einberufung einer Konferenz, den Abschluss eines Vertrages, die Bildung einer Zollunion bis hin zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Der von Coudenhove-Kalergi vorgeschlagene europäische Staatenbund von Polen bis Portugal, den er Paneuropäische Union oder Vereinigte Staaten von Europa nannte, sollte als ein politischer und wirtschaftlicher Zweckverband einen erneuten Weltkrieg verhindern. Seit 1924 gab er die Zeitschrift Pan-Europa (Wien–Leipzig) heraus.

„Charakterstärke verbunden mit Geistesschärfe“

Den skandinavischen Staaten dachte er die Rolle zu, für eine Einigung Europas die Initiative zu ergreifen und als Vermittler zwischen den verfeindeten europäischen Staaten zu fungieren. Am ersten Paneuropa-Kongress Anfang Oktober 1926 in Wien nahmen 2000 Personen aus 24 Nationen teil. Die Delegierten wählten Coudenhove-Kalergi zum Präsidenten der Union – ein Amt, das er bis zu seinem Tode innehaben sollte. Das Ehrenpräsidium bestand unter anderem aus dem Außenminister der ČSR, Edvard Beneš, und dem deutschen Reichstagspräsidenten Paul Löbe. Kritisiert wurde von Anbeginn, dass Großbritannien in Coudenhove-Kalergis ursprünglicher Konzeption von Paneuropa nicht vorgesehen war – erst 1939 wurde hier ein Büro eröffnet – und die Sowjetunion aufgrund ihrer geographischen Lage, aber vor allem wegen ihres politischen Systems gänzlich außerhalb der paneuropäischen Betrachtungen blieb, womit von vornherein Konfliktpotential geschaffen war.

Im Jahr zuvor hatte Coudenhove-Kalergi seinen Aufsatzband „Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus“ veröffentlicht, in dem sich nicht nur die inkriminierten Mischlingssätze, sondern auch Sätze wie die folgenden fanden: „Charakterstärke verbunden mit Geistesschärfe prädestiniert den Juden in seinen hervorragendsten Exemplaren zum Führer urbaner Menschheit, zum falschen wie zum echten Geistesaristokraten zum Protagonisten des Kapitalismus wie der Revolution.“ Zwischen „visionär“ und „abgehoben“ bewegen sich die Einschätzungen von Kritikern, die einerseits aristokratischen Dünkel erkennen, andererseits als Fortführung des Werks seines Vaters interpretierbar war, dessen Studie über das Wesen des Antisemitismus er später neu verlegte. Er habe lediglich eine Realität beschrieben, das, „was seiner Ansicht nach geschehen wird“, so Jürgen Langowski dagegen auf dem Blog Holocaust-Referenz.

Calergis Manifest. Quelle: https://freimaurerloge-europa.de/wp-content/uploads/2018/06/91c3cc0a47.jpg

Im Mai 1930 folgte der zweite Kongress in Berlin, 1932 ein dritter in Basel. Als sich die Paneuropa-Union zum vierten Mal im März 1935 erneut in Wien traf, hatten sich die politischen Rahmenbedingungen jedoch grundlegend geändert. Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung waren in Deutschland auch Bücher Coudenhove-Kalergis verbrannt worden, seine Organisation, die er als Gegengewicht zu den Hegemonialbestrebungen Hitlers aufbauen wollte, verboten. In den Jahren 1933 bis 1936 versuchte Coudenhove-Kalergi in mehreren Treffen vergeblich, Mussolini für die Paneuropa-Idee zu gewinnen. Neben der Vorstellung, in Mussolini eine Stütze für das von der NS-Regierung zusehends bedrohte Österreich zu haben, spielte auch die Faszination Coudenhove-Kalergis für den autoritären Politikstil Mussolinis eine gewisse Rolle.

Doch beginnend mit der Besetzung Österreichs 1938 musste der Präsident der Paneuropa-Union ins Exil gehen, zuerst nach Frankreich, dann in die USA, wo er die gesamte Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte. Als Immigrant lehrte Coudenhove-Kalergi von 1942 bis 1946 an der New-York-Universität Geschichte, zunächst als Lehrbeauftragter (Lecturer), ab 1944 als Professor und Leiter eines neugegründeten Forschungsseminars zur europäischen Nachkriegsföderation. Der 5. Paneuropa-Kongress in New York 1943 blieb weitgehend bedeutungslos.

Als Coudenhove-Kalergi im Juni 1946 in die europäische Heimat zurückkehrte, waren die ersten Europainitiativen bereits neu entstanden. Deshalb stellte er die Wiederbelebung der Paneuropa-Union zunächst zurück und gründete von der Schweiz aus, wo er inzwischen lebte, eine neue Vereinigung, die Europäische Parlamentarier Union, die im September 1947 in Gstaad ihren ersten Kongress abhielt. Unter den deutschen Mitgliedern des zweiten Kongresses 1948 befand sich auch der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer. Im Mai 1950 erhielt Coudenhove-Kalergi in Anerkenntnis seiner bisherigen Leistungen auf dem Gebiet der europäischen Einigung den erstmals von der Stadt Aachen vergebenen Internationalen Karlspreis. 1951 starb seine Frau, 1952 heiratete er Gräfin Bally.

54 Mal für den Friedensnobelpreis nominiert

Im selben Jahr fusionierte er die Europäische Parlamentarier-Union mit der Parlamentarischen Gruppe der Europäischen Bewegung zum Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung und wurde deren Generalsekretär, einer der Ehrenpräsidenten und 1954 – als einziger Nichtparlamentarier – Mitglied auf Lebenszeit. Er unterbreitete dem Europarat einen Entwurf für eine Europaflagge, der aber wegen der Verwendung des christlichen Symbols des Kreuzes nicht konsensfähig war. 1955 schlug er die Ode an die Freude in Beethovens Vertonung als Europäische Hymne vor. Seit 1972 ist die Melodie die Hymne des Europarats und seit 1985 die Hymne der Europäischen Union.

46. Paneuropatage 2020 in Waldsassen. Quelle: https://www.otv.de/storage/thumbs/441895.jpg

Die in den Jahren 1952 bis 1954 reorganisierte Paneuropa-Union hatte zunächst ihren Sitz in Basel, seit 1965 in Brüssel. Die Wiederbelebung eines deutschen Komitees stieß jedoch auf massiven Widerstand der Europa-Union Deutschland unter der Leitung des Bankiers Friedrich Carl Baron von Oppenheim. Darüber hinaus riefen einige Vorstöße Coudenhove-Kalergis bei der Bonner Regierung Irritationen hervor. Er forderte für das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands die Beendigung des Kalten Krieges, was für ihn eine Anerkennung Ostdeutschlands beinhaltete. Darüber hinaus vertrat der Paneuropa-Präsident sehr vehement das Konzept eines Europas der Nationalstaaten, ebenso wie der seit 1959 amtierende französische Präsident Charles de Gaulle, was bei vielen deutschen Europabefürwortern eher reserviert aufgenommen wurde.

Aus Protest gegen die Unterstützung der Präsidentschaftskandidatur von François Mitterand durch die Europäische Bewegung legte er seine Ehrenpräsidentschaft nieder. In den letzten Lebensjahren stand Coudenhove-Kalergi der europapolitischen Konzeption von Franz Josef Strauß nahe. Nach Ballys Tod heiratete er 1969 noch Melanie Benatzy, die Witwe des „Weißen Rössl“-Komponisten. In Anerkenntnis seiner Lebensleistung, der Hartnäckigkeit, mit der er für sein Ziel, die europäische Einigung, kämpfte, verlieh ihm die Bundesregierung 1972 schließlich das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern. Coudenhove-Kalergi konnte die Feiern zum 50. Jubiläum der Paneuropa-Union noch erleben, bevor er wenige Wochen später, am 27. Juli 1972, starb.

Die NS-Propaganda gegen ihn sowie einige dekontextualisierte Aussagen Coudenhove-Kalergis führten dazu, dass sich nach 1945 eine Reihe von Mythen um einen geheimen Plan formierten, den Coudenhove-Kalergi angeblich geschmiedet habe und der bis heute verfolgt würde. Ein zentraler Bestandteil dieser Mythen ist die Behauptung, Coudenhove-Kalergi hätte mit seinem Plan die „Heranzüchtung“ einer „eurasisch-negroiden Zukunftsrasse“ unter der Führung einer jüdischen „Adelsrasse“ angestrebt. Als vermeintlicher Beweis für diese Behauptung werden bis heute Zitate falsch paraphrasiert und aus ihren Kontexten gerissen. Der Terminus „Kalergi-Plan“ wurde vermutlich von dem österreichischen verurteilten Holocaustleugner Gerd Honsik 2003 geprägt.

Werbeflyer 1989. Quelle: https://www.kas.de/o/adaptive-media/image/6729085/hd-resolution/3_Originalflyer.jpg

Er wurde 54 Mal für den Friedensnobelpreis nominiert, erhielt ihn allerdings nie. Die Leitung der Union übernahm sein Vertrauter und Mitarbeiter aus den Jahren des Exils, Otto von Habsburg. Mit dem offiziellen Antritt seiner Präsidentschaft formulierte von Habsburg die Straßburger Grundsatzerklärung vom 11./12. Mai 1973, in der die Wiedervereinigung Europas in den Mittelpunkt gerückt wurde. Bekanntester Ausdruck dieser Überzeugung ist das Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze, in dessen Verlauf Hunderte von DDR-Bürgern über die Grenze in den Westen flohen.

Die 1903 eröffnete Werkhalle, die ihr Lieblingsneffe konzipiert hatte, wird bis heute sinnigerweise „Jungfrauenaquarium“ genannt, da dort anfangs unverheiratete Näherinnen arbeiteten: Im Stil des „Neuen Bauens“ entstand ein funktionalistischer Skelettbau mit nahtlos rundum vorgehängter Glasfassade und sichtbaren Wandverbänden. Die offene Gestaltung der Arbeitsfläche im Inneren galt als ihrer Zeit weit voraus. Die ehemalige Rampe an der Außenfassade sorgte nicht nur für Barrierefreiheit, die für die Firmeninhaberin als Rollstuhlfahrerin essentiell war, sondern lohnte sich auch finanziell, da man auf mechanische und elektrische Lastenaufzüge verzichten konnte. Später wurden Rampen an der Fassade in der Architektur ein Zeichen für schnelles Wachstum, Dynamik und Innovation. Die Baugenehmigung gab es erst, nachdem sie das Risiko übernahm, dass niemand, der in einem vollverglasten Gebäude arbeiten würde, Gefahr liefe zu erblinden: Margarete Steiff, die am 24. Juli vor 175 Jahren zur Welt kam.

Der Vater ist Bauwerksmeister, die Mutter Hausfrau. Sie hat zwei ältere Schwestern, etwas später kommt ihr Bruder zur Welt. Margarete ist ein lebhaftes Kind und wächst unbeschwert auf – bis sie im Alter von 1 ½ Jahren an Kinderlähmung erkrankt. Sie blieb in den Beinen gelähmt, nur die linke Hand konnte das „Gretle“ bewegen und – unter Schmerzen – ein bisschen die rechte. Sie gehörte zu einer kleinen „Schar von Invaliden“, notierte ihr Arzt, „unfähig für den Vollgenuss des irdischen Lebens wie für die spätere Erfüllung der Ansprüche, welche die Gesellschaft an ihre einzelnen Glieder zu machen berechtigt ist“. Sie wird niemals die damals typische Rolle einer Mutter oder Hausfrau einnehmen können, besitzt aus damaliger Sicht also keinerlei Zukunftsperspektiven.

Margarete Steiff. Quelle: https://www.handelsblatt.com/images/hugo-bildid-24187508hall-of-fame-steiff/5894864/4-formatOriginal.jpg

Doch sie besitzt eine positive Ausstrahlung, und ihr sowohl geselliges als auch heiteres Wesen machen sie sehr beliebt. „Alle Hausgenossen bettelte ich an“, erinnert sie sich in ihren Tagebüchern, „tragt mich auf die Gasse“, denn die war ihr „der liebste Aufenthalt“. Selbst wenn an den Fensterscheiben die Eisblumen blühten, hockte das Kind draußen im Leiterwagen, um ja nichts zu verpassen, „wenn ich auch manchmal fast erfror“. Sie ist eine kreative Spielerfinderin. Ständig hat sie neue Ideen und organisiert die Abläufe so, dass sie teilnehmen kann. Das ändert sich auch in der Schule nicht: Sie wird von Nachbarskindern und Geschwistern mitgenommen und von einer Frau, die nahe der Schule wohnt, die Treppen hinauf getragen – erst Jahre später erhielt sie einen Rollstuhl. Ihre Leistungen erweisen sich schnell als überdurchschnittlich.

„das unnütze Suchen nach Heilung“

1856 verordnete ihr ein Ludwigsburger Arzt schmerzhafte Operationen und monatelange Kuraufenthalte in Bad Wildbad. Als „ungeheilt“ wurde sie schließlich aus der Behandlung entlassen und reagierte tapfer: „Mit 17 oder 18 Jahren“, erinnerte sie sich später, „ließ ich mich durch keine angepriesenen Mittel oder Heilmethoden mehr aufregen, denn das unnütze Suchen nach Heilung lässt den Menschen nicht zur Ruhe kommen.“ Trotz ihrer Krankheit ist sie neugierig, aktiv, voller Energie und entwickelt einen starken und rebellischen Charakter – zum Ärger ihrer Mutter, die eine sehr strenge, konservative Erziehung vertritt. Dennoch setzt Margarete bei ihren Eltern durch, dass sie eine Nähschule besuchen darf. Da sie aufgrund ihrer Krankheit die rechte Hand nur unter Schmerzen benutzen kann, muss sie die Nähmaschine umdrehen. So bearbeitet sie den Stoff sehr umständlich, aber erfolgreich von der Rückseite der Maschine aus. Die Schule absolviert sie mit Erfolg, mit 17 Jahren ist sie ausgebildete Schneiderin.

Danach arbeitet sie zunächst in der Damenschneiderei ihrer beiden älteren Schwestern. Als diese acht Jahre später den Heimatort verlassen, macht Margarete alleine weiter. Nur wenig später baut ihr Vater das Elternhaus extra für sie um und richtet ihr einen eigenen Arbeitsraum ein – eine Schneiderei. 1877 eröffnet sie eine Filz-Konfektionsfirma und verkauft selbstgenähte Kleidungsstücke. „Kleider von der Stange“ kommen in Mode, ihre Kundschaft wird größer. Schon bald stellt sie eine erste Arbeitskraft ein. In einem Modejournal sieht sie 1880 das Schnittmuster für einen kleinen Stoffelefanten. Nach dieser Vorlage näht sie das „Elefäntle“. Der als Nadelkissen gedachte Filz-Elefant wird in kürzester Zeit ein beliebtes Kinderspielzeug: Die Kinder fanden es schrecklich, Nadeln in die hübschen Tierchen zu stecken, in die sie sich sofort verliebten. In den ersten Jahren verkauft ihr jüngerer Bruder Fritz die kleinen Elefanten noch auf dem Markt, doch mit der Zeit werden die Stofftiere immer beliebter. 1885 verlassen 600 Elefanten die kleine Werkstatt, ein Jahr später sind es schon mehr als 5000.

Elefäntle. Quelle: https://www.handelsblatt.com/images/hugo-bildid-24187508hall-of-fame-steiff/5894864/4-formatOriginal.jpg

Schon bald erscheint der erste Steiff-Katalog und zeigt neben Elefanten auch Affen, Esel, Pferde, Kamele, Schweine, Mäuse, Hunde, Katzen, Hasen und Giraffen. Im Katalog befand sich auch das Motto Margaretes: „Für Kinder ist nur das Beste gut genug“. In einer Zeit, in der Kinder noch zum Arbeiten ausgenutzt wurden, war es visionär und kühn, weiche Tröster und Spielgefährten für sie zu erschaffen. Die Streichelwesen nicht nur in der Familie zu verschenken, sondern sie zum Kauf anzubieten, hieß, daraus eine Geschäftsidee zu machen. Die Tierchen anschmiegsam und quasi unzerstörbar – also kindgerecht – zu produzieren zeigt obendrein, wie einfühlsam die kinderlose Frau war, die selbst in ihrer Kindheit so wenig Spaß und Vergnügen haben durfte. Vom Württemberger Blechspielzeugexperten Märklin ließ sie später kleine Fahrgestelle für ihre Tiere fertigen; vielleicht auch Ausdruck für die lebenslange Sehnsucht der gelähmten Frau, sich ungehindert bewegen zu können.

Aufgrund der großen Produktion baut Fritz seiner Schwester 1890 ein eigenes Wohn- und Geschäftshaus. Zunächst werden die Tiere mit Schafwolle, später mit Holzwolle gestopft. Im damaligen Katalog wird die Füllung als „leicht, weich und rein (keine Sägespäne, Tierhaare, Korkabfälle)“ bezeichnet. Margarete Steiff ist nun eine unabhängige und erfolgreiche Unternehmerin. Fritz wird nach und nach Vater von sechs Söhnen, die Margarete wie ihre eigenen behandelt. Fünf von ihnen werden als Erwachsene in die Firma eintreten, die am 3. März 1893 als „Margarete Steiff, Filzspielwarenfabrik Giengen/Brenz“ ins Handelsregister eingetragen wird: Zuständig für Einkauf und Absatz, Werbung, Logistik und Technik – der Grundstein des Familienunternehmens ist gelegt. Rund 150 Nachfahren der legendären Patronin gibt es heute noch, 66 davon sind Gesellschafter.

Das Jungfrauenaquarium. Quelle: https://vielfaltdermoderne.de/wp-content/uploads/2022/02/20201121-IMG_7417.jpg

Nachdem 1895 die erste ausländische Geschäftsbeziehung zu Harrods in London entstanden war, ist es 1897 für ihren Lieblingsneffen Richard so weit, der die Kunstgewerbeschule in Stuttgart besuchte, danach in England studierte und nüchternen Geschäftssinn ebenso wie viel Kreativität in die Firma mitbringt. 1902 entwickelt er nach einem Besuch in einem Stuttgarter Tiergarten mit dem 55 cm großen Plüsch-Bär „PB 55“ eine neue Art von Stofftier: Mit beweglichen Armen und Beinen und einem richtigen Fell aus Mohairplüsch, dazu Glasaugen. Margarete ist zunächst skeptisch, ob der Markt diese relativ teuren und für ihr Empfinden plumpen Tiere annehmen wird, entscheidet sich auf Richards Drängen hin dafür – und zunächst ohne Erfolg. Richard packt die Tiere auf der Leipziger Messe schon wieder ein, als buchstäblich im letzten Moment ein Amerikaner alle 3.000 Stück aufkauft.

„gegen jede Konvention“

Der Bär wird zum Verkaufsschlager bei der Weltausstellung in St. Louis: 12.000 Stück werden verkauft. Margarete und Richard erhalten je eine Goldmedaille, der Firma wird der Grand Prix, die höchstmögliche Auszeichnung, verliehen. Von 1903 bis 1907 steigt die Produktionsmenge auf 1.700.000 Spieltiere an. 1906 erhält der Bär dann seinen Namen Teddy unter tätiger Mithilfe des damaligen Präsidenten Theodore „Teddy“ Roosevelt: Der weigerte sich bei einem Jagdausflug, auf einen hilflosen, an einer Leine festgebundenen Bären zu schießen. Daraufhin wurde er von dem Karikaturisten Cliffort K. Berryman in der Washington Post zusammen mit einem kleinen Bären dargestellt, der dem Steiff-Tier zum Verwechseln ähnlich sah.

400 Menschen arbeiten nun im Haus, 1800 Frauen sind zusätzlich als Heimarbeiterinnen beschäftigt. Um die Steiff-Tiere vor Nachahmung zu schützen, wird von Franz Steiff, einem weiteren Neffen Margaretes, das noch heute geschützte Markenzeichen, der berühmte „Knopf im Ohr“ entwickelt. Zunächst ist der mit einem Elefanten versehen, im Laufe der Jahre wird er durch den Schriftzug „Steiff“ ersetzt. Margarete kann den Erfolg nicht mehr lange genießen: Schon am 9. Mai 1909 stirbt sie an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Leitung der Firma übernehmen ihre Neffen – und haben zu kämpfen: Während des Ersten Weltkriegs verhängen die deutschen Kriegsgegner Importverbote für die Produkte von Steiff.

PB 55. Quelle: Von MatthiasKabel – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=586388

In den Goldenen 1920er-Jahren erholt sich das Unternehmen wieder. Diesmal sind es jedoch nicht die Teddybären, die reißenden Absatz finden, sondern die neu entwickelten Stoffhunde, für die sogar die Fließbandproduktion eingeführt wird. 1931 begann die Kooperation mit Disney. Auch vom Produktionsstopp im Zweiten Weltkrieg erholt sich das Familienunternehmen. Den Erfolg in den folgenden Jahren begründet die Fertigung des Stoffigels „Mecki“, der in den 1950er-Jahren als Maskottchen der Fernsehzeitschrift Hörzu bekannt wird. Bis heute kann sich das Traditionsunternehmen auf dem hart umkämpften Spielzeugmarkt erfolgreich behaupten. Mehr als 1,5 Millionen Plüschtiere, die durchschnittlich aus 35 Plüsch- und Filzteilen bestehen, werden jedes Jahr unter strengen Qualitätsstandards hergestellt. Im Erlebnismuseum „Welt von Steiff“ in Giengen werden Besuchern die Geschichte des Teddybären und die Firmengeschichte samt Streichelzoo gezeigt.

Das Gymnasium Giengen wurde ebenso nach Margarete benannt wie ein ICE 4. Die Filmbiografie „Margarete Steiff“ (2005) mit Heike Makatsch in der Titelrolle unter der Regie von Xaver Schwarzenberger schildert das Leben der Unternehmerin bis zu ihren ersten geschäftlichen Erfolgen. „Niemand in der Umgebung der jungen Margarete Steiff hätte es für möglich gehalten, dass aus dem Mädchen, dem sie ‚Krüppel‘ hinterherriefen, einmal die erfolgreichste Spielzeugunternehmerin der Welt werden würde. … Mit unglaublichem Mut und größter Hartnäckigkeit schrieb eine schwerbehinderte Frau eine der großen Erfolgsgeschichten der Gründerzeit – gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen jede Konvention“, bilanzierte Bettina Musall im Spiegel. Das „Jungfrauenaquarium“ wurde 2011 erstmals als ein möglicher Kandidat für eine Welt- bzw. Europaerbe-Nominierung vorgestellt. 2020 wird Margarete Steiff mit einem Platz in der berühmten „Hall of Fame“ der Spielzeugindustrie geehrt.

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